62 Monate
„Wo ist er?“, frage ich plötzlich hellwach. „Er ist heute Nacht gestorben“, sagt meine Mama auf unserer Küchenbank kauernd. Ich schaue auf den Backofen. 6:32 Uhr steht auf der roten Anzeige. Ich bin heute vor dem Wecker aufgewacht. Ganz von allein. Das kommt sonst nie vor. Langsam gehe ich rückwärts wieder aus der Küchentür, durch den Flur und schließlich ins Wohnzimmer. Dort lasse ich mich auf unser braunes Wildledersofa sacken. Ich lehne meinen Kopf gegen die weiche Rückenlehne und starre vor mich hin. Weinen kann ich nicht. Die Stimme der besten Freundin meiner Mutter in der Küche, wie sie versucht, meine Mama davon abzuhalten, mir zu folgen, hallt in meinem Schädel. Meine Gedanken setzen aus. Sie setzen 62 Monate aus. Heute ist der Tag, an dem mich alles einholt. Die ganzen 62 Monate, seitdem mein Papa gestorben ist. Ich sitze auf meinem ranzigen Ikealammfell in meinem 12-Quadratmeter-WG-Zimmer in Wien. Ich dachte, es würde besser werden, wenn ich meine Sachen packe und so weit wie möglich von der Kleinstadt, die ich „Heimat“ nenne, wegziehe. 600 Kilometer sind genug Entfernung zu vergessen, was ich vergessen …