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Weil es mehr als ficken ist #zwischenTürundAngel

Sexarbeit ist ein Tabuthema, Sexarbeitende sind gesellschaftlich hochgradig stigmatisiert – wie auch ihre Kund*innen, die in der öffentlichen Debatte noch unsichtbarer als Sexarbeitende sind. Das alles finde ich nicht gut, deshalb habe ich mit Lydia gesprochen, die mir im Anschluss an unser Gespräch noch den Kontakt zu zwei langjährigen Kunden von ihr vermittelt hat. Ich spreche mit beiden, sie kriegen in diesem Text Pseudonyme. über Kaffeetische Paul ist 41 Jahre alt, arbeitet als Softwareentwickler und lebt in Sachsen. Mit Lydia trifft er sich alle 3-4 Monate. Er ist schon lange Single. Als sich bei ihm vor zwei Jahren das Bedürfnis nach Intimität und einem Beziehungsersatz wieder einstellte, beginnt er im Internet nach Escort-Dienstleisterin zu suchen. “Mein Bild von Sexarbeit war vorher schon geprägt von vielen Berichten in Medien, die oft sehr negativ waren”, erzählt Paul mir, “und das habe ich in meiner persönlichen Erfahrung so nicht empfunden, so nicht kennengelernt.” Und die Vorbehalte von Drogen und Gewalt waren nicht groß genug, um dem Bedürfnis nach Intimität nicht nachzugehen. “Das eine ist halt das, was andere …

Weil Sexarbeit Arbeit ist #zwischenTürundAngel

Auf meinem liebsten Jutebeutel steht: sexwork is work too. Mit dieser Haltung ecke ich oft an. Ich weiß, dass es Menschenhandel zum Zweck der sexuellen Ausbeutung gibt. Ich verurteile diese und jede andere Form von sexualisierter Gewalt. Und dennoch finde ich: Es ist nicht unmoralisch, sexuelle und/oder erotische Dienstleistungen anzubieten und/oder in Anspruch zu nehmen. Weil ich aber weder in dem einen, noch in dem anderen persönliche Erfahrung habe, habe ich den Kontakt zu verschiedensten Sexarbeitenden gesucht, die ihrem Beruf selbstbestimmt nachgehen. Ich finde, dass wir diese Lebensrealitäten genauso anerkennen müssen und sie uns dabei helfen, Sexarbeit von Kriminalität und Gewalt, von Loverboys und Menschenhändlern zu befreien. Damit Sexarbeit nicht Zwang, sondern tatsächlich Arbeit ist. Nur wenn wir Sexarbeitenden zuhören, können wir erfahren, welche politischen, gesetzlichen und gesellschaftlichen Rahmen hierfür gesetzt werden müssen. Ich spreche mit Lydia, 41 Jahre alt, lebt in Leipzig. Sie bezeichnet sich gerne als Erotikdienstleisterin „oder auch als Beraterin für Lebensfreude und sexuellen Genuss. Steht so auf meiner Visitenkarte, finde ich gut.“ Von Worten wie Prostitution hält sie nichts. „Der ganze …

„Du musst dich jetzt beweisen“ #Wie ist es eigentlich…?

Triggerwarnung: Dieser Text behandelt gestörtes Essverhalten. Wenn du dich mit dieser Thematik nicht wohl fühlst, bitte ich dich, ihn nicht oder nicht alleine zu lesen. Für die vierte Ausgabe von „Wie ist es eigentlich…?“ treffe ich mich selbst. Denn ich möchte über eine Thematik sprechen, die mich seit vielen Jahren begleitet und seit ein paar Wochen unerwartet erneut meinen Alltag dominiert. Es geht um krankmachenden Stress, die permanente Angst, nicht zu bestehen und das Gefühl hinterher zu sein. Es geht um Erdbeermarmelade, Rotbäckchen-Saft und Strudel – nur leider nicht um den zum Essen. Ich frage mich selbst: Nelly, wie ist es eigentlich, unter Leistungsdruck zu leiden? Das Gefühl des verspäteten Wissens Der weiße Fliesenboden meiner Anderthalbzimmerwohnung ist mit Haaren übersäht. Es ist 14:03, ich habe noch nichts gegessen, aber schon Nachrichten gehört, vierzig Seiten gelesen, drei Mails geschrieben und ein Thesenpapier abgegeben. In meiner Notizen-App gibt es gleich mehrere To-Do-Listen: Eine für die Uni, eine für den Haushalt, eine für das Schreiben, eine für anderweitigen Erwachsenenkram und eine für Sonstiges. „Sonstiges“, das ist zum Beispiel Zum …

Wo sind wir nur geblieben auf unserem Weg?

