Auf meinem liebsten Jutebeutel steht: sexwork is work too. Mit dieser Haltung ecke ich oft an. Ich weiß, dass es Menschenhandel zum Zweck der sexuellen Ausbeutung gibt. Ich verurteile diese und jede andere Form von sexualisierter Gewalt. Und dennoch finde ich: Es ist nicht unmoralisch, sexuelle und/oder erotische Dienstleistungen anzubieten und/oder in Anspruch zu nehmen.
Weil ich aber weder in dem einen, noch in dem anderen persönliche Erfahrung habe, habe ich den Kontakt zu verschiedensten Sexarbeitenden gesucht, die ihrem Beruf selbstbestimmt nachgehen. Ich finde, dass wir diese Lebensrealitäten genauso anerkennen müssen und sie uns dabei helfen, Sexarbeit von Kriminalität und Gewalt, von Loverboys und Menschenhändlern zu befreien. Damit Sexarbeit nicht Zwang, sondern tatsächlich Arbeit ist. Nur wenn wir Sexarbeitenden zuhören, können wir erfahren, welche politischen, gesetzlichen und gesellschaftlichen Rahmen hierfür gesetzt werden müssen.
Ich spreche mit Lydia, 41 Jahre alt, lebt in Leipzig. Sie bezeichnet sich gerne als Erotikdienstleisterin „oder auch als Beraterin für Lebensfreude und sexuellen Genuss. Steht so auf meiner Visitenkarte, finde ich gut.“ Von Worten wie Prostitution hält sie nichts. „Der ganze Begriff ist super negativ belastet und meiner Meinung nach veraltet. Sobald Mensch dieses Wort hört, hat er Bilder im Kopf: schlechte Arbeitsbedingungen oder sogar Zwang, Gewalt, Kriminalität.“ Das entspricht nicht dem, wie sie ihren Beruf wahrnimmt.
über Selbstbestimmung
2004 in einer thüringischen Kleinstadt: Lydia, die mit bürgerlichem Namen anders heißt, ist finanziell in einer ziemlich schwierigen Situation. Als Schreibkraft in einem Rechtsanwaltsbüro wurde sie aufgrund einer Sehnenscheidenentzündung arbeitsunfähig. Vier Monate später kommt die Kündigung vom Chef. Sie erinnert sich an Anzeigen von Escort-Agenturen aus Zeitungen, über die sie schon vor einigen Jahren stolperte. „Ich konnte mir das alles gar nicht so richtig vorstellen und habe das deswegen auch erst einmal gar nicht für mich in Betracht gezogen, weil es auch nicht nötig war. Aber den Gedanken, dass es sowas gibt, fand ich schon damals spannend“, sagt sie rückblickend.
Sie denkt aber erst einmal nicht weiter darüber nach. Erst durch den Stress und den finanziellen Engpass „kam es mir wieder in den Sinn, als ich so hin- und her überlegt habe: Was mache ich denn jetzt, um aus dem Dispo, in das ich mich tief eingegraben hatte, wieder rauszukommen?“ Sie ruft eine Escort-Agentur an: „Mein erster Kunde war sehr sehr angenehm und die Chefin hat mich da auch echt unterstützt und mir immer mit Rat und Tat zur Seite gestanden. Das hat mir Spaß gemacht, war leicht für mich, hat mir schnelles Geld gebracht und dann bin ich dabei geblieben.“
Seit 2010 arbeitet sie eigenständig ohne Agentur, es ist rentabler. Zwischendurch zieht sie immer wieder um, jetzt lebt sie in Leipzig. Nach einem Jahr in der Escort-Agentur treibt ihre Neugier sie in ein Wohnungsbordell. „Ich vergleiche die Breite der Sexarbeit gerne mit Restaurants. Es gibt Schnellrestaurants, es gibt Drive-Ins, es gibt gut-bürgerlich-gemütlich und ein bisschen gehobener und es gibt superduper Luxusklasse. Da nimmt man sich unterschiedlich viel Zeit für das Essen, die Beratung, die Atmosphäre“, erklärt sie.
