Körper & Bewusstsein, Tabuthema
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Vor dem Rot: Zwangsstörung, Zyklus und PMS #readyornot

Bevor ich blute, bin ich zart und schmerzaffin, mein Herz ist schwerer und ich kann keine blöden Sprüche mehr hören. Ich spüre eine deutliche Distanz zum Außengeschehen, merke aber gleichzeitig, wie wichtig es ist, mich hin und wieder zu überwinden. Manchmal muss ich nach Hause, weil ich sonst wie ein Damm brechen und fluten würde. Muss aus der Straßenbahn rennen, weil mir schlecht ist, heiß und kalt, und alle Bedürfnisse sich zu Einem kristallisiert haben: Ich muss mich verstecken; vor dem verdreckten Hauptbahnhof und den aufgegebenen Besoffenen, vor den Knallfroschnachrichten, die einen beißenden Geruch hinterlassen, vor dem Geschirr, dass ich nicht spülen kann, vor dieser bodenlosen Trauer, die ich nur aushalten, aber nicht wegträumen oder vergessen kann.

#readyornot beschäftigt sich mit Zwangsstörungen. Sie werden häufig missverstanden oder als „Putzfimmel“ abgetan, was sehr schade und hinderlich ist: Durchschnittlich werden Betroffene nämlich erst nach neun Jahren diagnostiziert. Menschen mit Zwangsstörungen leiden unter unerwünschten Zwangsgedanken und/oder unter Zwangshandlungen, die ihren Alltag zunehmend vereinnahmen und alle möglichen Themenfelder umkreisen können. Effektiv behandelt werden Zwänge mit kognitiver Verhaltenstherapie und Konfrontation mit Reaktionsmanagement, oft in Kombination mit einem Antidepressivum.

Wie funktioniert das nochmal?

Frauen, aber auch nonbinäre Menschen und trans Männer können einen Zyklus haben. Der Zyklus beginnt mit dem ersten Tag der Menstruation und endet, wenn die nächste Menstruation beginnt. Zyklen dauern für gewöhnlich zwischen 24 und 38 Tage.

Der erste Teil des Zyklus heißt Follikelphase und dauert circa zwei Wochen. In dieser Zeit reift eine Eizelle im Körper heran. Währenddessen steigt der Östrogenspiegel an und die Gebärmutter baut eine dicke Schleimhaut auf. Ungefähr nach 13-15 Tagen kommt es zum Eisprung, das Ei wird aus dem Eierstock in den Eileiter abgegeben, die Östrogenwerte sinken wieder. 

Jetzt beginnt die Lutealphase, der Zeit zwischen Eisprung und dem Einsetzen der nächsten Periode, während der sich der Körper auf eine mögliche Schwangerschaft vorbereitet. In dieser Zeit steigen die Progesteronwerte im Körper. Dieses Hormon würde in der frühen Schwangerschaft unterstützen, wenn es zu einer Befruchtung kommt. Wenn nicht, kommt es zu einem Abfall des Östrogen- und Progesteronspiegels, der dann jeden Monat zur Menstruation führt.

Manchmal finde ich mich sehr lustig, wenn ich mich kurz vor meinen Tagen sehe. Ich schaue von außen auf die Situation und sehe mich vollkommen aufgelöst an die Decke starren: Gleichzeitig weiß ich, dass es bald besser werden wird. Das ist ein Luxus, den ich erst seit kurzem habe und der auf dem Höhepunkt meiner Zwangsstörung nicht existierte. Damals bedeutete jedes Loch den sicheren Tod, jede dunkle Wolke das K. o. Ich lebte in einem instabilen Schneckenhaus ohne Blitzableiter: hatte kein Vertrauen in mir selbst, suchte Antworten im Rest der Welt. Bekam keine, brach zusammen. Verstand nicht, warum es zwei Wochen pro Monat noch schlimmer war als sonst.

Und PMS?