Seit acht Jahren gehen wir Seite an Seite, Hand in Hand. Aber es hat sich etwas verändert, obwohl ich dieser Tatsache nicht ins Auge sehen will. Ich sehe dich und mich und uns, wie wir mal waren und nie wieder sein würden. Weißt du noch, als wir abends im August auf der Wiese im Park lagen, in den schwarzen Nachthimmel geschaut haben, deine Hand in meiner und wir gesagt haben, dass wir die Welt zusammen sehen wollen? Mein Herz war ganz aufgeregt und hat in leiser Vorfreude vorsichtig und doch so eindringlich begonnen, zu pulsieren. Jetzt zieht es sich zusammen, wenn ich an uns denke. Wir sind anders und ich wünschte manchmal, für einen Tag wären wir nochmal so, wie damals. Denn da war mein Kopf voll mit schillernden Gedanken an die Zukunft mit dir, von der ich jetzt weiß, dass sie nicht mal halb so glänzend wird. Mein Herz war wild am Tanzen, wenn du gelacht hast und hat nicht still in der Ecke gestanden, während du jetzt weinend vor mir sitzt. Meine Hand …

Orange-roter Horizont

Es ist wie ein Wettlauf gegen die Zeit. Doch du kommst dagegen nicht an.Probierst, aber scheiterst.Stehst auf, fällst.Der Feind ist unsichtbar,die Gefühle hell und klar. Du schaust hinaus auf das unendliche Meer. Bist extra ganz früh aufgestanden, um den Sonnenaufgang genießen zu können. Keiner ist hier bei dir. Du bist alleine mit Mutter Natur. Atmest die frische Meeresbrise ein und blickst hoch in den orange-roten Himmel. Langsam kriecht dann doch noch die befürchtete Gänsehaut nach oben zu deinen Oberarmen, bis hin zu deinem Hals. Du lachst, als du dich daran erinnerst, dass du eigentlich noch eine Jacke mitnehmen wolltest. Eigentlich. Noch eine Stufe nach oben und noch eine.Eine weite Wendeltreppe vor dir,der Abgrund hinter dir.Eine kalte, deutliche Angst,die kein Ende nehmen möchte. Mutig packst du deine Socken und streifst sie ganz langsam ab. Nach einer kurzen Zeit traust du dich, mit deinen Zehen den Sand zu berühren. Erst ganz zaghaft, dann wirst du von dem Mut getrieben und begibst dich weiter Richtung Meeresbrandung. Es fühlt sich herrlich an, diese Weite vor sich her und die Ruhe …

Die Zwischenstelle und der Frühling #gedankenkarussell

In einem kleinen Wechsel zwischen Vergangenheit und Gegenwart geht es im Folgenden über den Frühling, was er bedeutet, über das Schwelgen in Erinnerungen, das Festhalten an diesen und dem Wunsch endlich anzukommen.  Heute Mit wahrscheinlich mehr Kraft als nötig, schüttelte sie den gefallenen Schnee und die Kälte von sich, sobald sie das Haus betreten hatte. Sofort umhüllte sie die Wärme des Feuers im Ofen und genervt schleuderte sie den Schal, die Mütze und die Handschuhe auf den Boden, wo kurz darauf auch ihr Mantel landete. Sie würde diese aufheben, sobald sie sich wieder aufgewärmt hatte. Immer noch zittrig stellte sie sich vor den Ofen, hielt die Finger so nah wie möglich an die Scheibe und wünschte die Wärme würde schneller auf sie übergehen.  Nein. Was sie sich eigentlich wünschte war, dass der April sich wie ein normaler Frühlingsmonat benahm und ihr statt Schnee wärmende Sonnenstrahlen schenkte.  Mehr als nur etwas nötig hatte sie nicht nur die Wärme, sondern auch das Sonnenlicht, das sich in den letzten dunklen Wintermonaten rar gemacht hatte. Sobald die ersten Anzeichen …

Zwischen den Zeilen

Im Drogeriemarkt meiner Wahl stehe ich vor einem dieser vierseitigen Kartenständer aus Metall, an denen ich schon als Kind immer fasziniert stehen bleiben musste, um alle Seiten ausführlich zu betrachten und um zu beobachten, wie die Farben der Karten beim Drehen des Metallständers verschwimmen. Dieses Exemplar bietet ein breites Spektrum an Karten zu jeglichen Lebensereignissen. Manche davon glitzern, manche sind zum Aufklappen und manche können sogar Musik beim Aufklappen abspielen. Es ist eine bunte Mischung aus Pastellgelb, -grün, -rosa und -blau, verschnörkelten Schriftarten und diversen Motiven. Und da ist wirklich für jeden Anlass was dabei: Die Seite des Drehständers, die ich mir gerade anschaue, bietet eine große Auswahl an Karten mit Glückwünschen zur Geburt. Überall sehe ich Störche, Regenbögen und Babysocken. Klar gibt ́s auch hier die All-Time-Klassiker mit der Aufschrift „Es ist ein Mädchen!“ mit Herzen und Blumen auf einem rosa Hintergrund – und „Es ist ein Junge!“ mit Teddybären und Elefanten auf einem blauen. Geschlechterklischees, lieben wir. Ich drehe weiter und auf der zweiten Seite des Drehständers erwarten mich Karten zur Einschulung, zur …