Ich würde sagen, Lydia ist Luxusklasse. Seit sie ohne Agentur, ohne Bordell arbeitet, hat sie „kein Schema F“, sondern richtet sich nach ihren Kund*innen. Die Frage, ob sie selbstbestimmt arbeitet, bejaht sie. „Für mich bedeutet das, dass ich die Entscheidung zur Sexarbeit eigenverantwortlich getroffen habe und immer selbst bestimme, wann, wie lange und an welchem Ort ich arbeite. Ich entscheide auch – ohne dass jemand Drittes darauf Einfluss ausübt – zu welchen Bedingungen ich meine Dienstleistungen anbiete. Für mich gehört auch dazu, ob ich jetzt für eine Agentur oder in einem Bordell arbeiten will. Zu jedem Zeitpunkt entscheide ICH das. Und auch mit welchen Kund*innen ich arbeite. Ob ich jemanden ablehne oder das Treffen abbreche. Das ist immer absolut meine Entscheidung“, führt sie aus.
Einen Termin abgebrochen hat Lydia aber noch nicht. „Ich hatte eher so Kleinigkeiten, wie wenn ein Kunde zum Beispiel versucht, mich auf den Mund zu küssen. Das biete ich nicht an, das ist für mich etwas Privates. Wenn das jemand im Termin trotzdem versucht, habe ich mehrere Deeskalationsstufen. Egal, wie sexuell aufgebauscht die Situation gerade ist, in der wir uns befinden, ich bin in dem Moment völlig klar“, erzählt sie.
Wichtig an dieser Stelle: Selbstbestimmte Berufswahl und selbstbestimmte Berufsausübung bedeuten nicht, immer mit einem ehrlichen Dauergrinsen zur Arbeit zu gehen. Arbeit ist auch nicht gleich Selbstverwirklichung, – auch wenn wir das anstreben. Arbeit ist dazu da, Geld zu verdienen, was in einer kapitalistischen Welt wie unserer unabdingbar ist, um zu überleben. Dass Lydia ihre Arbeit Spaß macht, ist die Kirsche auf der Sahnetorte. Das muss aber nicht immer so sein: „Ich habe auch manchmal beim Arbeiten nicht viel Lust, aber dann ist es eben arbeiten“, erklärt Lydia, „ich glaube, eine Physiotherapeutin hat auch nicht immer Bock, alle zu massieren und einem Koch ist privat auch nicht immer danach, ganz viel zu kochen. Der ist auch mal froh, wenn er sich eine Pizza in den Ofen schiebt.“ Ich frage sie, ob sich an ihrer privaten Lust etwas verändert habe. Sie bejaht, „aber nicht durch die Sexarbeit, sondern eher durch das Alter und das Absetzen der Pille“, vermutet sie.
Die Frage, ob Lydia schon „Erfahrungen“ bzw. Begegnungen mit Menschenhändlern und Zwangsprostituierten* hatte, kann ich mir nicht verkneifen. Sie antwortet: „Nein. Kann man aber auch gar nicht so gut wissen und merken, glaube ich. Leider.“ Sie verweist mich an dieser Stelle an einen Artikel des Berufsverband erotische und sexuelle Dienstleistungen e. V. (BesD).
* gemeint sind Menschen, die zum Zwecke der sexualisierten Ausbeutung in die Fänge von Menschenhändler*innen gerieten, Stichwort: Zuhälterei bzw. moderne Sklaverei.
über Sex im Großen und Kleinen

Lydia wächst in der DDR auf, während der Wende ist sie acht Jahre alt. Als Teenager ist sie schon früh sexuell aktiv. Ihr Umfeld ist weder besonders offen noch besonders verschlossen. Ihre Eltern weder religiös noch Hippies. FKK ist normal. „Ich hab dann Bravo gelesen und so“, sagt sie. Welches Bild sie vor ihrer eigenen Erfahrung von Sexarbeit hatte? „Mein Bild von Prostitution bestand früher aus zwei extremen Polen, nämlich dem der Luxus-Escort-Lady, die ein Jet-Set-Leben lebt und dem der drogenabhängigen Person, die auf dem Straßenstrich arbeitet, erzählt Lydia.
