Sexarbeit ist ein Tabuthema, Sexarbeitende sind gesellschaftlich hochgradig stigmatisiert – wie auch ihre Kund*innen, die in der öffentlichen Debatte noch unsichtbarer als Sexarbeitende sind. Das alles finde ich nicht gut, deshalb habe ich mit Lydia gesprochen, die mir im Anschluss an unser Gespräch noch den Kontakt zu zwei langjährigen Kunden von ihr vermittelt hat. Ich spreche mit beiden, sie kriegen in diesem Text Pseudonyme.
über Kaffeetische
Paul ist 41 Jahre alt, arbeitet als Softwareentwickler und lebt in Sachsen. Mit Lydia trifft er sich alle 3-4 Monate. Er ist schon lange Single. Als sich bei ihm vor zwei Jahren das Bedürfnis nach Intimität und einem Beziehungsersatz wieder einstellte, beginnt er im Internet nach Escort-Dienstleisterin zu suchen. “Mein Bild von Sexarbeit war vorher schon geprägt von vielen Berichten in Medien, die oft sehr negativ waren”, erzählt Paul mir, “und das habe ich in meiner persönlichen Erfahrung so nicht empfunden, so nicht kennengelernt.” Und die Vorbehalte von Drogen und Gewalt waren nicht groß genug, um dem Bedürfnis nach Intimität nicht nachzugehen. “Das eine ist halt das, was andere berichten und das andere ist dann eben das, was man selbst erlebt”, fasst er zusammen.
Er nimmt klassische Escort-Dienstleistungen in Anspruch: Unternehmungen “und zum Schluss etwas sinnliche Zeit, wie man so schön sagt”, erklärt er, “also eigentlich so ein bisschen das Gesamtpaket.” Die Frage, ob sich sein Verhältnis zu privatem Sex dadurch geändert hat, verneint er: “Ich könnte jetzt keine konkrete Sache nennen, die ich jetzt lieber machen oder nicht machen würde. Es ist eigentlich genau wie vorher.”
Ich frage Paul, ob er nicht Angst hat(te), dass sich die Ebenen für ihn vermischen – das Persönliche und die Dienstleistung. Er verneint wieder. Für ihn fühlt es sich mit Lydia auch nicht privat an, “weil ich kenne sie ja privat nicht. Es passt natürlich total, wir liegen da schon auf einer Wellenlänge und ich mag sie. Aber ein Allseitsersatz für eine Beziehung ist es halt nicht.” Und deswegen würde er auch aufhören, sexuelle Dienstleistungen in Anspruch zu nehmen, wenn er eine feste Beziehung eingehen würde. Die wünscht er sich schon.
Paul ist seit drei Jahren in der Welt des Online-Datings unterwegs und hat bereits mehrere Portale ausprobiert, leider bisher ohne Erfolg. “Ich würde sagen, dass es für mich nicht so einfach ist, eine Frau auf der Straße anzusprechen”, erzählt er mir. Er erblindete mit 18 und “deswegen kann ich abends nicht allein in irgendeinen Club gehen, wenn mir die Umgebung fremd ist. Das erschwert natürlich das Kennenlernen. Außerdem kommt noch hinzu – das ist aber nur meine ganz subjektive Wahrnehmung –, dass wir in einer Gesellschaft leben, die nach Perfektion strebt. Das heißt jede ‚Andersartigkeit‘ stellt eine Schwierigkeit oder Hürde dar, was die Suche zusätzlich erschwert.”

Seine beiden besten Freunde wissen über Lydia Bescheid, sie sind beide in festen Beziehungen und haben damit keine Erfahrung. “Die finden das aber gut”, erzählt Paul, “die sind da beide sehr liberal eingestellt.” Seine Familie ist nicht eingeweiht. “Das hängt aber nicht unbedingt mit der sexuellen Dienstleistung zusammen, sondern dass wir uns generell nicht über Sexualität unterhalten, wenn wir uns am Kaffeetisch treffen”, sagt er.
