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Zwischen den Zeilen

Im Drogeriemarkt meiner Wahl stehe ich vor einem dieser vierseitigen Kartenständer aus Metall, an denen ich schon als Kind immer fasziniert stehen bleiben musste, um alle Seiten ausführlich zu betrachten und um zu beobachten, wie die Farben der Karten beim Drehen des Metallständers verschwimmen.

Dieses Exemplar bietet ein breites Spektrum an Karten zu jeglichen Lebensereignissen. Manche davon glitzern, manche sind zum Aufklappen und manche können sogar Musik beim Aufklappen abspielen. Es ist eine bunte Mischung aus Pastellgelb, -grün, -rosa und -blau, verschnörkelten Schriftarten und diversen Motiven.

Und da ist wirklich für jeden Anlass was dabei: Die Seite des Drehständers, die ich mir gerade anschaue, bietet eine große Auswahl an Karten mit Glückwünschen zur Geburt. Überall sehe ich Störche, Regenbögen und Babysocken. Klar gibt ́s auch hier die All-Time-Klassiker mit der Aufschrift „Es ist ein Mädchen!“ mit Herzen und Blumen auf einem rosa Hintergrund – und „Es ist ein Junge!“ mit Teddybären und Elefanten auf einem blauen. Geschlechterklischees, lieben wir.

Ich drehe weiter und auf der zweiten Seite des Drehständers erwarten mich Karten zur Einschulung, zur Kommunion und zum Führerschein, gerne noch mit einem eher mittellustigen Spruch und wahlweise ein paar Luftballons dazu. Auf der nächsten Seite dann allerlei Gratulationen zu Geburtstagen jeden Alters. Egal, ob du 6, 18, 40 oder 90 wirst – hier ist für jede*n was dabei. Und außerdem, neben den ganzen Geburtstagskarten: Glückwünsche zur Hochzeit, zur silbernen und zur goldenen Hochzeit. Viele weiße Hetero-Paare und Blumensträuße.

Und dann, auf der vierten Seite des Kartenständers: Karten der Beileidsbekundung und Kondolenz. Überall Friedenstauben, Kreuze und vergängliche Pusteblumen, deren Flugsamen langsam davon schweben.

Irgendwie trifft mich das. Denn beim näheren Betrachten all dieser wirklich kitschigen Karten zu jedem Lebensereignis denke ich: Das soll es dann gewesen sein? Wir werden geboren, eingeschult, volljährig, wahlweise verheiratet, vielleicht Eltern, fünfzig, siebzig, neunzig Jahre, und das war’s? Ist das das Leben, wie es einfach unaufhaltsam geschieht, wie wir hier und da etwas feiern, das dann belanglos vergeht und wie wir dann einfach nicht mehr sind? Es trifft mich, innerhalb eines Moments von der Seite mit den Glückwünschen zur Geburt zu der Seite mit den Karten der Anteilnahme zu drehen, einfach so.
Es empört mich fast.

Auf dem Heimweg stehe ich immer noch missmutig im Nieselregen mit einigen anderen Menschen an einer roten Ampel. Manche hören gedankenverloren Musik, manche unterhalten sich fröhlich, manche schauen ungeduldig auf die Uhr und manche machen einen eher bedrückten Eindruck. Heimlich mustere ich ihre Gesichter und frage mich, wohin sie wohl gerade unterwegs sind. Plötzlich fühle ich mich seltsam besänftigt und ich merke – das Leben geht ja nicht einfach so vorbei, mittendrin und dazwischen passiert ja dann doch einiges.

Bedeutsam sind die Momente zwischen den Anlässen, zu denen du eine Karte geschenkt bekommst. Bedeutsam ist es, Neues auszuprobieren und wegweisende Entscheidungen zu treffen. Bedeutsam ist der Mut, Fehler zu machen und daraus zu lernen. Bedeutsam ist es, sich anderen anzuvertrauen, mit ihnen zu schweigen und zu lachen. Für mich ist es schon bedeutsam, mit geschlossenen Augen das Sonnenlicht im Gesicht zu spüren.
Bedeutsam ist das, was sich vielleicht nur zwischen den Zeilen dieser Karten lesen lässt.

Nora ist 21 Jahre alt, studiert Psychologie in Bremen und gewinnt häufig bei Phase 10. Sie sammelt Wörter, liebt Räuchertofu, gibt all ihren Pflanzen Namen und hat eigentlich immer eine Häkelnadel dabei.

Gestaltet wurde der Beitrag von Helena

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