PMS, das sogenannte Prämenstruelle Syndrom, fasst eine Reihe an Symptomen zusammen, die viele Menstruierende in verschiedenen Kombinationen monatlich erleben. Die Bandbreite dieser Symptome ist sehr groß. Wie viele tatsächlich betroffen sind, lässt sich schwer erfassen – vermutet werden manchmal bis zu drei Viertel aller Frauen, manchmal schwanken die Werte zwischen 20 und 50 Prozent. PMS-Symptome hören nicht unbedingt auf, wenn die Blutung einsetzt, sondern ziehen sich in manchen Fällen auch noch durch die Periode hindurch. Der Suffix „prä“ (= vorher) ist also eigentlich irreführend.

Eine geringere Anzahl der Menstruierenden, circa jede 20. Person, erlebt diese psychischen Symptome krankhaft verstärkt und leidet somit unter PMDS, der sogenannten prämenstruellen dysphorischen Störung

PMS beginnt während der lutealen Phase des Zyklus, welcher die zwei Wochen zwischen dem Eisprung und dem Beginn der Periode umfasst. PMS kann eine Reihe an körperlichen Symptomen mit sich bringen: Bauchschmerzen und Krämpfe, Rückenschmerzen, Aufgeblähtheit, Blähungen und Durchfall, Akne, Kopfschmerzen, Gewichtszunahme, Heißhunger, empfindliche, geschwollene und schmerzende Brüste, Schlafstörungen (…).

Besonders psychisch fühlen sich Betroffene oft drastisch schlechter als sonst in ihrem Alltag: Es kommt zu unerklärlicher Traurigkeit, Unsicherheit, Reizbarkeit, Erschöpfung und Ängstlichkeit. Für viele bedeutet das: an ungefähr zwei Wochen pro Monat muss ich mit Einschränkungen und Stimmungsschwankungen rechnen. Ein bunter Strauß aus Sorge, Zweifel und Schmerz kommt auf mich zu.

Die Fünf-Minuten-Blutung

PMS  ist seit dem Jahr 2000 als eigenständige Erkrankung anerkannt, seitdem forschen zahlreiche Menschen im Feld. Dennoch ist noch viel Luft nach oben. Kulturell wird PMS oft scherzhaft als „schlechte Laune der Frau vor den Tagen“ verallgemeinert und herabgetan. PMS ist natürlich keine psychische Störung, schwierig belegbar und viel unerforschter als die Zwangsstörung. Dennoch haben Zwangsstörung und PMS gemeinsam, dass sie extrem häufig missverstanden werden.

„Die Tage“ nun liefern schon lange Stoff für schnöde Stand-Up-Comedy oder „witzige“ Sprüche auf Facebook. Macht eine Frau ihrem Ärger Luft, vertritt sie ihre Meinung vehement oder ist sie sensibler als sonst gestimmt, dann hat sie wohl ihre Tage. Oder ihre fünf Minuten. Aber wahrscheinlich ihrer Tage.

Mit PMS sind sehr seltsame Stereotype verbunden. Schenkt man geläufigen Memes Glauben, mutieren Frauen zwölfmal im Jahr zu einem unberechenbaren Schokoladenmonster, das die männliche Population auszulöschen droht, es sei denn, man beruhigt sie rechtzeitig mit einer Familienpackung Vanillesahneeiscreme, ein bisschen Sex and the City und dem Big King XXL. Sie rotzen und schniefen und ertrinken in ihren Tränen, wenn sie die Überreste einer Taube auf der Straße sehen. That time of the month

Das stärkt einerseits den Irrglauben, sämtliche Frauen seien inhärent biologisch „das emotionalere Geschlecht“ und impliziert andererseits, Frauen seien für ein Viertel  ihres Lebens nicht zurechnungsfähig und zutiefst irrational. Nicht jede menstruierende Person hat PMS. Genauso hat nicht jede zwangsgestörte Person einen Putzfimmel, Waschzwänge, ist überhaupt ordentlich oder muss alles symmetrisch anordnen.  