über Konsens und Nichtkonsens
Valentin ist 57 Jahre alt, lebt im Rheinland in der Nähe von Köln und ist als Freiberufler bundesweit viel unterwegs. In seiner Beziehung spielt Sexualität schon seit mehreren Jahren keine Rolle mehr. Gespräche darüber erzielten weder eine Veränderung noch konnte er mit seiner Partnerin eine Lösung dafür finden, dass sie unterschiedliche Bedürfnisse und Wünsche haben. Vor einigen Jahren hat er sich dann einfach mal getraut, bei einer sexuellen Dienstleisterin anzurufen. Er hat im Vorfeld viel darüber nachgedacht, “weil Sex nichts ist, das ich mir einfach hole”. Konsens ist ihm sehr wichtig. Er hat dann sehr schöne Erfahrungen mit sexuellen Dienstleistungen gemacht. Deswegen nimmt er diese zwei-, drei-, viermal im Jahr weiterhin in Anspruch. Hauptsächlich von Lydia, er hat sich nur einmal mit jemand anderem getroffen.
“Ich persönlich als Interessierte an Menschen finde das super spannend, welche Geschichten meine Kund*innen mitbringen. Ich frage auch danach, wenn sie es mir erzählen wollen. Ich bin da total dankbar für das Vertrauen meiner Kund*innen und die sind auch total glücklich, wenn sie ihre Geschichte mal einer neutralen Person erzählen können, die niemand aus ihrem Umfeld kennt. Aber grundsätzlich ist das alles natürlich deren Sache. Ich finde das super schade, wenn sie in einer Beziehung stecken, in der nicht über Sexualität und die gegenseitigen Bedürfnisse gesprochen wird. Und die suchen dann eben ihre Lösung. Da sprechen wir auch drüber.”
Lydia
Seine Partnerin weiß nichts davon, auch sonst niemand. Valentin vermutet, dass das zur Trennung oder zumindest zur dauerhaften Schädigung ihrer Beziehung führen würde. Ich frage ihn, ob er ein schlechtes Gewissen hat. “Ja. Ein wenig, ja”, antwortet er. Wegen der vorher gescheiterten Versuche hat er das Gefühl, dass er alles rund um Sexualität nicht mehr zur Sprache bringen kann. Und seit er sich mit Lydia trifft, habe sich seine Beziehung verbessert. Er könne Sexualität dort nun ausklammern, sodass das Thema keinen konfliktbergenden Reibungspunkt mehr darstellt. Jetzt sieht Valentin den Rest entspannter „und kann ihn gut finden“.

Bei seinen Treffen mit Lydia steht auch nicht nur das rein Sexuelle im Vordergrund. Es ist nicht nur körperlich, es ist auch Zeit zu zweit. Es geht um ein gutes Grundgefühl, um Gespräche. Valentin sagt: “Ich könnte mir durchaus vorstellen, dass wir uns auch privat ganz gut verstehen würden.” Die beiden sprechen auch viel über Sexarbeit im Allgemeinen und die Stigmatisierung von Sexarbeitenden und ihren Kund*innen. Valentin hat seine auch Frau nach ihrer allgemeinen Einstellung zu Sexarbeit gefragt. Sie lehnt diese nicht komplett ab.
Er wuchs in einem katholischen, konservativen Elternhaus auf. Dort herrschte der Konsens: Sex soll nur in der Ehe stattfinden und dient nicht dem Vergnügen, sondern dem Kindermachen. Mit Freund*innen bespricht er das Thema auch nicht, er war da “persönlich sehr gehemmt und schüchtern”. Entsprechend negativ war auch sein Bild von Sexarbeit. Doch auch Valentin trieb ein Defizit (in seiner Beziehung) zur Neugier und dem Willen, sexuelle Dienstleistungen trotzdem auszuprobieren.
