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In Erwartungen gepresst #gedankenkarussell

Erwartungen können von einem selbst kommen, oder aus der Umgebung, manchmal sogar unbewusst. Wie möchte ich leben? Welche Entscheidungen treffe ich, weil ich sie so möchte? In diesem Text geht es darum, wie bestimmte Erwartungshaltungen Druck ausüben und wie es ist, sich selbst zu finden.

12. November

Eine meiner größten Ängste ist, dass ich nicht genug Zeit habe für all die Dinge, die ich gerne tun würde. Da sind so einige Interessen, denen ich gerne nachgehen würde. Ich möchte herausfinden, ob sie mich wirklich interessieren, oder ob ich nur das Gefühl habe, ich müsste mich dafür interessieren, um in ein bestimmtes Bild zu passen – aber mir fehlt die Zeit, und die Kraft. 

Ich habe nie so sehr über das alles nachgedacht wie zur Zeit. Und ich habe das Gefühl, in diesem Jahr außerhalb des Lebens zu stehen und darauf zu blicken, als wäre ich kein Teil davon. 

Und ich weiß nicht, wie ich damit umgehen kann, oder was ich tun soll, damit es aufhört. 

23. November

Ich denke, ich müsste mehr tun. Ich sollte mehr lernen. Ich sollte mir Zeit freimachen, in der ich meine Hobbys verfolge. So wie es andere tun. Ich sollte einfach mehr tun. Um die beste Version meiner selbst zu werden. Aber wenn ich an diese Version denke, sehe ich nicht mich selbst. Ich sehe die Gesichter anderer, sehe durch ihre Augen, wie sie mich wahrnehmen. 

24. November

Ich denke auch, dass ich gar nichts im Leben richtig weiß und dass jeder es besser macht als ich. Ich vergleiche mich zu sehr mit anderen. 

29. Januar

Ich dachte immer, wenn ich eines von den Coming-of-Age Filmen wie High-School-Musical gelernt habe, dann, dass „anders“ sein im Sinne des Ich-Selbst-Seins etwas Gutes war. Jedes Mal habe ich Protagonist*innen dabei beobachtet, wie sie ihrem Außenseiterdasein, bestimmt durch die hierarchische Ordnung der portraitierten amerikanischen Highschools, versuchten zu entkommen und in die Masse zu blenden und auf diesem Weg sich selbst fremd werden, um am Ende zu sich zurück zu finden und gleichzeitig ihren eigenen Wert zu erkennen.

Auf eine sehr überspitzte und lustige, teils emotionale Art habe ich jede dieser Geschichten verfolgt und so das Gefühl entwickelt, mich selbst nie ändern zu müssen. Und ich habe es immer wieder hinterfragt, weil es doch von Anfang an vorhersehbar  war, wo ihre Wege hingehen. Irgendwann habe ich bei jedem „Ich möchte wie alle anderen sein“ die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen. Jetzt sehe ich mein jüngeres ich, wie es, wenn es könnte, mich in einem dieser Filme sieht und genau das gleiche tut. Mein Gegenwarts-Ich verändert vielleicht nicht ihr ganzes Aussehen und ihre Eigenschaften, aber es schaut mehr auf andere, statt auf sich selbst. Es vergleicht und stellt sich selbst auf diese „Außenseiter-Stufe“, die es nicht gibt. 

Ein paar Wochen später

Das Semester – oder zu mindestens die Veranstaltungen – haben gerade geendet, es ist der zweite freie Tag und in langsamen Wellen schwappt die Erschöpfung über mich her. Es lässt sich jetzt mit einem ganz anderen Blick auf diese Gedanken schauen, die so gut in einem Tagebuch hätten stehen können, aber das tun sie nie. Ich möchte sie nicht aufschreiben und ihnen damit mehr Raum geben, als sie in meinem Kopf schon haben. Es gibt einiges, was ich meinem vergangenen Ich nun gerne sagen würde. Besonders die Dinge, die ich gelernt habe und mit meinem jüngeren Ich teilen möchte. 

In den letzten Wochen fiel es mir immer schwerer, mich tagtäglich neu zu motivieren. Vor der Winterpause hatte ich mir einen genauen Tagesrhythmus aufgebaut. Morgens früh aufstehen, sodass Zeit war, in Ruhe wach zu werden. Noch bevor die Sonne aufging saß ich mit einem Buch und noch im Schlafanzug auf dem Sofa und genoss diese Zeite des Stillstandes.