Unerforschte Realität

Im deutschsprachigen Raum herrscht zum Thema Psychische Störungen und der weibliche Zyklus allgemein gähnende Leere. Für diese gegenseitige Abhängigkeit existiert jedoch ein treffender Begriff: Prämenstruelle Magnifikation (von engl.: to magnify = vergrößern, verstärken.)

Bevor ich meine Tage bekomme, es also in den sprichwörtlichen inneren Winter für mich geht, falle ich traurig wie Laub durch die Stunden, schlurfe am bunten Himmel vorbei und warte auf den ersten Fleck. Meine Gedanken drängen mich mehr in diesen Tagen, stoßen mich nach vorne und warten hämisch auf meinen Sturz. 

Dabei erleben beispielsweise die Hälfte derjenigen Frauen, die sowohl an einer Zwangsstörung leiden als auch ihre Periode bekommen, während der Menstruation, der Schwangerschaft oder der Menopause eine Verschlechterung ihrer Symptome. Außerdem haben Frauen im Alter von 14 bis 50 Jahren generell ein doppelt so hohes Risiko für Angstzustände wie Männer gleichen Alters (Anxiety and Depression Association of America). Dies könnte teilweise durch die Hormonschwankungen des Menstruationszyklus bedingt sein. 

Bereits 2006 nahmen 350 Frauen an einer Studie teil, die die Beziehung zwischen dem Menstruationszyklus, Schwangerschaft, der Menopause, hormonellen Verhütungsmitteln, SSRIs (eine Unterart der Antidepressiva) und der Ausprägung der Zwangssymptomatik untersuchte. Von den 350 Teilnehmenden füllten 101 ihre Fragebögen komplett aus und gaben sie ab. Unter diesen verstärkte sich für 49 ihre Zwangssymptomatik während der PMS-Zeit, bei neun während der Menopause und für 17 während der Schwangerschaft – wobei elf sogar eine Verbesserung während der Schwangerschaft angaben. 

Obsessionen und PMS

2013 verglich eine weitere Studie Zwangspatientinnen, solche, die bisher eine Verschlechterung ihrer Symptome durch PMS beobachten konnten (Gruppe 1), und solche, bei denen sich nichts veränderte (Gruppe 2). Bei den Ergebnissen beider Gruppen zeigten sich signifikante Unterschiede – bei Gruppe 1 kamen häufiger Suizidgedanken, Suizidversuche, die Einnahme von SSRIs und sexuelle/religiöse Obsessionen vor, ebenso erreichten die Teilnehmenden höhere Punktzahlen bei einem Depressions- und einem Angstskalentest (Beck Depression Inventory, BDI; und Beck Anxiety Inventory, BAI). Es scheint also eine Untergruppe an Zwangspatientinnen zu geben, bei denen die PMS-Zeit verstärkte Ausprägungen an Angst, Depression, sexueller/religiöser Obsession und Suizidalität bedeutet. 

Ich muss mich wirklich zusammenreißen manchmal, hasse plötzlich alles, was ich jemals gezeichnet, gedacht oder gesagt habe. Für mich ergibt sich hier ein Problem, das ich schon länger habe: Meine dem Zyklus geschuldete erhöhte Sensibilität kombiniert sich mit hartnäckigen Zwangsgedanken, mit denen ich normalerweise kein Problem mehr habe. Eine typische Zwangshandlung kann es sein, Ängste und düsteren Zukunftsvisionen in einem Schwall auf andere zu spucken. Ich merke dann, dass ich mich hineinsteigere, die andere Person verwirre und traurig mache. Darum versuche ich mich in diesen Momenten zu entschuldigen und die Situation zu verlassen. Dann kann ich atmen und an den letzten Monat denken, in dem es genauso war. Auch wenn ich keine Schuld an diesen Gefühlen habe, können sie mich nicht dazu zwingen, giftig und aggressiv zu handeln.

Warum genau geht es mir so miserabel?