über Gesetze
Valentin macht sowas wie mit mir öfter, er will mit Vorurteilen aufräumen. Das Klischeebild des objektifizierenden, misogynen und dauergeilen Freier löschen. Den Begriff Freier lehnt er ebenso wie Paul ab. Letzterer versteht unter Freiern Menschen, die auf den Straßenstrich gehen oder ins Bordell. Ihm war es wichtig, dass er das nicht tut. “Das einzige Angebot, das für mich Sinn macht, ist Independent Escort [also ohne Agentur im Rücken]. Fertig”, sagt Paul, weil es ihm wichtig war, dass die sexuellen Dienst- leistungen selbstbestimmt angeboten werden. Das war auch für Valentin ein entscheidendes Auswahlkriterium.

Paul erklärt mir, wie er vorgegangen ist: “Es ist natürlich immer etwas schwierig, von außen so direkt zu sehen, ob jemand das jetzt selbstbestimmt macht oder nicht. Ich habe mir Lydias Internetseite angeschaut und auch ihren Blog gelesen. Dann eben mal mit ihr telefoniert und geschaut Wie fühlt sich das an? Worüber kann man sich unterhalten? Wir haben bei meinem ersten Anruf einfach nur gequatscht. Da merkt man schon, ob man unter Zwang arbeitet oder das wirklich freiwillig macht.”
Ich frage ihn, ob er die deutsche Gesetzeslage zu Sexarbeit liberal findet. Paul antwortet: “Schwer zu sagen. Liberal würde ich schon denken, das sieht man ja schon allein an der Vielfalt der Angebote, dass da schon sehr viel möglich ist. Ich meine, in jeder kleinen Stadt gibt es irgendwie ein Bordell oder so. Da denke ich, das ist schon sehr liberal. Für die sexworker selbst kann ich das nicht einschätzen. Was da was bringt oder nichts bringt. Ich kenne aber Lydias Haltung zum Prostituiertenschutzgesetz und weiß dadurch, dass es da einige Punkte gibt, die schon verbesserungswürdig sind.” Valentin räumt ebenfalls ein, dass die Gesetzgebung hierzulande “liberaler als in anderen Ländern” sei. Er kritisiert dennoch die sehr starke Stigmatisierung von Sexarbeitenden, die sich für ihn beispielsweise in der Klarnamenpflicht bei Kontrollen äußert. Valentin stört es, dass dieses Stigma unter dem Vorwand des Schutzes befeuert wird. Bei Kund*innen hat er das Gefühl, dass die Stigmatisierung eher von der Gesellschaft und weniger der Politik ausgeht.
Vom Sexkaufverbot, das auch Nordisches Modell genannt wird, hält Paul “eigentlich überhaupt nichts, weil das ja Kund*innen kriminalisiert. Würde das hierzulande eingeführt werden, würde ich die Dienstleistung nicht mehr in Anspruch nehmen, weil ich es mir einfach nicht leisten kann, vorbestraft zu sein. Und ich glaube, dass dann wirklich das eintritt, was sehr viele Sexarbeitende befürchten, dass dann eben bloß noch die Leute übrigbleiben, die durchaus kein Problem damit haben, mit Menschenhandel mitzugehen. Wer eine kriminelle Handlung begeht, begeht dann vielleicht auch eine zweite und dritte. Das halte ich dann aufjedenfall für äußerst problematisch.” Auch Valentin findet es “ganz fatal”, weil es die Situation von Sexarbeiter*innen verschlechtere und sexualisierte Gewalt im Bereich der Sexarbeit ansteige. Er fordert Verbote dort, wo Missbrauch und Gewalt stattfinden, statt überall.