Sie hat noch eine jüngere Schwester, die Mutter ist alleinerziehend. Trotzdessen dass sie ein „sehr vertrautes Verhältnis“ haben, erzählte Lydia ihrer Mutter erst nach einem Jahr, dass sie als Sexarbeiterin arbeitet. „Das war sehr schwierig für mich, ihr das so lange zu verschweigen, aber irgendwann habe ich das auch nicht mehr ausgehalten. Sie hat zugehört, sich alles erklären lassen und mir dann gesagt: Danke für Dein Vertrauen. Das war richtig schön und dann haben wir uns unterhalten über ihre Sorgen und Ängste. Sie hatte vorher ein ähnliches Bild von Sexarbeit wie ich, hat meine Entscheidung dann aber voll und ganz akzeptiert. Am Anfang hat sie mir noch gesagt, dass sie keine Details wissen will. Es hat aber nicht lange gedauert und dann konnte ich ihr Anekdoten von meiner Arbeit erzählen und wir haben zusammen gelacht. Mittlerweile ist es so, dass, wenn ich etwas Aktivistisches auf Facebook teile, dann macht sie auch mit, gibt Daumenhoch und schreibt auch mal einen Kommentar: Ich bin so stolz auf mein Kind“, berichtet sie.
Auch ihre Freund*innen haben kein Problem mit ihrer Berufswahl. Lydia zeigt an dieser Stelle ganz klare Kante: „Wer damit nicht klar kommt, ist für mich kein*e Freund*in, das brauche ich nicht. Die Sexarbeit gehört für mich einfach zu meiner Persönlichkeit, das ist ein Teil von mir.“ Denn für sie ist ganz klar: „Die Sexarbeit werde ich nicht aufgeben, nur weil es jemand von mir verlangt oder erwartet. Ich war eigentlich auch immer in Partnerschaften, seit ich als Sexarbeiterin tätig bin. Da kam dann schon auch die ein oder andere Partnerschaft, wo es darum ging: Mensch, ich finde das irgendwie doch nicht so schön, dass Du da mit anderen Männern Sex hast. Da war aber bei mir sofort ganz klar: Okay, aber ich höre damit auf, wenn ich das will, nicht wenn Du das willst. Weil das eben ein Teil von mir ist und ich möchte so akzeptiert und geliebt werden, wie ich nun einmal bin. Das bin ich, ja.„

Ich frage sie, ob die Sexarbeit ihre Berufung ist. „Ja, mich macht das einfach glücklich“, antwortet Lydia. „Ich kann mir keine andere Arbeit für mich vorstellen, mit der ich mich so wohlfühle. Ich habe anderes ausprobiert [wie die Arbeit im Rechtsanwaltsbüro oder als Sozialarbeiterin], aber es geht für mich einfach nicht mehr anders. Und ich habe auch vor, das zu machen, bis ich das wirklich nicht mehr kann. Im Moment ist mein Ziel – wenn es denn so lange noch geht – bis 70 tatsächlich Sexarbeit zu machen, weil ich auch viele Kolleg*innen kenne, die bereits in diesem Alter sind und weiterhin Kund*innen haben. Und dann hätte ich gerne auf einer griechischen Insel ein kleines Häuschen und würde da gerne sterben – glücklich.“ Ich lache. Als Rentnerin auf einer griechischen Insel will ich auch enden!
Während unseres Gespräches erlebe ich Lydia als sehr offenen Menschen. Das bestätigt sich darin, dass sie von ihrem Beruf lieber früher als später erzählt. Sie ist nicht gerne unehrlich: „Wenn ich aber zum Beispiel auf einer Hochzeit bin und mich mit Gästen unterhalte, dann erzähle ich das nicht unbedingt Leuten, die ich wahrscheinlich nie wiedersehe. Bei so einem Anlass muss ich dann nicht gleich im Mittelpunkt stehen und das passiert oft, weil Sexarbeit polarisiert.“
über die Arbeit
Ich weiß nicht, ob es an Lydias Erfahrung als Sozialarbeiterin liegt, aber ich merke direkt, dass ihre Arbeit mehr ist als nur Körperlichkeit. Sie lacht herzlich, sie ist sehr klug, ich spreche gerne mit ihr. Und verstehe, wieso es ihre Kund*innen tun, wieso sie sich bei ihr wohlfühlen. Lydia macht Escort, begleitet ihre Kund*innen also auf Reisen, Ausflügen, ins Restaurant. Darüber hinaus bietet sie erotische Dienstleistungen im zärtlichen Bereich an, zum Beispiel Massagen, Oralverkehr, Streicheln, Körper küssen, Sex in verschiedenen Stellungen.
