In einem kleinen Wechsel zwischen Vergangenheit und Gegenwart geht es im Folgenden über den Frühling, was er bedeutet, über das Schwelgen in Erinnerungen, das Festhalten an diesen und dem Wunsch endlich anzukommen.
Heute
Mit wahrscheinlich mehr Kraft als nötig, schüttelte sie den gefallenen Schnee und die Kälte von sich, sobald sie das Haus betreten hatte. Sofort umhüllte sie die Wärme des Feuers im Ofen und genervt schleuderte sie den Schal, die Mütze und die Handschuhe auf den Boden, wo kurz darauf auch ihr Mantel landete. Sie würde diese aufheben, sobald sie sich wieder aufgewärmt hatte. Immer noch zittrig stellte sie sich vor den Ofen, hielt die Finger so nah wie möglich an die Scheibe und wünschte die Wärme würde schneller auf sie übergehen.
Nein. Was sie sich eigentlich wünschte war, dass der April sich wie ein normaler Frühlingsmonat benahm und ihr statt Schnee wärmende Sonnenstrahlen schenkte.
Mehr als nur etwas nötig hatte sie nicht nur die Wärme, sondern auch das Sonnenlicht, das sich in den letzten dunklen Wintermonaten rar gemacht hatte. Sobald die ersten Anzeichen des Jahreszeitenwechsels zu erkennen waren, begann auch sie wieder aufzugehen. Plötzlich fühlten sich die Wochen zuvor an wie aus einem bösen Fiebertraum. Als sei sie nur aus einem Winterschlaf erwacht und konnte nun erkennen, dass nichts zuvor real gewesen war.
Mit jeder Schneeflocke und jeder Wolke, die sich vor die Sonne schob, kam dieser altbekannte Albtraum wieder. Sie konnte nur hoffen, dass ein Wetterumschwung nicht allzu lange auf sich warten lassen würde.
Sie konnte nur den Kopf schütteln über ihre eigene Naivität. Seit wann war das Wetter Schuld an ihren Stimmungen? An so etwas hatte sie nie geglaubt. Sie mochte jede Jahreszeit gleich, auf ihre eigene Art und Weise. Besonders die Übergänge, die Zwischentöne, die Perfektion der Natur. In diesen Zeiten fürchtete sie keinen neuen Anfang und das Abschied nehmen von etwas Altem. Vielleicht weil sie wusste, dass es wiederkehren würde?
vor zwei Jahren
„Sie sollten sich nun endlich mal entscheiden. Ich will wissen, ob ich jetzt noch weiterlernen muss, oder ob es völlig überflüssig ist.“
„Ich hoffe auch, sie sagen endlich etwas. In zwei Tagen ist die erste Prüfung.“
„Wahrscheinlich entscheidet es sich erst am Abend davor. Oder noch besser am nächsten Morgen. Wenn ich vor Aufregung schon völlig verrückt geworden bin.“
Die beiden Mädchen lachten, auch wenn es wahrscheinlich genauso ablaufen würde. Einmal pro Stunde, wenn die Worte auf dem Papier vor ihren Augen zu verschwimmen begannen, sah sie auf ihr Handy – sah nach, ob sie eine neue Mail bekommen hatte und beschwerte sich dann wieder, dass man ihnen noch immer nicht mitgeteilt hatte, ob ihre Prüfungen nun stattfinden würden. Dann entstand eine kurze Pause vom Lernen, in der sie ihr Gesicht dem Himmel statt ihren Notizen zuwandte und die Sonne auf ihrer Haut tanzen ließ.
Es war Mitte März und schon jetzt war es ungewöhnlich aber wunderbar warm und sonnig. Definitiv keine schlechte Art zu Lernen. Obwohl sie sich darüber beschwerte, dass es noch nicht sicher war, ob ihre Abschlussprüfungen überhaupt stattfanden, war es im Grunde nicht das Wichtigste. Es störte sie zu mindestens nicht ganz so sehr, wie es das sonst getan hätte. Noch vor Monaten war der Gedanke vor diesen Prüfungen schlimm genug gewesen, doch jetzt fühlte sie sich eher gelassen.
