Körper & Bewusstsein, Liebe & Triebe
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Liebe im Zwang #readyornot

Inhaltswarnung: Dieser Text behandelt das Thema Zwangsstörung und psychische Krankheiten.

Liebe wächst an Freiheit und welkt an Kontrolle und Druck. Manchmal stellen sich Ängste und Zwänge dazwischen und beschmeißen dich mit Schwarz-Weiß-Statements. Das belastet deine Beziehungen zu deinen Liebsten und dein Vertrauensverhältnis zu dir selbst. Zum Glück gibt es Wege, dagegenzusteuern.

readyornot beschäftigt sich mit Zwangsstörungen. Sie werden häufig missverstanden oder als „Putzfimmel“ abgetan, was sehr schade und hinderlich ist: Durchschnittlich werden Betroffene nämlich erst nach neun Jahren diagnostiziert. Menschen mit Zwangsstörungen leiden unter unerwünschten Zwangsgedanken und/oder unter Zwangshandlungen, die ihren Alltag zunehmend vereinnahmen und alle möglichen Themenfelder umkreisen können. Effektiv behandelt werden Zwänge mit kognitiver Verhaltenstherapie und Konfrontation mit Reaktionsmanagement, oft in Kombination mit einem Antidepressivum.

es weiß sowieso niemand, was liebe ist

Neben den roten Plastiktüten, die wie hübsche Rosen im Busch stecken, sprießen Schneeglöckchen. Im Bett nebenan, in Paris, liegt eine müde Person auf einem Metallbett. In ihrer Gegenwart kann man sich nicht unwohl fühlen. Der Dornensturm des Wochenendes ist einer Neugier gewichen: Ich liebe so viele Menschen, aber manchmal vergesse ich das.

Ich befinde mich in einem bestimmten soziokulturellen Umfeld, zwischen Kunststudierenden und Kunstinteressierten. Jede zweite Person lebt hier in einer offenen Beziehung. Ist Monogamie eine alte Farce, eine staubige, lästige Vase im obersten Regal? Wenn sie zerklirrt, warten dann sieben Jahre Pech oder die große Freiheit? Ich vermute, in jeder zwischenmenschlichen Beziehung lassen sich Momente der Freiheit erhaschen. 

Vielleicht damals, als mir Tränen über die Wangen strömten und nicht versiegten, weil ich so sehr verliebt war in mein Gegenüber; und ich noch nicht wusste, dass die erste Liebe aus einem Grund so heißt; oder als ihre Lippen so weich waren und ihre Haare wie meine. Oder als ich die Geschichte über den Pflaumenbaum und die nihilistischen Kinder las. Oder als ich mich nicht mehr halten konnte, weil du mit dieser komischen Stimme gekrächzt hast, draußen auf der Straße vor unserer Wohnung. Oder als dein Fell voller Tränen war, oder als du über die Wiese ranntest und nicht wusstest, dass du in einer Woche gehen würdest müssen. Oder als du von der Puppe sprachst, die mir so ähnlich sieht. Als du mir sagtest, du seist stolz auf mich. Als du an mich dachtest und ich an dich. 

und wenn dann noch zwänge ins spiel kommen

Vor ein paar Jahren tippte ich I think I could love anybody in mein Handy. Und es war so, damals schon und heute noch. Heute weiß ich das, mit sechzehn war ich weit von dieser Einstellung entfernt. 

Ich stand in der Faschingsdisco der Tiefgarage meiner Kleinstadt und rannte alle paar Minuten „aufs Klo“, um die Interaktionen der letzten Sekunden sorgfältig niederzuschreiben. Dabei handelte es sich um eine klassische Zwangshandlung, ein nötiger Akt der Selbstversicherung, auf englisch reassurance. Ich hatte verlernt, mir zu vertrauen und schrieb darum jede Konversation möglichst genau auf, um moralische Grauzonen und Unzüchtiges aus meinem Mund auszuschließen. Sobald ein männliches Geschöpf mit mir sprach, trat ich nervös von einem Fuß auf den anderen und hackte dann später auf meine Tastatur, bevor die Erinnerung zerfloss. Abends lag ich dann trotzdem im Bett, überzeugt davon, meinen Freund betrogen zu haben. Was, wenn ich mich nur nicht daran erinnere?