Sie macht das ganz individuell, nimmt sich in Vorgesprächen Zeit für ihre Kund*innen, um gemeinsam herauszufinden, welche Bedürfnisse bestehen und inwieweit Lydia diese erfüllen kann. Sie arbeitet 3-4 Tage die Woche, macht mindestens Termine von einer Stunde und zwischen einzelnen Terminen je eine Stunde Pause. Die braucht sie zum Saubermachen, Runterkommen, Umstellen. Es sind maximal drei Kunden am Tag, meistens weniger. Im Bordell war das anders, das war Schichtarbeit. Mal lief nichts, dann viel und eher kurz.
Lydia ist sehr nah an ihren Kund*innen dran. „Trotzdem muss man die Distanz wahren. Das ist einfach ein Drahtseilakt und das ist etwas, das man können muss, wenn man in der Sexarbeit arbeiten will„, sagt sie und erzählt mir, dass ein Kunde sich einmal in sie verliebt habe. „Das passiert einfach mal und wenn es passiert, dann muss man damit umgehen können“, führt sie aus. Lydia brach daraufhin den Kontakt ab. „Ich hätte den auch ausnutzen können“, räumt sie ein, „aber das kann auch gefährlich sein. Du kannst auch mal an einen Stalker geraten. Das will ich nicht riskieren und so möchte ich nicht arbeiten. So möchte ich nicht mit den Menschen, die zu mir kommen, umgehen. Ich möchte ihre Gefühle nicht ausnutzen. Aber ich hätte es natürlich auch anders machen können. Das hätte mir viel viel Geld gebracht, ganz sicher.“
„Wie steht es um den Austausch mit anderen Sexarbeitenden? Ist das Verhältnis kollegial oder von Konkurrenzdenken geprägt?“, frage ich. Die Antwort überrascht mich nicht, sie zeigt, dass die Sexarbeit ein ganz normaler Beruf ist: „Als ich im Bordell oder im FKK-Club gearbeitet habe, habe ich auch Konkurrenzdenken erlebt. Ich fand das aber auch nicht schlimm, ich dachte, das ist normal. Es sind manche Menschen so drauf und andere so. Das ist überall im Leben so und auch im Beruf. Ich selbst war nie so drauf, dass ich gedacht habe: Oh die ist ja viel jünger als ich und sieht viel besser aus.
Seitdem ich im Berufsverband aktiv bin, erlebe ich das Zusammentreffen und den Austausch mit Kolleg*innen als sehr bereichernd und unterstützend. Es ist so, dass wir fast alle ganz unterschiedliche Kompetenzen haben und schon in mehreren Berufen gearbeitet haben. Wir tauschen unser Wissen und unsere Erfahrungen total gerne untereinander aus. Auch wenn Ressourcen fehlen, unterstützen wir je nach Möglichkeit. Das ist wirklich schön.“
„Wir sind keine homogene Gruppe. Wir haben unterschiedliche Geschichten, Beweggründe, Arbeitszufriedenheiten, Bildungsniveaus, Grade an Professionalisierung. Wir sind keine besseren oder schlechteren Menschen. Unter uns gibt es gebildete, rücksichtlose, hilflose, glückliche, verlorene, kriminelle, verantwortungsbewusste Menschen. Wir kommen aus gutem Hause, aus dem Kinderheim, aus Arbeiterfamilien, von den Philippinen und aus dem Saarland. Wir sind fünfundsechzig Jahre alt. Und neunzehn Jahre alt. Wir führen seit Jahren glückliche Beziehungen, wir werden von unserem Mann geschlagen, wir sind glückliche Singles mit großem Freundeskreis, wir lassen uns von unseren erwachsenen Kindern ausnutzen, und wir werden von unserer Familie schon ein Leben lang liebevoll unterstützt. Kurz: Wir sind viele, wir sind völlig unterschiedlich, und wir lassen uns auch mit besten Willen nicht in ein Schema pressen.“
aus: ‚Mein Huren-Manifest: Inside Sex-Business‘ von Undine de Rivière, Heyne Verlag 2018
über Moral und Würde
Ich frage Lydia, ob Menschenwürde in ihren Augen verletzt, genommen oder reduziert werden kann. Sie überlegt länger, bis sie schließlich sagt: „Ne. Aber ich bin ja auch Sozialarbeiterin. Wenn ich jetzt an Straftäter, irgendeinen Psychopathen, ganz schlimme Gewalttäter denke… – aber schlussendlich: Auch das sind Menschen. Und schlussendlich haben die auch ’ne Geschichte. Etwas, das sie zu dem gemacht hat, das sie sind. Zu den Taten gebracht hat, die sie getan haben.„