Neben dem Hauptkritikpunkt der Kund*innenkriminalisation stört Valentin, dass “Sexarbeit durch das Nordische Modell in eine Grauzone geschoben wird. Das ist ein Rückschritt, weil Sexarbeit so in die Illegalität rutscht und Kontrolle nicht mehr möglich ist. Ich finde aber auch einfach den Gedanken dahinter ganz fatal. Dass man Sexarbeit verallgemeinert und mit Missbrauch und sexualisierter Gewalt gleichsetzt. Dass man Sexarbeitenden das Recht abspricht, selbst entscheiden zu können, dass man sagt, dass sie krank sind und ihnen geholfen werden muss.” Und auch er sieht das Problem, dass durch eine entsprechende Gesetzesänderung respektvolle Kund*innen abgeschreckt werden “und die, denen es eh egal ist, die bleiben dann und können in einem anderen Raum agieren – ohne Kontrolle.”
Beide stört zudem die moralische Bewertung von Kund*innen, die mit einer solchen Regelungen einhergeht. “Man wird halt abgestempelt”, sagt Paul, “das finde ich nicht gut. Ich empfinde es nicht als kriminell, sich mit einer Escortdame zu treffen.” Und “ich bin mir nicht sicher, ob verschärfte Gesetze oder Verbote in der Sexarbeit das Problem von Menschenhandel und Zwang lösen würden”, erwidert Paul, “ich denke, man muss da direkt ansetzen.”
über das Dasein als Kund*in

Ich frage, ob sie sich vorstellen könnten, sich mit anderen Kund*innen zu einer Interessenvertretung zusammenzuschließen. “Also ich fänds auf jeden fall ziemlich praktisch”, grübelt Paul, “vielleicht auch um Aktionen zu planen. Aber ich befürchte, das wird nicht kommen. Ich würde da mitmachen, aber ich glaube, das ist ganz schwierig. Dafür sind wir Kund*innen als Gruppe einfach viel zu divers.” Ich nicke und erwidere, dass das Stigma dahingehend sicher auch hemmend wirkt. Paul sieht vielmehr ein anderes Problem: Manche Kund*innen suchen Sexarbeitende nicht jahrelang auf “und für drei Monate oder ein Jahr geht niemand in so eine Interessenvertretung.” Valentin antwortet, dass “eine solche Interessen- vertretung vielleicht gar nicht schlecht wäre, weil Kund*innen in der öffentlichen Debatte nicht persönlich gehört, sondern stigmatisiert dargestellt werden.” Meist als einsame, misogyne, übergriffe und sexuell gestörte Männer. Valentin merkt jedoch zusätzlich an, dass auch der Wunsch nach Anonymität eine entsprechende Interessenvertretung unwahrscheinlich macht.
Wie würdest Du Menschenwürde definieren?, frage ich. Paul sagt: “Ja, schwierige Frage. Sehr rechtlich, auch eine sehr philosophische Frage. Wenn man jetzt nur nach Rechten geht, dann würde ich sagen: das Recht auf Selbstbestimmung, Teilhabe und die Unversehrtheit des Körpers. Auf die Sexarbeit bezogen würde ich sagen: sexworker mit entsprechendem Respekt behandeln. Also dass man zum Beispiel keine Gewalt- fantasien auslebt, dass man immer höflich nachfragt Was willst Du? Was stellst Du Dir vor? Geht das, geht das nicht? Das finde ich ganz schön wichtig.”
Werden Sexarbeitende für Kund*innen zum Mittel zum Zweck?, frage ich weiter. Paul antwortet: “Wenn man den Respekt nicht entgegenbringt oder die sexworker in sehr prekären Verhältnissen leben und arbeiten, ja. Bei selbstbestimmter Arbeit nicht.” Er hat nicht das Gefühl, dass er sich mal nicht respektvoll genug verhalten hat. Valentin definiert Menschenwürde so, “dass man für sich selbst entscheiden und das auch artikulieren kann und dass eigene Ansichten respektiert werden von anderen. Ich denke, die Menschenwürde ist etwas, das immer gleich bleibt und Menschen immer haben dürfen. Das einzige, was sich ändern kann, ist mein Respekt gegenüber einer Person.” Er räumt dennoch ein, dass man Dinge als menschenunwürdig erachten kann “und daraus seine Konsequenzen zieht”. Auch Valentin sagt: “So wie ich es [Sexarbeit] lebe, denke ich, dass ich die Menschenwürde wahre, aber ich weiß, dass es auch Leute gibt, die denken, sich dadurch das Recht zu erkaufen, einen Menschen so zu behandeln, wie sie wollen.”

