Es ist Abend, noch nicht sehr spät. Gerade habe ich mein Handy weggelegt, der letzte TikTok-Song schwirrt noch in meinem Kopf herum und wird mich die nächsten Tage in den unpassendsten Situationen begleiten. Ich strecke mich so weit, bis ich vom Fußende meines Bettes den Lichtschalter erreichen kann, damit meine Füße nicht den kalten Boden berühren müssen. Noch einmal kurz das Fenster auf und wieder zu und endlich erlaubt mir mein mir selbst auferlegter Tagesablauf, in mein kuscheliges Bett zu fallen und die Augen zu schließen. „Jetzt muss ich schnell einschlafen, damit ich morgen wieder früh aufstehen kann“, ermahne ich mich und weiß im nächsten Atemzug, dass die Nacht damit für mich schon gelaufen sein könnte.
Ich denke viel, ich denke lang, ich denke lange viel nach. Und das am liebsten abends. Tagsüber bin ich, wie ich mich am liebsten mag: offen, herzlich, meistens ein Grinsen im Gesicht und dieses innere Gefühl der Freude und der Dankbarkeit. Auch mal nachdenklich, aber immer nur zeitweise und in einzelnen Situationen. Doch immer selbstbewusst genug, einen Gedanken in der Luft zu zerschneiden, wenn ich es möchte, mich zu schütteln und weiterzulaufen.

Ich mag es, wenn die Tage voll sind, wenn ich beschäftigt bin, ich mag es zu planen und Punkte abzuarbeiten. Ich liebe es, Leute zu treffen und mich ihnen mitzuteilen, ich höre gerne zu und gebe impulsiv Ratschläge, die sich mal als treffend mal als unüberlegt herausstellen. Ich habe mein Ziel vor Augen, zwar kann ich es nicht klar benennen, aber das ist nicht schlimm, ich folge einfach dieser besagten inneren Stimme, mit der ich zwar nicht sprechen kann, die mir aber signalisiert, wo es hin geht und mich immer wieder wachrüttelt und motiviert, weiterzugehen. Am Tag bin ich wach, zielstrebig und deutlich in dem was ich tue und wie ich kommuniziere. Am Abend aber, wenn ich mein Kissen aufschlage und mich seufzend auf die Seite rolle, suchend nach der richtigen Schlafposition, dann überkommen mich Gedanken. Gedanken, die nicht nach Erlaubnis fragen, sondern durch meinen Kopf kreisen, so als wäre es ihr gutes Recht. Und dann geht es los, erst schleichend, dann frech und schließlich hemmungslos.

Warum genau musste ich das so sagen, hätte ich das nicht anders formulieren können?
Wie könnte das Gespräch mit dieser Person aussehen, über diese eine Sache, die mich schon so lange beschäftigt, die ich mich aber nicht traue, auszusprechen?
Habe ich meinen morgigen Tag eigentlich schon geplant und wenn ja, was war es nochmal, was ich kochen wollte?

Ich ordne, ich plane, ich bewerte das Verhalten meines vergangenen Ichs, teils reflektierend, teils abschätzig schauend und korrigierend. Es vergehen Minuten, weitere Wechsel der Liegeposition, Fenster auf, Fenster zu, wo war ich stehen geblieben? Einmal durchatmen, schließlich ist ja doch nicht alles so wichtig. Naja, aber das eine Thema hätte ich doch schon noch wenigstens gerne geklärt. Schließlich der Blick aufs Handy, was, schon zwei Stunden später? Ein YouTube-Video wird ja wohl auch nicht den Unterschied machen. Was, sie hat sich nochmal gemeldet? Irgendwann die Erkenntnis: „Ich kann nicht einschlafen“. Und dann fühle ich mich wie eine Versagerin. Doch geht es überhaupt noch ums Einschlafen? Oder habe ich mein gesamtes bisheriges Leben versagt und muss morgen damit anfangen, es von Grund auf zu verändern?
Abends bin ich eine andere Person. Abends nehmen meine Gedanken mich ein, zuerst umarmend, dann erdrückend. Warum denke ich so viel nach? Abends fühle ich mich nicht wie ich selbst, ich komme zu Schlüssen, die ich am Tag verwerfe, mich teilweise gar nicht an sie erinnere. Manchmal aber auch, nehme ich einen Gedanken aus der Nacht mit, er ist dann wie ein Verirrter, der von mir am Tag fragend angeschaut und von allen Seiten betrachtet wird. Wo kommst du her, du Fremder? Ich kenne dich nicht, aber irgendwoher kommst du mir bekannt vor. Irgendwann merke ich, es ist einer der von mir so verabscheuten Nachtgedanken. Gar nicht schnell genug kann es mir gehen, diesen aus meinem Kopf zu verbannen und meinem Tagesplan nachzugehen. Immer weiter, immer nach Plan.
In der nächsten Nacht liege ich wieder da. Sind diese Gedanken nicht auch ein Teil von mir? Sollte ich sie nicht zulassen, zeigen sie nicht auch Bedürfnisse und Gefühle, die genauso zu mir gehören? Doch auch dieser Gedanke ist nur ein Nachtgedanke. Nachts ein schreiender, tags ein verstummter Gedanke, der nie weitergeführt werden kann, wenn ich ihn nicht als einen meiner Gedanken wahrnehme.
Bis dahin bleibt es bei mir, meinem Kopf und der mich verschlingenden Nacht. Bis dahin bleiben es nur Nachtgedanken.
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Der:die Autor:in dieser Gastgedanken möchte anonym bleiben.
Gestaltet wurde der Beitrag von Selma. Sie ist eine der Gestalter:innen bei TIERINDIR und für die Gestaltung der Kolumne #gutundir zuständig. Selma ist 22 Jahre alt, studiert Druck- und Medientechnik und arbeitet nebenbei als Grafikerin in Berlin. In ihrer Freizeit ist sie gern kreativ, liebt lange Spaziergänge und verliert sich in Büchern aus ihrem Bücherregal oder der Bibliothek.