Sie pausiert kurz. „Ne, ich glaube nicht, dass die Menschenwürde irgendwie weggehen oder genommen werden kann oder dass man sie durch unwürdiges Verhalten verlieren kann. Man kann sich unethisch, vielleicht auch unmoralisch verhalten – aber mit Moral habe ich so meine Probleme. Das ist alles nicht gut, aber man muss auch den Kontext bedenken und schauen, was es da für Gründe gibt. Kommunikation ist ganz wichtig. Darüber zu sprechen: Was ist da denn eigentlich los? Was hast du für Motive für das, was du da tust? Und insofern jemand mündig ist, erwachsen ist, kann er seine eigenen Entscheidungen treffen. Ne, ich glaube, die Menschenwürde bleibt, die ist da.“

Sie hat nicht das Gefühl, dass ihre Kund*innen ihre Menschenwürde nicht achten und sie zum Mittel zum Zweck wird: „Die Kund*innen interessieren sich in den allermeisten Fällen sehr für mich. Selbst wenn ich eine Anfrage habe, wo ich das Gefühl habe, dem Menschen geht es jetzt hauptsächlich um seine Bedürfnisbefriedigung und Druckabbau und er würde jetzt hauptsächlich meinen Körper wollen, dann befasse ich mich mit dem Menschen gar nicht weiter, dann kommt der gar nicht weiter an mich ran. Und selbst dann hat er mich ja rausgesucht, er fand mich dann ja irgendwie ansprechend.„
Ich frage Lydia, ob sie sich von ihren Kund*innen sexualisiert fühlt. „Mal mehr, mal weniger“, sagt sie, „es ist natürlich da. Das kommt vielleicht aber auch darauf an, ob das jetzt Stammkundschaft oder jemand ist, den ich zum ersten Mal treffe. Der Anfang ist sicher oft eher sexualisiert. Die sehen ein Bild von mir und haben entsprechende Fantasien dazu, die dann auf mich projiziert werden. Das ist auch völlig okay so für mich, weil das ja das ist, was ich mache. Das ist ja mein Konzept.“
Je öfter man sich treffe, desto mehr Persönliches, mehr menschliche Nähe komme dazu. „Dann spielt die Sexualität eine geringere Rolle“, erklärt Lydia, „es gibt auch Kund*innen, wo das Sexuelle kaum eine Rolle spielt, sondern die sich eher die Nähe wünschen: kuscheln, streicheln, zusammensein, in den Arm genommen werden, einen anderen Körper spüren. Das ist für manche wirklich essentiell, das erleben die nicht. So traurig das klingt, aber so ist es.“
Die meisten Kund*innen kommen für eine bestimmte Zeitspanne immer wieder. Einige hat sie schon seit Jahren, seitdem sie angefangen hat, Anzeigen zu schalten. Lydia erzählt mir von einem Kunden, den sie schon seit ungefähr 12 Jahren hat. Zwischenzeitlich zieht er mehrfach um, meldet sich dann aber doch immer wieder. Ich finde das ziemlich schön.
über Gesetze
Lydia findet: „Das Prostituiertenschutzgesetz [ProstSchG] ist absolut diskriminierend, stigmatisierend und hilft gegen Zwangsarbeit und Menschenhandel zum Zwecke der sexuellen Ausbeutung überhaupt gar nichts. Ganz im Gegenteil: Es bringt Sexarbeitende direkt in Gefahr. Im Rahmen der politischen Erarbeitung dieses Gesetzes wurden viele Stellungnahmen eingeholt – auch von Organisationen, die mit Sexarbeitenden arbeiten oder selbst welche sind – und trotzdem haben sie die Lebens- und Arbeits-realität von Sexarbeitenden überhaupt nicht beachtet. Kein Stück.“
Der Bundesverband erotischer und sexueller Dienstleistungen (BesD) gründete sich 2013 zur Verhinderung dieses Gesetzesentwurf. Lydia schrieb parallel 2014 ihre Bachelorarbeit im Fach Soziale Arbeit zum Thema Sexarbeit. In ihrer Recherche trifft sie ebenfalls auf das Vorhaben der damaligen Bundesregierung „und habe direkt gedacht: Oh Gott, das kann doch nicht deren Ernst sein und bin sofort in den BesD eingetreten, weil ich das auch verhindern wollte.“ Mittlerweile ist sie auch in lokalen Initiativen aktiv.