Sie saß an einem großen Gartentisch, der vollgepackt war mit Mappen und Zetteln der letzten Jahre, dazwischen versteckt standen Kekse und andere Snacks. Sie roch schon jetzt den unverkennbaren Geruch des Frühlings, der ihren Bauch vor freudiger Erwartung kribbeln ließ. Im Hintergrund lief das neue Album ihrer Lieblingsband und so konnte sie getrost noch den ganzen Tag hier sitzen, wenn es nur so bleiben würde.
Heute
Vor wenigen Wochen – als zum ersten Mal der Duft des Frühlings beim Fenster Öffnen in ihr Zimmer drang – war es ihr vorgekommen, als hätte sie sich in der Zeit zurück bewegt. Es verzauberte sie jedes Mal aufs Neue, wenn sie bemerkte wie viele Erinnerungen und starke Gefühle an einfachen Gerüchen hängen können. Gerade jetzt hatte sie das Gefühl, dass ihre Erinnerungen wichtig waren und halfen, weil es nicht viel gab, an das sie sich aus den letzten zwei Jahren erinnern wollte.
Aber nun, den zweiten Frühling in Folge, überkam sie sofort dieselbe Freude und Hoffnung wie vor zwei Jahren, wenn die Blumen das erste Mal blüten. Als wäre die Spannung und Vorfreude, wie ihr Leben sich nach dem Schulabschluss entwickeln könnte nur auf Eis gelegt worden. Und obwohl sie immer noch fürchtete auch dieses Jahr enttäuscht zu werden, konnte sie sich und ihre Gefühle nicht zurückhalten. Während sie aus dem Fenster und über den Balkon in den Garten sah, stellte sie sich vor, wie sie im Sommer wieder auf der Wiese liegen würde, nachdem sie von einem langen Uni Tag wieder nach Hause kam.
Sie malte sich aus, nun endlich die Ziele zu bereisen, die sie schon immer sehen wollte. Obwohl Frankreich nie auf ihrer Liste stand, war es jetzt nach ganz oben gerückt, weil sie so viele Videos von Blumenfeldern und Stränden in Südfrankreich gesehen hatte. Auch in diesem Moment wollte sie die gespeicherten Videos abrufen, um das letzte bisschen Kälte aus ihren Gedanken zu vertreiben.
Sie fragte sich, ob ihr echtes Leben nun endlich losgehen konnte.
vor zwei Jahren
Die Prüfungen waren nun endlich geschafft – na ja zumindest vorerst. Zum ersten Mal seit langem konnte sie durchatmen. Jetzt waren erstmal Ferien, vielleicht sogar länger als sie dachte. Noch war nicht klar, wohin diese neue Situation führen würde und obwohl es ihr hätte Angst machen müssen, was in der Welt passierte, konnte sie gerade nur auf sich selbst achten. Sie hoffte, dass das Abhalten einer Abschlussfeier noch möglich sein würde. Sie freute sich schon so lange darauf, ein überteuertes Ballkleid zu kaufen, sich für einen Abend außergewöhnlich schön zu finden und so tun zu können, als sei sie eine der Figuren aus ihren geliebten Fantasy-Romanen.
Es lagen auch noch Pläne für die Mottowoche in der Luft, die immer kreativer wurden und sie dachte darüber nach, was aus ihrem Kleiderschrank dafür zweckentfremdet werden konnte.
Welche Streiche und Spiele würden sie in ihrer letzten Woche an der Schule spielen?
Eine Woche lang die Schule auf den Kopf stellen, so wie es die letzten Jahrgänge immer gemacht hatten.
Das war das einzige woran sie gerade denken, worauf sie immer noch hoffen konnte, oder es zumindest wollte, auch wenn die Chancen, dass all das noch passieren würde, gegen Null gingen.