über Sexarbeit
Paul und Valentin haben in ihrer Suche nach sexuellen Dienstleistungen beide nach dem Kriterium der Selbstbestimmung ausgesucht. Dadurch haben sie nicht das Gefühl, mal in Kontakt gekommen zu sein mit Menschen, die ausgebeutet werden und sexualisierte Gewalt erfahren. Beide können sich nicht vorstellen, selbst als Sexarbeiter zu arbeiten. Paul liebt seinen technischen Job und Valentin glaubt, dass ihm die Menschenkenntnis hierzu fehlt. Menschenkenntnis erachtet er als wichtigste Eigenschaft, um als Sexarbeiter*in zu arbeiten. Und “eine dicke Portion Selbstbewusstsein”, sagt Valentin.
Er hat “das Gefühl, das ist ein gegenseitiges Geben und Nehmen. Natürlich spielt das Geld auch eine Rolle. Aber persönlicher Konsens eben auch und mir ist wichtig, dass die Sexarbeiterin das schon aus freien Stücken und selbstbestimmt macht und auch mal sagt: Das mag ich nicht.”
Zum Abschluss sagt Valentin etwas, das ich genauso unterschreiben kann: “Sexualisierte Ausbeutung muss natürlich verboten werden. Sexarbeit ist trotzdem ein normaler Beruf. Kosmetiker*innen, Pflegekräfte, Industrieleute – die haben auch nicht jeden Tag Lust zur Arbeit zu gehen. Ich kenne das auch aus meinem Beruf, dass niemand seinen Job immer gerne macht, nur Freude daran hat. Es geht natürlich auch darum, seinen Lebensunterhalt damit zu verdienen. Ich finde es nicht richtig, dass andere Maßstäbe an Sexarbeit gesetzt werden wie immer große Leidenschaft und Hingabe.”
Und sein Fazit zu Kund*innen ist: “Klar gibt es Leute, die postpubertär mit irgendetwas rumprahlen. Kund*innen sind aber keine geistig Gestörten. Wenn Sexarbeitende das selbstbestimmt machen, gibt es kein Problem. Ich würde mir wünschen, dass wir stereotypisierte Vorurteile ablegen. Wir leben in einer breiten Gesellschaft. Nur weil man es selbst nicht tun würde, muss man andere nicht zum schlechten Menschen degradieren. Und auch die Argumentation gegen Sexarbeit, die immer verknüft wird mit der gegen Menschenhandel. Ich finde, da muss man stärker unterscheiden im Diskurs, was was ist, statt das gleichzusetzen. Wir sollten niemandem das Recht nehmen, sich auf Sexarbeit und vereinbarte Grenzen zu einigen.”

über mein Fazit
Sowohl Lydia als auch Paul und Valentin sind Menschen mit ihrer eigenen persönlichen Lebensgeschichte und Lebensperspektive, aus der sie die Welt sehen. Sie können nicht als Repräsentant*innen aller Sexarbeitenden bzw. Kund*innen fungieren. Das ändert jedoch nichts daran, dass wir ihnen zuhören und ihre Einschätzungen und Forderungen ernst nehmen müssen. Weil sie Erfahrungen mitbringen, die anderen – mir eingeschlossen – fehlen und die uns als Gesellschaft voranbringen können. Durch Valentin habe ich mehr über die Frage nachgedacht, was unterschiedliche Bedürfnisse und Ehrlichkeit in einer Partner*innenschaft bedeuten (können). Seit dem Gespräch mit Paul hinterfrage ich viel mehr, wann und wo ich mir anmasse, bei anderen Glück zu messen. Durch Lydia habe ich über Arbeit nachgedacht und verstanden, dass sexualisierte Ausbeutung keine Arbeit ist, sondern Zwang und Gewalt. Für Arbeit gibt es aber irgeneine Form von vereinbarter Entlohnung. Ich finde, aus diesem Verständnis heraus wird verständlich, dass Sexarbeit nicht das Problem ist. Das war sie nie. Das Problem ist sexualisierte Ausbeutung, „Zwangsprostitution“, wenn man es so nennen will. Das ist Ausdruck patriarchaler Macht. ich finde, der Kampf gegen die Stigmatisierung von Sexarbeitenden inkludiert den gegen die Stigmatisierung ihrer Kund*innen. Es ist wie mit dem Feminismus: Alle haben etwas davon, wenn wir in einer weniger stereotypisierenden und diskriminierenden Gesellschaft leben.