Am schlimmsten waren die Gedanken, wenn ich getrunken hatte. Vor Alkohol habe ich immer noch Angst, eigentlich vor allem, das mein Erinnerungsvermögen in irgendeiner Art und Weise beeinflussen könnte. Darum vermeide ich manchmal Dinge, die mir Angst machen. Dieses Vermeiden ist eine typische Zwangshandlung. Zwangshandlungen sind alle Dinge, die du außerhalb oder innerhalb deines Kopfes tust, um Zwangsgedanken und damit verbundene unangenehme Gefühle loszuwerden oder zu neutralisieren.

Diese compulsions, Zwangshandlungen, sind das Äquivalent davon, sich den Mund mit Seife auszuwaschen oder den Kopf gegen die Wand zu knallen. Zusammengefasst: Du bestrafst dich dafür, dass du ein Mensch bist. Eines der Hauptziele der Verhaltenstherapie ist darum bei Betroffenen, Zwangshandlungen nach und nach sein zu lassen.

Im Französischen wird die Zwangsstörung umgangssprachlich auch als maladie du doute bezeichnet, als Krankheit des Zweifelns. Jenny Yip, Psychologin und Mitglied der International OCD Foundation, fasst zusammen: „OCD thrives on doubt, and it demands black-and-white certainty. The problem is that having complete certainty on anything in our world is not realistic“. Das gilt auch und insbesondere für Partnerschaften. Es ist total normal, nicht 24/7 Amors Pfeil im Hintern stecken zu haben oder andere Personen interessant zu finden. Wenn du aber einen großen Drang nach Kontrolle hast, wird der auch früher oder später in jeder noch so schönen Beziehung auftauchen.

Ich persönlich hatte meine Partnerschaften immer separat von meinen Zwängen gesehen – reines Wunschdenken. Es hatte nie eine klare Trennung existiert. Mich verlangte es immer nach mehr Sicherheit, mehr Gefühl, mehr Echtheit.

2016, 10. Klasse, erster Freund. Jeden Monat wiederholte sich der Kreislauf: Dain, was, wenn ich doch schwanger bin? Dann aß ich nichts mehr. Stattdessen fütterten wir gemeinsam den Frosch in meinem Hals. Nach der Uhr gestellt wogte die Panik über mich, und in Dains Armen ging mein Hecheln langsam in ein tiefes Schluchzen über. Irgendwann wankte ich zum Bad, und der rote Streifen war da. Ich war wieder ich selbst: Entschuldigte mich, beteuerte, es würde nie wieder so weit kommen. Anschließend stürzte ich mich auf die lauwarmen country potatoes und sah Dain beim Zocken zu.

nennt man es manchmal relationship ocd

Irgendwann betrafen meine Zwangsgedanken nicht mehr nur eine mögliche Schwangerschaft, sondern stellten mir metaphysischere Fragen: Ich zweifelte die Gefühle zu meinem Freund an. „Was, wenn du nur so tust, als würdest du ihn lieben?“, plapperte mein Hirn eines Tages und mich traf der Blitz. Von nun an verbrachte ich jede freie Minute damit, diese unlösbare Frage wiederzukäuen. Das waren klassische Zwangsgedanken: Beziehungsobsessionen im Rahmen von ROCD.

ROCD ist eine Unterkategorisierung der möglichen Themenfelder, um die sich ein Zwang kreisen kann. Die Kategorisierung dient lediglich dazu, eigene Symptome wiederzuerkennen und hat keinen weiteren diagnostischen Mehrwert. Begrifflichkeiten wie HOCD (Harm OCD) oder ROCD sind keine eigenen Diagnosen – der Inhalt der Zwangsbefürchtungen ist austauschbar und  irrelevant. Dennoch kann ein Name für das, was in deinem Kopf passiert, hilfreich und beruhigend sein.

ROCD steht in diesem Fall für relationship obsessive compulsive disorder, also für eine Zwangserkrankung, die sich hauptsächlich mit realen oder befürchteten Beziehungsproblemen beschäftigt. Häufig vorkommende Zwangsgedanken sind: 

Was, wenn ich meine*n Partner*in nicht mehr/nicht genug liebe?

Was, wenn mein*e Partner*in mich nicht mehr/nicht genug liebt?

Was ist, wenn mein*e Partner*in mich betrügt (und umgekehrt)?

Was, wenn wir nicht die Richtigen füreinander sind? 

Was, wenn ich meine*n Partner*in nicht attraktiv finde (und umgekehrt)?