Wenn du gleichzeitig einen Zyklus und psychische Probleme hast, kann das extrem verwirrend sein. Bist du traurig, weil du depressiv bist, oder weil du morgen wieder blutest? Übertönen die Gedanken in deinem Kopf wieder alles Angenehme, weil du diese eine Diagnose hast, oder fängt die zweite Zyklushälfte an? Ist es vielleicht doch der Wetterumschwung, deine Ernährung, mysteriöse hormonelle Prozesse, der Stress, der Weltschmerz, die Müdigkeit? 

Diese Kombination ist also nervig, aber ausprobieren lohnt sich: Viele Menschen berichten zum Beispiel von Verbesserungen ihrer PMS-Symptome durch einen regelmäßigen Schlafrhythmus, achtsamere Ernährung, pflanzliche Mitteln wie Mönchspfeffer, Baldrian, Fenchel, Frauenmantel und Himbeere, … Im Falle der dysphorischen PMS-Störung werden auch SSRIs verschrieben.

Für mich und viele andere hat die Thematik Zyklus und Zwangsstörung aber auch aus einem Grund große Relevanz, denn jahrelang waren die zwei Themen untrennbar miteinander verwoben: Ich hatte monatlich panische Angst, schwanger zu sein. Jeder Morgen barg dunkle Gewissheit; ich war schwanger, jeden Monat ein paar Mal. In der Schule aufzupassen war nicht möglich, und niemandem konnte ich etwas sagen, außer meinem Freund, der heimlich genervt und äußerlich besorgt meinen Rücken durch die Panikwellen streichelte. Aus Angst aß ich nichts, heimlich füllte ich Kondome mit Wasser, um die theoretische Löchrigkeit zu inspizieren, filmte mich beim Pillenschlucken und spielte das Video zur Beruhigung ab. Einmal lief ich zum hundertsten Mal leichenblass zum Klo und zog meine Hose runter, sah rot und weinte vor Erleichterung, rief „Guck, guck.“ Er: „Schau, ist doch alles gut.“ (War es nicht.) Die luteale Phase ist für mich also ziemlich vorbelastet.

Ein Versuch

Ich versuche gerade, eine Balance zwischen analytischer Innensicht und Im-Jetzt-Bleiben zu finden. Ich möchte nicht jedes Gefühl irgendwelchen hormonellen oder äußeren Ursachen zuordnen, möchte nicht jede Träne auf die Goldwaage legen. Die Heilung meiner Zwangsstörung erwächst allgemein aus einer drastischen Abkehr vom Schwarz-Weiß-Denken. Kein „Dieser Gedanke bedeutet das“ mehr, kein „Wenn du das machst, ist es vorbei.“ Ich möchte leben im Wabern, mich in meinen Zyklus verstehen, sanfter mit mir sein, wenn es soweit ist, aber mich nicht von vornherein fertigmachen und selbsterfüllende Prophezeiungen heraufbeschwören.

Dieser Beitrag steht keineswegs eine komplette Zusammenfassung da, sondern möchte lediglich auf das Thema hinweisen und einige Denkanstöße liefern. Gleichzeitig mit einem manchmal unberechenbaren Zyklus und psychischen Problemen zu leben, kann sehr schwierig und kräftezehrend sein. Aber auch wenn es sich nicht so anfühlt, kann beides besser werden. Wirklich!

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Die Suche nach einer Therapie ist oft anstrengend und langwierig. Nicht aufgeben! Oft findest du auf der Website deiner Uni eine Mailadresse, an die du dich wenden kannst. Du bekommst dann einen Termin zu einem Erstgespräch. Ansonsten sprich mit deiner*deinem Hausärzt*in. Alternativ kannst du auch eigenständig im Internet recherchieren und bei dir sympathischen Praxen anrufen und nach freien Plätzen fragen.

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Der Text und die Gestaltung sind von Ronja.

Ronja ist 23, studiert Freie Kunst und fasst gerne Dinge in Worte. Ihre Kolumne illustriert sie selbst. Gedichte mag sie sowieso, und Menschen portraitieren auch: In Tusche und in Bleistift. 

In ihrer Kolumne readyornot erzählt sie von Zwangsstörungen und vom absurden Leben.

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