Sex wird häufig als etwas ungemein Wertvolles betrachtet, als eine Form der Intimität, die nicht einfach eingegangen werden darf. Sie ist so kostbar, das sie nichts kosten darf. Wir erwarten, dass Sex legitimiert wird und stellen dabei nicht zuletzt auch unterschiedliche Anforderungen an Frauen und Männer (und ignorieren dabei, dass es mehr als zwei Geschlechter gibt). Dabei hat die Fetischisierung des Jungfernhäutchens nichts mit Sex, sondern patriarchaler Macht zu tun. Davon sollten wir uns nicht beeindruckt zeigen. Dass das schwerfällt, ist eine traurige Sache für sich. Auch die Vorstellung, dass Mädchen bzw. Frauen etwas (nämlich ihre Reinheit und „Unschuld“) verlieren, wenn sie entjungfert werden (passive Rolle im Sprachgebrauch = Rolle der Frau im Patriarchat!), ist abstrus. Eröffnet sich durch Sex nicht erst auch eine neue Welt, die es zu entdecken gibt (wenn man es denn möchte)? Wie kann man da etwas verlieren? Sex ist nicht verwerflich, sondern (im besten Fall) wirklich schön. Wieso sollten wir das missgönnen?
Ich finde, Sex darf immer dann stattfinden, wenn alle Beteiligten einverstanden sind und niemand zu schaden kommt. Es braucht keine emotionale Bindung, es braucht keinerlei Formalitäten wie die Ehe. (Ein Kondom oder Lecktuch wäre nur empfehlenswert.)
Aber einen Schritt zurück: Wenn wir über Sexarbeit sprechen, müssen wir auch über Arbeit sprechen und das Bild von Arbeit, das wir internalisiert haben. Darüber, dass wir Arbeit als etwas Positives betrachten und den Anspruch haben, dass unsere Arbeit uns langfristig selbst erfüllt. Das spiegelt die Realität vieler Menschen nicht wider. Meine Oma ist kürzlich in Rente gegangen und hat davor in einer Lebensmittel-fabrik gearbeitet. Meine Oma ist ein zutiefst kreativer Mensch, in Russland hat sie Näherin gelernt, spezialisiert auf Männer- und Kindermäntel. Ich glaube, Nähen macht Oma mehr Spaß als Schichtarbeit am Fließband. Nicht alle sind jedoch privilegiert genug, um ihren Träumen nachzujagen und eine Arbeit zu finden, die ihnen (hin und wieder oder mehrheitlich) auch tatsächlich Spaß macht.
Wir müssen den Begriff <Arbeit> differenzierter betrachen und uns fragen, wieso wir unterschiedliche Anforderungen an arbeitende Menschen stellen. Wenn wir Sexarbeitende wie Lydia alleine darauf reduzieren, Geld verdienen zu wollen und ihnen absprechen, ihren Beruf selbstbestimmt gewählt zu haben, erheben wir uns über sie, weil wir unseren Beruf natürlich aus nobleren Gründen wählen: Ich arbeite gerne mit Menschen, ich will der Gesellschaft etwas zurückgeben, ich will Krebs erforschen und heilen, mir macht rumwerkeln Spaß, … Wir sprechen ihnen ab, Entscheidungen zu treffen und wollen sie retten, weil wir die Berufsbranche Sexarbeit aus einer moralischen Perspektive bewerten. Das machen wir bei Erntehelfer*innen nicht, obwohl es auch dort massive Ausbeutung gibt. Warum? Weil wir alle Spargel essen wollen?
