Triggerwarnung: Dieser Text behandelt gestörtes Essverhalten. Wenn du dich mit dieser Thematik nicht wohl fühlst, bitte ich dich, ihn nicht oder nicht alleine zu lesen.
Für die vierte Ausgabe von „Wie ist es eigentlich…?“ treffe ich mich selbst. Denn ich möchte über eine Thematik sprechen, die mich seit vielen Jahren begleitet und seit ein paar Wochen unerwartet erneut meinen Alltag dominiert. Es geht um krankmachenden Stress, die permanente Angst, nicht zu bestehen und das Gefühl hinterher zu sein. Es geht um Erdbeermarmelade, Rotbäckchen-Saft und Strudel – nur leider nicht um den zum Essen. Ich frage mich selbst: Nelly, wie ist es eigentlich, unter Leistungsdruck zu leiden?
Das Gefühl des verspäteten Wissens
Der weiße Fliesenboden meiner Anderthalbzimmerwohnung ist mit Haaren übersäht. Es ist 14:03, ich habe noch nichts gegessen, aber schon Nachrichten gehört, vierzig Seiten gelesen, drei Mails geschrieben und ein Thesenpapier abgegeben. In meiner Notizen-App gibt es gleich mehrere To-Do-Listen: Eine für die Uni, eine für den Haushalt, eine für das Schreiben, eine für anderweitigen Erwachsenenkram und eine für Sonstiges. „Sonstiges“, das ist zum Beispiel Zum Weißen See fahren oder Walnussbrot backen oder Blumen für Balkon kaufen. Ich habe seit drei Wochen keine Häkchen mehr auf dieser Liste gesetzt. Denn seitdem sitze ich wieder in Vorlesungssälen und Seminarräumen. Seitdem sitze ich wieder vor einer Problematik, von der ich bislang dachte, ich hätte mich vor zwei Jahren von ihr verabschiedet.
Ich bin als jüngstes von vier Kindern aufgewachsen. Meine Geschwister – ein Bruder, zwei Schwestern – waren zum Zeitpunkt meiner Geburt sechzehn, vierzehn und zehn Jahre alt. Die beiden Ältesten zogen aus bevor ich eingeschult wurde. Als ich lernte, wie man Buchstaben zu einem Wort zusammensetzt, las mein Bruder Arendt und Marx und während mir 12-3=? Kopfzerbrechen bereitete, beschäftigte sich meine Schwester mit Rechnungswesen. Ich glaube nicht, dass ich mich zu diesem Zeitpunkt bewusst mit meinen Geschwistern verglichen habe – ich war sieben und sie in Studienstädten, die mir unfassbar weit weg erschienen. Trotzdem wusste ich, dass meine Geschwister groß und klug sind und sie nichts von dem, was ich lerne, überraschen würde.

Ohne dass es jemand gewollt hat, wurde ich mit dem Gefühl groß, dass mein Wissen immer verspätet kommt. Mit dem Gefühl, dass die Menschen um mich herum viel weiter sind mit ihrem Leben. Ich weiß schon lange, dass es Unsinn ist, sich mit Menschen zu vergleichen, die so viele Jahre älter sind als man selbst. Sich überhaupt andauernd zu vergleichen. Doch es ist ein Automatismus geworden, der sich nur schwer anhalten lässt. Auf keinen Fall ist meine familiäre Position der Ursprung allen Übels. Die Erfahrung des vermeintlich verspäteten Wissens ist jedoch der erste für mich greifbare Moment, in dem ich der festen Überzeugung war, der Rest der Welt sei mir voraus.
Ertbermamelade
Ich war immer ausgesprochen ehrgeizig in der Schule. Sehr lebhaft erinnere ich mich an den Tag, an dem ich zum ersten Mal keine Eins im Diktat hatte, weil ich dachte, man würde Erdbeermarmelade Ertbermamelade schreiben. Ich weinte sehr bitter über diese Note und musste von meiner Klassenlehrerin getröstet werden. Die Ertbermamelade ist womöglich der erste akademische Moment, in dem ich enttäuscht von mir war. Und Angst hatte, andere würden es ebenfalls sein (sie waren es nie). Vor dem nächsten Diktat hatte ich große Angst.
Nach der vierten Klasse erhielt ich eine uneingeschränkte Gymnasialempfehlung. Eine zeitlang lief das mit mir und dem Leistungsdruck noch ganz okay. Manchmal weinte ich Zuhause, wenn eine Klausur schlechter lief als erwartet, manchmal verfiel ich in Panik, wenn ich mich nicht gut genug auf den Vokabeltest vorbereitet fühlte, aber insgesamt war ich vor allem damit beschäftigt langsam in die Pubertät zu rutschen und keine Hosenröcke von Jack Wolfskin mehr zu tragen.