Sie kam sich irgendwann egoistisch vor. Es passierte so viel und sie wünschte sich eine Woche voller Streiche und Spaß, als sei es das Wichtigste auf der Welt. Vielleicht war es der falsche Zeitpunkt, aber ihre Wünsche – sollten sie real werden oder nur in ihrer Fantasie bleiben – waren ihr wichtig und es war das einzige woran sie festhalten wollte.
In diesem Moment wollte sie egoistisch sein, da nur sie davon wusste.
Heute
Nachdem der Schnee der wieder aufkommenden Frühlingswärme wich, saß sie in ihrem Garten und dachte an die Abende, die sie mit ihrer Freundin in deren Garten unter einem mit Lichterketten geschmückten Baum verbracht hatte. Im angrenzenden Feld striffen ihr Kater und die Katze der Nachbarn umher und spielten Fangen. Über ihnen wurden die Sterne sichtbar und obwohl sie kaum noch etwas auf den Seiten ihres Buches lesen konnte und die Abende noch immer kalt wurden, wollte sie auf keinen Fall schon reingehen.
Sie wünschte sich dieses Gefühl zurück.
Aber gerade sah nichts danach aus, dass dieser Wunsch in Erfüllung gehen würde.
Sie fühlte sich noch mehr allein, als vor zwei Jahren. Manchmal dachte sie, dass alle anderen ganz einfach weiter machen konnten, obwohl der Abschluss doch so eine große Schwelle war. Sie erinnerte sich an die Worte ihrer Deutschlehrerin, die überall wo sie eine Schwellensituation (etwa an Türen und Toren) erkannte, sagte, wie wichtig diese Information war und was sie darstellte: Das Verlassen von etwas Altem, Bekannten und Vertrauten, das Hinein- (oder Hinausgehen) in etwas völlig Neues und das dazwischen Stehen in der Mitte. Dieser kurze Moment, wo das Alte schon hinter einem liegt und das Neue noch nicht ganz zu greifen ist. Dieser Moment, der einem etwas Beflügelndes spenden, aber auch höllische Angst machen kann.
Genau dort sah sie sich seit zwei Jahren. Das Alte liegt schon lange zurück, es ist schneller gegangen als ihr lieb war und sie konnte sich nicht daran festhalten. Also musste sie weitergehen.
Sie war immer noch nicht angekommen.
Liegt es an mir? Habe ich nur das Gefühl weiterzugehen, obwohl ich felsenfest stehen bleibe?
vor zwei Jahren
„Weißt du schon, was du im Herbst machen wirst?“
„Noch nicht sicher.“
„Aber wohin du gehen möchtest. Das weißt du, oder?“
„Nein, ehrlich gesagt weiß ich das auch noch nicht. Ist doch aufregend oder? Ich schaue mal, wo das Leben mich hinführt.“
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Text von Laura, Gestaltung von Anna.
Laura ist 21 und studiert Germanistik und Kunstwissenschaften in Kassel. Sie schreibt schon, seit man ihr das Werkzeug dafür in der ersten Klasse in die Hand gedrückt hat. Damals wie Heute sind es fantastische Wesen und Welten, die sie am meisten interessieren und in die sie im Alltag abtaucht.
In ihrer Kolumne gedankenkarussell bespricht sie unter dem Oberthema mental health Themen wie Zwangsgedanken, Depressionen und Ängste, die nicht immer gerne ausgesprochen werden. Damit versucht sie, mehr Offenheit und einen safe space zu schaffen für alle, denen es ebenfalls schwer fällt, darüber zu reden.
Gestaltet wird Lauras Kolumne von Anna. Sie ist 25, liebt das Meer, die Musik, schwarzen Kaffee und tolle Bücher. Anna hat Kommunikationsdesign studiert und beschäftigt sich gerne mit Buchgestaltung und Fotografie.