Danach ging es an die Uni-Kurse oder -Aufgaben. An mindestens zwei Tagen in der Woche machte ich Sport, denn ich hatte durch eine Freundin von „dance workouts“ gehört, mit denen man zu verschiedenster Musik eine Workout-Choreographie nachmachen kann – und das machte doch viel mehr Spaß als die herkömmlichen Kraftübungen. 

Doch mit den Weihnachtsferien verfiel dieser Plan plötzlich. Ich wachte morgens wieder müde auf, schlief daher länger und quälte mich dann aus dem Bett, um das Notwendigste zu tun – doch selbst das fiel mir schwer. Ich sagte mir immer wieder, dass es okay war. Dann war eben wieder eine schlechtere Phase, aber eben nur eine Phase, was bedeutet, dass sie vorübergehen würde.

Statt jedoch sanft und geduldig mit mir zu sein, verlangte ich sehr viel mehr von mir. Mehr Leistung, mehr Aktivität in meiner Freizeit. Immer wieder schwebt der Satz „Das ist die beste Zeit deines Lebens, nutze sie“ wie eine tickende Uhr über meinem Kopf.

Ich sollte vielleicht ein Auslandssemester machen, dann sehe ich die Welt. 

Vielleicht jedes Woche feiern gehen, damit ich etwas erlebe? 

Erfolge einholen, Ergebnisse erzielen, Projekte, die mir am Herzen liegen, verfolgen. 

Es sind alles Dinge, die ich an erster Stelle nicht wollte, sondern das Gefühl hatte, sie tun zu müssen. Meilensteine erzielen und erreichen, um sie auf der großen Checkliste des Lebens abzuhaken. Besonders in Bezug auf meine Arbeit mit der Uni und der bei meinem Nebenjob bekam ich immer mehr das Gefühl, nicht genug zu tun.

Der Blick in die Zukunft

Jeden Tag sehe ich, wie meine Mutter das Haus sehr früh zur Arbeit verlässt, obwohl ich sie eigentlich gar nicht wirklich sehe. Sie ist einfach schon nicht mehr da, wenn ich aufstehe. Und wenn sie spät nachmittags wiederkommt, ist sie erschöpft, ausgelaugt. Ich sehe, wie ihr kaum Zeit für die Dinge bleibt, die sie gerne tun würde. Wenn ich sie darauf anspreche, sagte sie nur, dass sei eben so und das werde ich früher oder später auch merken, wenn ich erstmal anfange zu arbeiten. Denn so würde meine Zukunft aussehen: von einem Tag zum nächsten hangelnd, darauf hinblickend wann der nächste markierte Urlaub im Kalender auftaucht.

Ich sollte am besten gleich oben in der Arbeitswelt ansetzen, denn es würde nicht rosiger werden, Rente bekäme ich sowieso schon nicht mehr, also sollte ich gleich für ein gutes Einkommen sorgen. In einem Job, den ich die nächsten vier Jahrzehnte – oder länger – ausüben musste. Die altbewährte Phrasen „Leben um zu arbeiten“ und „Arbeiten um zu leben“ verschwimmen während dieser Gespräche, der Wunsch nach Letzterem schlägt am Pflichtbewusstsein – und war es nicht gerade diese Anstrengung meiner Ma, die mir alles was ich tat ermöglichte? – an und geht unter.

Und natürlich kam mir bei dem Bild keine Freude auf meine Zukunft auf. Ganz im Gegenteil, sie machte mir Angst. Arbeitete ich gerade dafür so hart in meinem Studium; um dann nur noch härter zu arbeiten? 

Arbeitete ich nicht jetzt schon so viel?

Ich sah mich abends nach meinen Aufgaben dort sitzen, eigentlich fertig, doch ich zählte jede Stunde, in der ich tätig war – wirklich etwas getan hatte und nicht abgelenkt war – und prüfte, ob es genug war. Und natürlich sah ich das nicht immer so. Dann jedoch hatte ich jeden Abend das Gefühl, nicht genug getan zu haben und aus „Ich mache nicht genug“ wurde ganz schnell „Ich bin nicht genug“.