Natürlich können sich die Gedanken auch mit anderen Ängsten überschneiden, wie der, jemanden verletzen zu wollen. Was, wenn ich meinen Partner verletzen möchte? Was, wenn ich „die Kontrolle verliere“ und sie niederschlage? Oder existentielleren Fragen: Was, wenn das hier alles sinnlos ist? Was, wenn ich nur seine oder ihre Zeit verschwende? Dies ist keine erschöpfbare Liste. Du kannst jede erdenkliche Angst der Welt in deinem Kopf zu einer starken Pflanze heranziehen. Und ein anderer Mensch, besonders einer, der dich liebt, eignet sich sehr gut zum Bewässern.

Einen leidenden Menschen beruhigen zu wollen ist eine normale und menschliche Reaktion. Im Falle von Zwangserkrankten sind solcherlei Bemühungen jedoch kontraproduktiv. Damit entsteht nur eine weitere Abhängigkeit, der Zwang erhält frisch gedüngten Nährboden und die Krankheit schleicht sich weiter in eure Liebe ein. Wichtig ist es also, falls du in einer Beziehung mit einer zwangsgestörten Person bist, sie manchmal sanft, aber bestimmt zurückzuweisen, ihr keine Antworten auf die ewig gleichen Fragen zu liefern und nicht zu ihrer einzigen Bezugsperson zu werden. Bestimmte Dinge gehören in die Therapie, nicht in eure Gespräche. Und auch du musst für dich selbst sorgen: Pass auf dich auf und zieh dich zurück, wenn es nicht mehr geht.

warum macht mir das überhaupt angst

Lieben und Begehren ist menschlich. Das Gehirn spuckt täglich über sechstausend Gedanken aus, die meisten davon irrelevant, amüsant oder reines Katastrophendenken. Das Problem sind niemals die Gedanken oder Gefühle an sich, sondern deine panische Reaktion darauf. Häufig haben Personen mit Zwangsgedanken ein überhöhtes Moral- und Pflichtbewusstsein, sehen sich in der Verantwortung, rein und korrekt zu bleiben. Hinzu kommen angelernte, hohe Standards, vielleicht: Ich darf nur meinen Partner begehren. Manche Gedanken sind böse/verboten/blasphemisch. Ich darf meinem Partner gegenüber nur Liebe empfinden. Ich muss mir hundertprozentig sicher sein, bevor ich eine Beziehung eingehe.

Außerdem zehren die Zwänge in erster Linie von trügerischem Schwarz-Weiß-Denken: Wenn ich mich plötzlich nicht mehr so verliebt fühle, heißt das, ich muss mich sofort trennen, weil ich sonst ein schlechter Partner bin. Wenn ich plötzlich Angst bekomme, ich könnte meinem Partner wehtun wollen, sollte ich mich aus dem Staub machen und nie wieder zurückkehren. Wenn ich Alkohol trinke und mir das die Erinnerungen zermatscht, schlafe ich sicherlich mit einer anderen Person und vergesse es wieder. In mir schlummert das Böse. Ich bin das Böse. Ich muss mich kontrollieren, denn mir kann man nicht vertrauen. Ich kann mir selbst nicht vertrauen. 

Alles Dinge, die du zu anderen Menschen wahrscheinlich niemals sagen würdest. Hinter solchen Schuldgefühlen liegen meist tiefsitzende Glaubenssätze. Im Zuge einer guten Therapie kannst du langsam hinter diese Mauern blicken, und meistens liegt da ganz viel Angst. Wie verschieden Zwänge an der Oberfläche auch wirken mögen, zugrunde liegt zu 99% eine von wenigen Kernängsten: Angst, nicht geliebt/verstoßen zu werden, Angst, nie wieder normal zu sein, Angst vor dem Tod etc.

Wie du es dreht und wendest, es geht um die Angst vor einem spezifischen, für dich persönlich als unerträglich empfundenem Gefühl. Hier gibt es viel zu lernen: Einen sanfteren Umgang mit dir selbst, die Akzeptanz eines breiten Gefühlsspektrums, und den Willen zur bedingunglosen Selbstakzeptanz.

Und klar, es stimmt: Psychische Probleme ziehen meistens wie Tornados über deine Hirnareale und hinterlassen Chaos und Zerstörung. Du kannst die Infrastruktur nicht wieder aufbauen, indem du wütend herumstampfst und leise vor dich hinmurmelst. Du darfst wütend sein, trauern über die Ruinen einer Stadt, die du nicht wiedererkennst. Aber die alte Stadt bekommst du nie wieder zurück.