Als es dann Richtung Oberstufe ging, setzte sich allerdings eine kleine, fiese Stimme in meinem Kopf fest, die mit jedem Halbjahr lauter wurde und mir einflößte: „Du musst jetzt richtig gut sein. Du musst dich jetzt beweisen.“ Die Oberstufe erschien mir wie eine Art Feuerprobe, ob ich für das akademische Leben geeignet wäre. Die Nachmittage am Schreibtisch wurden immer länger, meine Noten immer besser und ich immer gestresster. Die ersten Partys habe ich verpasst, meinen Bruder, der zu dieser Zeit in Peking lebte, nie besucht. Keine Zeit. Stattdessen las ich Faust gleich zweimal (nur zur Sicherheit) und eignete mir dermaßen viel Wissen an, dass mein Geschichtsleistungskurs-Lehrer irgendwann sagte: „Nelly, es ist schön, dass du so interessiert bist, aber du brauchst das wirklich nicht alles zu können.“

Ich geriet in einen Strudel, aus dem ich drei Jahre lang nicht mehr herauskam. Die typischen Erfahrungen, die man dem Klischee nach auf dem Weg zum Erwachsenwerden machen muss – der erste Kater, das erste Mal Sex, die erste Beziehung und so weiter und so fort – erlebte ich, jedoch meist mit dem Gedanken an die nächste noch abzugebende Hausarbeit. Die prägendsten Erfahrungen waren für mich die Angst vor der nächsten Klausurenphase, das Nicht-Schlafen-Können aus Sorge, ich sei nicht ausreichend vorbereitet, das immer intensiver werdende Lernen, die immer längeren Übersichten, das sich steigernde Gefühl von Kontrollverlust.
Das Ganze schaukelte sich so lange hoch bis ich nachts hyperventilierte und meine Mutter ihrer 17-jährigen Tochter eine Gute-Nacht-Geschichte erzählen musste. Dann begann ich vor dem Schlafengehen zwei Tabletten mit Baldrian-Extrakt zu schlucken und Mahlzeiten zu skippen, um zumindest über einen anderen Bereich die Kontrolle zu erlangen. Irgendwann fand ich mich in Gesprächen wieder, in denen mir mit sehr ernster Miene erklärt wurde, dass ich kaputtgehen würde, wenn ich so weitermache. In denen ich gefragt wurde, was denn helfen könnte – ein Jahr Auszeit, ein Schulwechsel, kein Abitur machen?
Vom Für-Sich-Selbst-Entscheiden
Ich nahm mir keine Auszeit, wechselte nicht die Schule und verzichtete nicht auf den Abschluss, von dem ich dachte, sein Erhalt würde mich endlich aus dem Strudel befreien. Stattdessen hatte ich eine richtig fiese Zeit im Frühjahr 2020 als ich für meine Abschlussprüfungen lernte, während die Covid-19-Pandemie die Welt in einen Ausnahmezustand versetzte. Ich schloss mein Abitur mit 1,0 ab. Aufgrund der Pandemie wurde es mir im Büro des Schulleiters überreicht und die Sekretärin machte ein Foto für meine Eltern. Ich wünschte, ich wäre in diesem Moment so richtig stolz auf mich gewesen, aber ich war höchstens erleichtert und schlief die nächsten Wochen bis mittags durch.
Ich zog aus meiner Heimatstadt nach Berlin. Das Zusammenspiel aus der Pandemie und dem Stress der letzten Jahre sorgte dafür, dass ich einwilligte, als mein Umfeld mir dazu riet, erstmal ein Jahr Pause zu machen. Ich arbeitete am Theater und der Oper und versuchte mich in der fremden Stadt einzuleben. Vor allem aber dachte ich darüber nach, was ich studieren werde. Eigentlich war das Rechtswissenschaft. Ich informierte mich sehr umfangreich über das Fach und den Studienaufbau und am Ende entschied ich mich dagegen. Nicht, weil es mich nicht mehr interessierte, sondern weil ich Angst davor hatte, was dieses System mit mir machen würde. Ich beschloss, mich nicht in ein Studium zu begeben, bei dem ich mir direkt mit der Immatrikulation auch eine Therapeutin nehmen müsste. Ich beschloss, dass kein Studium, kein Interesse und kein akademisches Renommee der Welt meine psychische Gesundheit wert ist.