Dass die Lebensrealität von Sexarbeitenden von der Politik konsequent ignoriert wird, lasse sich auch schon bei dem Prostitutionsgesetz von 2002 beobachten. Die Abschaffung der Sittenwidrigkeit der Sexarbeit ist für Lydia auf jeden Fall ein großer Schritt gewesen, aber „liberal finde ich die Gesetzgebung überhaupt nicht, denn dafür sind die Gesetze noch viel zu sehr von moralischen und auch religiösen Vorstellungen beeinflusst.“
„Zwang setzt die Schwellen viel höher und erhöht das Stigma.“
Lydia
Ich frage sie, was sie ändern würde. „Ich würde das Prostituiertenschutzgesetz und die kompletten Sperrbezirksverordnungen abschaffen – denn laut denen darf ich Sexarbeit machen, aber wenn ich das im falschen Viertel mache, dann bin ich kriminell. Bordelle werden baurechtlich in einen Topf geworfen mit Spielotheken, Schlüsseldiensten und Gold- und Pelzhandel. Das alles gilt als besonders beobachtungswürdig. Das ist widersinnig. Den Menschen, die da arbeiten und auch den Kund*innen ist viel daran gelegen, niemanden zu stören, denn die Kund*innen wollen nicht gesehen und nicht gehört werden. Und eine Registrierung wie im ProstSchG von Sexarbeiten ist total stigmatisierend und hilft nichts. Dann wäre es wichtig, dass man das als freien Beruf anerkennt, wie z. B. bei Journalist*innen. Dann hätten wir auch die Chance zur Künstler*innensozialkasse zu kommen, die viel günstiger ist als eine private oder freiwillig gesetzliche Krankenversicherung. Krankenversicherung ist ein großes Problem für Sexarbeitende.“
Lydia will in ihrem Beruf einfach behandelt werden wie der*die Bäcker*in von nebenan, wie alle anderen. En résumé: „Es sollte ausreichen, dass wir zum Finanzamt gehen, uns unsere Steuernummer abholen wie alle anderen Selbstständigen auch und unsere Einkommenssteuererklärung abgeben. Fertig.“

Ich frage Lydia nach dem Sich-auf-sexuell-übertragbare-Infektionskrankheiten-testen-lassen: „Es ist die Verantwortung von jedem einzelnen sexuell aktiven Menschen, sich zu testen. Es macht keinen Unterschied, ob diese Person ihr Geld damit verdient oder nicht. Außer dass die Menschen, die damit ihr Geld verdienen, wahrscheinlich ein noch größeres Interesse daran haben, gesund zu bleiben, weil sie sonst nämlich nicht arbeiten können. Ich nutze zwar den Vorteil, dass ich zum Gesundheitsamt gehe und mich als Sexarbeiterin kostenlos auf alle sexuell übertragbaren Infektionskrankheiten testen lassen kann. Aber das ist unfair.“
über die Debatte ums sog. „Sexkaufverbot„

Lydia findet: „Ein Sexkaufverbot verschärft nur die Probleme, die es angeblich lösen will. Zahlreiche Studien zeigen, dass die Nachfrage und damit auch die Sexarbeit durch ein Sexkaufverbot nicht weniger werden. Sie wird in diesen Ländern weniger sichtbar, weil sie eben im Verborgenen stattfinden muss. Während der Corona-Pandemie in den letzten beiden Jahren hat man einen guten Einblick darin bekommen, wie das bei uns aussehen würde. Es war zu keinem Zeitpunkt schwierig, an pay sex zu kommen. Ein kurzer Blick auf einschlägige Portale im Netz hat genügt.“
In Bezug auf die Corona-Pandemie käme hinzu, dass viele „Menschen, die ihrer eigentlichen Arbeit, z. B. in der Gastronomie, nicht mehr nachgehen konnten, dann halt Sexarbeit angeboten haben. Obwohl sie keine Ahnung hatten, was sie da alles beachten müssen. Die haben sich in Gefahr begeben. Das größte Problem beim Sexkaufverbot ist, dass sich psychische und physische Gewalt gegen Sexarbeitende verstärkt, dass das Vertrauen in Polizei und Ordnungsbehörden signifikant sinkt. Das ist wirklich krass. Also kurz: Ich halte nichts von Kund*innenkriminalisierung.“
über die Zukunft

Für Lydia läuft es persönlich gerade ganz gut. Sie wünscht sich aber, dass auch die positiven Aspekte von Sexarbeit gesehen werden. „Sexarbeit ist nicht schwarz oder weiß“, erklärt sie, „es gibt super viele Grautöne und ich wünsche mir, dass man das einfach mal sieht. Und es kann sein, dass jemand glücklicher durchs Leben geht, wenn er*sie erotische Dienstleistungen in Anspruch nimmt. Das ist doch toll.“
Außerdem wünscht sie sich eine sachlichere Debatte über Sexarbeit: „Mir ist auch wichtig, dass man nicht immer nur von Sexarbeiter*innen erwartet, dass sie – und nur sie – doch zu jeder Zeit mit voller Leidenschaft und Inbrunst ihre Arbeit machen. Das erwartet niemand von einer Servicekraft, einer Reinigungskraft und nicht einmal von einer Ärztin oder einem Arzt. Das ist immer nur bei uns so. Wir können auch mal einen miesen Tag haben. Das heißt aber nicht gleich, dass wir gezwungen werden oder uns selbst zwingen müssen oder dann traumatisiert werden. Wir haben auch ein customer service smile, das haben wir uns genauso angeeignet wie eine Servicekraft oder Flugbegleiter*innen.