Doch vielleicht glitzern die Scherben in der Sonne, und du findest den Mut, ein paar verbliebene Bewohner zusammenzutrommeln und sie um Hilfe zu bitten. Und gemeinsam könnt ihr die Stücke neu zusammensetzen. Und du wirst staunen über dein neues Zuhause, und darüber, wie viel Platz in deinem Herzen ist. 

und dem determinismus wollte ich partout nicht glauben

Seit dem Ethikunterricht in der zehnten Klasse weiß ich, was ich auf keinen Fall sein möchte: egoistisch. Aber damals schon ließen sich altruistische Motive dekonstruieren und auf eine einfache Formel herunterbrechen: Was gut für andere ist, ist im Endeffekt auch gut für mich. Und nur darum tun Menschen etwas für andere. Ich weigerte mich strikt, Liebe als ein chemisch in Strukturformeln aufführbares Phänomen zu akzeptieren, als eine biologische Notwendigkeit. Bei Dain, meinem ersten Freund, wandte ich mich erbittert gegen den Determinismus und die stumpfe Mathematik seiner Welt, und merkte, dass ich mir meine Seelenverwandschaftsutopie selbst nicht mehr glaubte. Ich war zwar nicht getauft, aber glaubte trotzdem an Erlösung. Er hatte mich ausgewählt, er sollte seine Wahl nicht bereuen.

Vielleicht löste das meine neue Angst aus. Immer, wenn er mit etwas beschäftigt war, starrte ich ihn von der Seite an und dachte angestrengt nach. Fand ich sein Profil etwa unattraktiv? Störte mich der Bartansatz? Wolke sieben war längst verflogen, in mir kratzte eine Lanze hin und her. Die feingliedrigen Finger waren Schweinepfoten, Chipsflecken und dreckige Nägel. Mit jeder Umarmung hasste ich mich selbst ein bisschen mehr. Mittags schlief ich in der Sonne neben ihm, um der Panik zu entkommen. Noch im Halbschlaf fiel mir alles wieder ein. Mir war so schlecht vor Angst, dass ich mich beinahe übergeben hätte.

(Ich begann, ihm von den Gedanken zu erzählen. Natürlich verletzte ich ihn damit. Er versuchte, mich zu beruhigen, aber den Durst einer brennenden Frage vermag kein Mensch zu löschen.)

Als der Schnee dann schmolz meinte ich, meine animalischen Instinkte wieder zu spüren. Jeder Kuss schmeckte nach einem Neuanfang. Ich wollte seine Lippen durchbeißen.

Mit meinen Geliebten gehe ich gerne baden, dort sind außer uns beiden noch Edward und Bella, Erwartungen an meine Weiblichkeit, Zwänge, Unsicherheiten, Ängste und ein binäres Geschlechtsmodell zu Gast. Ich versuche, ihnen meine angeknackste Psyche überzustülpen und füttere sie mit Badeschaum. >Lass das.< Sie stoßen mich ärgerlich von sich weg. Ich staune darüber, wie schnell das Wasser kalt wird. 

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Ressourcen:

Suche nach Therapeut*innen                         

Telefonseelsorge: 0800 1110111

Nummer gegen Kummer (auch Online-Beratung): 0800 1110333

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Hilfreiche Videos auf Englisch: https://www.youtube.com/c/everybodyhasabrain und https://www.youtube.com/c/OCDRecovery      

Deutsche Ressourcen: OCD Land (auch auf Instagram)                                      

Die Suche nach einer Therapie ist oft anstrengend und langwierig. Nicht aufgeben! Oft findest du auf der Website deiner Uni eine Mailadresse, an die du dich wenden kannst. Du bekommst dann einen Termin zu einem Erstgespräch. Ansonsten sprich mit deiner*deinem Hausärzt*in. Alternativ kannst du auch eigenständig im Internet recherchieren und bei dir sympathischen Praxen anrufen und nach freien Plätzen fragen.

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Der Text und die Gestaltung sind von Ronja.

Ronja ist 22, studiert Freie Kunst und fasst gerne Dinge in Worte. Ihre Kolumne illustriert sie selbst. Gedichte mag sie sowieso, und Menschen portraitieren auch: In Tusche und in Bleistift. 

In ihrer Kolumne readyornot erzählt sie von Zwangsstörungen und vom absurden Leben.

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