Letztendlich fand ich per Zufall ein Studienfach, das meinen Interessen entsprach. Es heißt Europäische Ethnologie und weil ich es leid bin, zu erklären, „was man denn da so macht“ musst du leider hier klicken, falls es dich interessiert. Die Reaktionen meines Umfeld waren durchwachsen. Die positiven Kommentare vergaß ich direkt wieder, die negativen trafen mich hart. Ich hatte weiterhin enorme Angst davor, die falsche Wahl zu treffen. Meine Entscheidung für ein sogenanntes „Orchideenfach“ stand auf wackeligen Beinen. Ich wusste, ich könnte jetzt alles studieren, ich wusste, Medizin, Jura und Psychologie wären kommentarlos durchzubekommen, aber ich wusste auch, dass das jetzt der Moment ist, an dem ich mich einmal für mich selbst entscheiden muss. Und das tat ich.
Die Rückkehr des Strudels
Ich studiere inzwischen im zweiten Semester. Meine Hoffnungen an das Fach haben sich bestätigt. Wir sind ein vergleichsweise kleiner Studiengang, am Institut wird sich konsequent geduzt, die Hierachien sind flach. Nicht selten sagen Professor*innen: „Ich möchte auch von euch lernen“ und wirken, als würden sie es wirklich so meinen. Die Inhalte beschäftigen mich auch außerhalb von Lehrveranstaltungen. Ich habe das Gefühl, nicht nur akademisches Wissen zu erlangen, sondern vor allem Methoden, um dieses Wissen für Menschen außerhalb des akademischen Elfenbeinturms brauchbar zu machen. Und um ihr Wissen in den Elfenbeinturm hineinzutragen. Letzteres empfinden viele als unangenehm und genau deswegen ist es so wichtig.

Kurzum: Ich bin glücklich mit meiner Studienentscheidung. Im ersten Semester, das weitestgehend digital stattfand, hatte ich bedeutend weniger Startschwierigkeiten als angenommen und war vor allem unfassbar erleichtert, dass sich alles richtig anfühlte und ein neuer Lebensabschnitt begonnen hatte – einer ohne Strudel.
Dann startete das zweite Semester und die Humboldt-Universität kehrte zur Präsenzlehre zurück. Ich habe monatelang darauf gewartet, doch jetzt, wo es so weit ist, muss ich mir eingestehen, dass es mich enorm zurückgeworfen hat. Binnen weniger Tage war ich wieder gestresst, fing an in Frage zu stellen, ob ich wirklich das Richtige mache und die Angst, nicht zu bestehen, kehrte ohne Vorankündigung zurück. Ich kann nicht sagen, was der ausschlaggebende Punkt für diesen Rückschlag gewesen ist. Vielleicht der physische Raum, der alles wieder viel näher erscheinen lässt. Vielleicht der workload, der sich erhöht hat. Ich habe keine Ahnung.
Momentan merke ich, dass sich alte Gewohnheiten zurück in mein Leben geschlichen haben. Ich treffe seltener Freund*innen, esse nicht mehr regelmäßig, lerne wahrscheinlich mehr als die meisten meiner Kommiliton*innen und habe trotzdem das Gefühl, dass es nicht reichen wird. Der Strudel hat mich zurück.
Aber wie konnte das passieren?
Ein tiefes Fass
Wissen ist ein Fass ohne Boden. Ein sehr, sehr tiefes Fass. Ich versuche bis an den Grund des Fasses zu schwimmen, doch es gelingt mir nicht und jeder noch so kleine Auftrieb versetzt mich in Panik. Während andere sich auf der Wasseroberfläche treiben lassen und bei Interesse abtauchen, ringe ich um Luft. Und ich bin nicht allein damit. Leistungsdruck ist ein strukturelles Problem, eine Begleiterscheinung von der Art und Weise, wie unser akademisches, unser gesellschaftliches, unser kapitalistisches System funktioniert. Die Haare auf meinen Fliesen sind kein Ausdruck davon, dass ich nicht intelligent oder nicht leistungsfähig genug bin. Sie sind Ausdruck von meiner Angst, es eines Tages nicht mehr zu sein.
Auch in der Uni begleitet mich das Gefühl des verspäteten Wissens. Wie schon als Kind weiß ich ganz genau, was ich nicht weiß. Und alles, was an Wissen neu dazu kommt, wird im Moment des Erwerbs schon wieder von mir entwertet, ganz nach dem Motto Das wussten schon Menschen vor dir. Nie bin ich stolz auf mich für das, was ich gelernt habe, aber stets vorwurfsvoll bezüglich dem, was noch fehlt.