Meine Nachtgedanken und Ich

Es ist Abend, noch nicht sehr spät. Gerade habe ich mein Handy weggelegt, der letzte TikTok-Song schwirrt noch in meinem Kopf herum und wird mich die nächsten Tage in den unpassendsten Situationen begleiten. Ich strecke mich so weit, bis ich vom Fußende meines Bettes den Lichtschalter erreichen kann, damit meine Füße nicht den kalten Boden berühren müssen. Noch einmal kurz das Fenster auf und wieder zu und endlich erlaubt mir mein mir selbst auferlegter Tagesablauf, in mein kuscheliges Bett zu fallen und die Augen zu schließen. „Jetzt muss ich schnell einschlafen, damit ich morgen wieder früh aufstehen kann“, ermahne ich mich und weiß im nächsten Atemzug, dass die Nacht damit für mich schon gelaufen sein könnte.  Ich denke viel, ich denke lang, ich denke lange viel nach. Und das am liebsten abends. Tagsüber bin ich, wie ich mich am liebsten mag: offen, herzlich, meistens ein Grinsen im Gesicht und dieses innere Gefühl der Freude und der Dankbarkeit. Auch mal nachdenklich, aber immer nur zeitweise und in einzelnen Situationen. Doch immer selbstbewusst genug, einen Gedanken in …

Box und Bier

Wir sind unterwegsMachen die Stadt unsicher Sind selten so selbstsicher In der Hand nur Box und Bier Die Uhr zeigt schon nach vier Wir in den StraßenNichts hält uns aufDenn wir laufenLaufen nachts Sternenhimmel über uns Asphalt unter den Sohlen Wollen unsere versäumte Zeit Nachholen Gemeinsam unbesiegbar Wir, die Box, das Bier Wir laufenKennen die Straßen Kennen die Stadt Es ist dunkel,Wie immer nasskalt Typisch norddeutsch haltDer Bass dröhnt weiter Und das Bier knallt Wir laufenLaufen Richtung Downtown Die NachtIst noch lange nicht vorbei Lachen, laufen, trinken Tanzen, Songtexte schief singen Aber lebenWir genießen das Leben Erobern uns zurück unser Leben Bevor der Tag anbrichtUnd alles wieder zusammenbricht All die LeichtigkeitAll die gemeinsame ZeitAll das nicht mehr einsam sein Wir wollen nämlich nicht Einsam seinWir wollen gemeinsame Zeit Wir wollen diese Leichtigkeit Wir wollen nicht vernünftig sein Nicht immerzu vernünftig sein Wir wollen auf Tischen tanzen Uns nicht drinnen verschanzen Wir wollen die Falschen küssen Nicht zu schnellErwachsen werden müssenWir wollen Musik hören Freundschaftsschwüre schwören Wir wollen raus gehenUnd uns in den Arm nehmen Doch der Tag beginnt Die Musik verstummt Und das Bier ist leer Wir wollen mehr Wollen wieder mehrMehr leben, mehr Leichtigkeit Mehr gemeinsame ZeitMehr Zeit ohne Einsamkeit Mehr lachen, laufen, trinken TanzenSchief die …

Wollknäuel

Wenn ich meinen Blick durch die Gegend schweifen lasse, wird mir bewusst, wie weit ich entfernt bin. Die Nähe zu anderen Personen, Gegenständen oder Ereignissen ist greifbar – so als würde ich mich direkt mit meinem Gesicht gegen das Fenster bei einer Autofahrt drücken. Ich kann alles sehen: die Regentropfen zum Beispiel. Sie fallen immer schneller auf die Autoscheibe und ich kann jeden einzelnen davon erkennen. Der rechte Tropfen fällt sacht auf die Scheibe und bahnt sich seinen Weg nach unten. Da – der andere Tropfen – ist viel langsamer und findet seinen Weg nicht ohne Ausschweifungen nach unten zum Türgriff. Dieser ist anders. Er kommt erst nach rechts, nach links, dann weiter nach links und weiß nicht genau, wie er seine Route fortführt.  Dieser Regentropfen steht als Symbol meines momentan Gefühlschaos. Ich blicke umher, finde keinen Halt und keinen Anker, sondern schwebe von einem Moment in den anderen. Ich renne von Standort zu Standort, überquere Brücken, Hügel und Bahnhöfe. Finde mein Zuhause, erkenne meine Vorlieben – aber doch finde ich mich nicht. „Du machst …