Wenn wir über sexualisierte Ausbeutung sprechen und darüber, wie wir diese unterbinden, dann müssen wir darüber sprechen, weshalb Menschen sich in sexualisierter Ausbeutung wiederfinden: Weil es ihnen nicht gut geht. Weil sie auf die Loverboy-Masche reinfielen, weil sie keine Perspektive sahen und in emotionale Abhängigkeit zu einem Zuhälter gerieten. Wenn sie aus dem Ausland kommen: Weil sie Deutschland die Chance auf ein besseres Leben und ebenfalls die Flucht aus der Perspektivlosigkeit sahen. Weil man bei illegaler Migration bei Schmugglern Schulden auf sich nimmt. Weil man ohne legalen Aufenthaltsstatus kaum Rechte hat, weil man aus Angst vor Abschiebung Ausbeutung erträgt.
So wie ich das sehe, sind nicht die Kund*innen und erst recht nicht die Sexarbeitenden „das Problem“. Sie sind nicht der Grund dafür, dass es sexualisierte Ausbeutung gibt. Wir schaufeln mit unseren politischen Strukturen den Weg hierzu frei und machen (sexualisierte) Ausbeutung möglich. Das ist nicht richtig.
Es ist die Aufgabe unserer demokratisch gewählten Volksvertreter*innen einen rechtlichen Rahmen auszuverhandeln, in dem Sexarbeit stattfinden kann und sexualisierte Ausbeutung unterbunden wird. Ich finde, es ist eine Schande, vor diesem Problem und der Verantwortung für alle Gruppen in unserer Gesellschaft mit einem Sexkaufverbot weglaufen zu wollen. Was meinst Du?
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Weiterführende Informationen:
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Text von Diana, Gestaltung von Chiara und Merve.
Diana ist Autorin der Kolumne #zwischenTürundAngel und lebt in Trier. Manchmal gestikuliert sie so stark, dass ihre Mitmenschen lieber Abstand zu ihr halten. Wenn sie gerade nicht politisch unterwegs ist, findet ihr sie bei ihrem tierischen Begleiter Max. Sie liebt heiße Schokolade, Worte und holpriges Tanzen.
Ein Gespräch zwischenTürundAngel über Worte, Politik und das Dazwischen. Schon eine spontan in den Raum geworfene Frage unserer Autorin kann zu Kopfakrobatik führen. Nach ersten Impulsen und Reaktionen fischend, fügt sich hier alles im Laufe zu einem Netz. Mit Liebe zur Weisheit, rotierenden Gedanken und vergessenen Eindrücken. Über Heidelbeerjoghurt, Schnecken und Blumentöpfe.
Chiara ist 19 Jahre alt und studiert Design in München. Zusammen mit Merve gestaltet sie die Kolumne #zwischenTürundAngel. Man trifft sie meist in einem viel zu großen Mantel und einer viel zu kleinen Tasche. Sie ist dafür bekannt, ihr Essen zu versalzen, jegliche Dinge zu sammeln und viel zu spät das Haus zu verlassen. Ansonsten zeichnet, kocht und fotografiert sie gerne.
Merve lebt in Karlsruhe und studiert an der HfG Kommunikationsdesign. Sie ratscht gerne mit vielen Menschen, genießt es aber auch sehr alleine in die Natur zu fahren oder zu töpfern. Was sie sehr liebt: Zusammen mit ihren Liebsten und einem Tee im Park Menschen zu beobachten und zu zeichnen und gemeinsam über Träume und Ängste sprechen. Bei TIERINDIR ist sie Gestalterin.
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