Ein anderes Problem ist der Vergleich, der zwischen Wissen angestellt wird, gerade im universitären Kontext. Je nach unserem Blick auf das Leben und unserer Position in diesem, teilen wir ein, welches Wissen brauchbar ist und welches nicht, welches viel Wert hat und welches wenig. Innerhalb meines Studiengangs stellt sich die Frage, ob das von uns erlernte Wissen relevant ist, äußerst selten. Außerhalb dieser Blase bin ich jedoch von einem Umfeld umgeben, dass mich gerne daran zweifeln lässt. Dieses Umfeld besteht größtenteils aus Menschen, die viele Bildungs- und so einige andere Privilegien genossen haben – so wie ich auch. Regelmäßig gerate ich in die Situation, in der jemand von mir eine Erklärung dafür erwartet, weshalb ich denn „sowas“ studieren würde. Diese Menschen studieren in aller Regel Fächer, die als „hart“ bezeichnet werden. Sie müssen den Wert ihres Wissens nicht verteidigen und viele von ihnen wälzen sich in der Selbstverständlichkeit, mit der sie als klug und für die Gesellschaft wertvoll erachtet werden, bevor sie auch nur den Mund aufgemacht haben.
In diesen Gesprächen verteidige ich mich meist sehr vehement. Nach ihnen wächst jedoch still meine Sorge, dass ich eines Tages mit Studienabschluss, aber ohne Job dastehen werde und diese Menschen dann mit den Achseln zucken und ein Ich habe es ja gesagt zum Besten geben. Also versuche ich alles zutun, damit es nicht soweit kommt. Ich weiß, dass das Quatsch ist. Ich weiß, dass ausgesprochen viel passieren muss, bis ich in Existenznot gerate und möchte nicht anmaßend klingen. Ich will nur sagen: Vieles ist großer Quatsch, nur verschwindet davon leider die Angst nicht.
„Lernstark“
Wenn ich aus der Vergangenheit etwas gelernt habe, dann, dass ich es nicht zulassen kann, dass der Leistungsdruck mein Leben erneut dermaßen dominiert. Daher gebe ich mir Mühe, weiterhin rauszukommen, über die Problematik zu sprechen und Foucault, Butlers, bell hooks und Co an manchen Tagen unberührt auf dem Schreibtisch liegen zu lassen. Ich versuche, Strategien zu entwickeln, um nicht noch tiefer hineinzugeraten und die Punkte auf der Liste für Sonstiges ernst zu nehmen. Ich bin froh, dass ich die Muster inzwischen erkennen und gegen sie ankämpfen kann. Trotzdem bleibt es ungeheuer anstrengend.
In Prüfungsphasen hat mein Vater mir manchmal eine Flasche Rotbäckchen-Saft gekauft, die die Aufschrift „Lernstark“ trug. Du musst nicht lernstark sein. Wirklich nicht. Ein großes Fick dich geht raus an die Leistungsgesellschaft und eine Umarmung an alle, denen ähnlich geht.
_
Falls du Hilfe brauchst, findest du sie hier:
Telefonseelsorge: 0800 1110111 oder 0800 1110222
Nummer gegen Kummer (auch Online-Beratung): 0800 1110333
Infos zu Therapiemöglichkeiten
Außerdem haben Universitäten und Hochschulen meist auch eigene Hilfsangebote!
_
Text von Nelly, Gestaltung von Celina.
Nelly ist 20 und studiert Europäische Ethnologie in Berlin. Sie hört absurd viele Podcasts, liebt das Theater, Flohmärkte und nächtliche Spaziergänge. Außerdem interessiert sie sich für den Alltag von Menschen und das Erkunden verschiedener Szenen und Kulturen.
In Wie ist es eigentlich…? werden Menschen portraitiert, die auffallen oder nicht gesehen werden, die ungewollt anecken oder sich absichtlich abgrenzen. Für mehr Sichtbarkeit von gesellschaftlicher Diversität und weniger Raum für Vorurteile.
Celina ist 21, studiert Visuelle Kommunikation in Berlin und wurde schon einige Male für eine Österreicherin gehalten, obwohl sie aus Bayern kommt. Neben ihren gestalterischen Tätigkeiten kümmert sie sich um ihr Schmucklabel, tobt sich bei Dance Workouts aus und gibt viel zu viel Geld für Sushi aus.