Es gehört bei uns einfach zur Marketingstrategie, das wir eben auch sagen: Ahh, ich mach meinen Job total gerne und zwar immer. Ist klar, dass keine Kundschaft hören möchte, dass es mir heute scheiße geht. Die haben da keinen Bock drauf. Würde uns im Restaurant auch keinen Spaß machen oder wenn die Fußpfleger*innen kommen und sagen: Ohh, Ihre Füße finde ich ganz schrecklich, da habe ich keine Lust drauf. Aber ich mache es trotzdem, weil Sie mich bezahlen.”
Ich frage Lydia, ob ihr noch etwas auf dem Herzen liegt, was bislang nicht zur Sprache kam und sie unseren Leser*innen sagen will. Sie antwortet: „Ja, einfach dass man akzeptiert, dass Tätigkeiten für andere voll okay sein können, auch wenn man sich das für sich selbst nicht vorstellen kann.“
Und dass nicht nur mehr über Sexualität und mit Sexarbeitenden gesprochen werden soll, sondern auch mit Kund*innen, weil diese auch einem großen Stigma ausgesetzt seien, das es abzubauen gelte. Lydia vermittelt mir zwei Kontakte zu langjährigen Kunden von ihr. Ich verabrede mich mit beiden zu einem Telefonat. Mehr dazu am Sonntag, weil es mehr als ficken ist. #zwischenTürundAngel
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Text von Diana, Gestaltung von Chiara und Merve.
Diana ist Autorin der Kolumne #zwischenTürundAngel und lebt in Trier. Manchmal gestikuliert sie so stark, dass ihre Mitmenschen lieber Abstand zu ihr halten. Wenn sie gerade nicht politisch unterwegs ist, findet ihr sie bei ihrem tierischen Begleiter Max. Sie liebt heiße Schokolade, Worte und holpriges Tanzen.
Ein Gespräch zwischenTürundAngel über Worte, Politik und das Dazwischen. Schon eine spontan in den Raum geworfene Frage unserer Autorin kann zu Kopfakrobatik führen. Nach ersten Impulsen und Reaktionen fischend, fügt sich hier alles im Laufe zu einem Netz. Mit Liebe zur Weisheit, rotierenden Gedanken und vergessenen Eindrücken. Über Heidelbeerjoghurt, Schnecken und Blumentöpfe.
Chiara ist 19 Jahre alt und studiert Design in München. Zusammen mit Merve gestaltet sie die Kolumne #zwischenTürundAngel. Man trifft sie meist in einem viel zu großen Mantel und einer viel zu kleinen Tasche. Sie ist dafür bekannt, ihr Essen zu versalzen, jegliche Dinge zu sammeln und viel zu spät das Haus zu verlassen. Ansonsten zeichnet, kocht und fotografiert sie gerne.
Merve lebt in Karlsruhe und studiert an der HfG Kommunikationsdesign. Sie ratscht gerne mit vielen Menschen, genießt es aber auch sehr alleine in die Natur zu fahren oder zu töpfern. Was sie sehr liebt: Zusammen mit ihren Liebsten und einem Tee im Park Menschen zu beobachten und zu zeichnen und gemeinsam über Träume und Ängste sprechen. Bei TIERINDIR ist sie Gestalterin.
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