Vor ein paar Wochen erschien der Film Encanto und als großer Disney-Fan musste ich den Film natürlich unbedingt sehen. Ohne zu wissen, wovon der Film handelt, hatte ich keine Erwartungen. In der Filmbeschreibung bei Disney+ wird nur in kurzen Sätzen von der Familie Madrigal erzählt und Magie versprochen, die von der Protagonistin Mirabel gerettet werden soll. Es ist ein wunderschöner Film über die Familie, der nicht nur zeigt wie harmonisch und kräftigend familiäre Bindungen sein können. Er zeigt auch, wie Haltungen und Erwartungen von Generation zu Generation ohne Rücksicht auf deren eigenen Wünsche weitergegeben werden, wodurch enormer Druck auf Heranwachsende, sowie auch bereits Erwachsene ausgeführt wird. Und wie dies am Ende zu einer zerbrechlichen Familienharmonie führt. 

In einem der Film-Lieder („Surface Pressure“) singt die ältere Schwester von Mirabel davon, wie es ist, die ältere Schwester in einer Familie zu sein und welche Lasten sie für die Familie tragen muss. Als ich den Film das erste Mal sah, hatte das Lied mich mehr berührt, als die anderen und ich konnte nicht genau sagen, warum.

„Give it to your sister, your sister’s older

Give her all the heavy things we can’t shoulder

Ich war die Älteste der Familie, das stimmt, aber ich hatte nicht das Gefühl, man würde von mir mehr erwarten oder gar irgendetwas bestimmtes. Ganz im Gegenteil, ich war schon immer frei in meinen Entscheidungen und jeder steht bedingungslos hinter mir und unterstützt mich.

Trotzdem ging mir der Text tagelang nicht aus dem Kopf, bis ich begriff, dass es nicht nur um das ging, was die Familie für meine Zukunft erwartete, sondern um so vieles mehr. 

„Give it to your sister, it doesn’t hurt

And see if she can handle every family burden

Watch as she buckles and bends but never breaks

Das Lied spricht nicht nur die ältesten Kinder der Familie an, es kann jeden betreffen. Manchmal die, die das Gefühl haben schnell erwachsen werden zu müssen. Deren Eltern mit ihnen über Probleme sprechen, über die kein Kind nachdenken sollte. Denn sie sind keine gleichaltrigen Freunde, keine Ersatzpartner und vor allem keine Psychologen. Oft betrifft es natürlich die Älteren, denn die Last auf die noch Jüngeren zu legen erscheint zu viel.

„Give it to your sister and never wonder

If the same pressure would’ve pulled you under

Who am I if I don’t have what it takes?

Vor allem diese Frage habe ich mir oft gestellt. Was wenn ich nicht so hart arbeiten kann, wie meine Ma? Wenn ich nicht alles weiß und in allem sicher bin. Dann bin ich wohl ganz normal. Nicht schlechter, nicht weniger. 

“Wie möchtest du leben?”

Dies war eine Frage, die mir daraufhin gestellt wurde und sie war so simpel und gleichzeitig schwerwiegend, dass ich mich wirklich in einen dieser Teenie-Filme versetzt gefühlt hatte. Nun war ich die Protagonistin, die ich sonst vom Bildschirm aus beobachtet hatte und von der ich genau wusste, wie sie sich entscheiden würde, weshalb mir diese Frage immer sinnlos vorkam. Etwas, das man einfach wüsste. Und das ich vor allem jetzt mit 21 Jahren wissen sollte. 

Nein. 

Muss ich nicht. 

Ich muss auch nicht mehr tun. 

Ich muss nicht alles wissen. 

Ich muss nicht alles gesehen haben. 

Ich muss nicht auch nicht dieses oder jenes getan haben, um sagen zu können, ich habe mein Leben richtig gelebt. 

Ich muss nicht acht oder zwölf Stunden täglich arbeiten, wenn mir mein Job viel bedeutet. Nur weil ich weniger Zeit investiere, ist mir etwas nicht weniger wichtig. Es bedeutet nur, dass ich alles gebe, was ich geben kann, damit es gut wird. Jetzt fühle ich mich beinahe wie die älteren und weiseren Menschen in solchen Filmen, die kurz vor dem turning point mit dem Finger auf die Brust der Protagonist*innen zeigen und sagen: „Höre auf dein Herz“.

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Text von Laura, Gestaltung von Anna.

Laura ist 21 und studiert Germanistik und Kunstwissenschaften in Kassel. Sie schreibt schon, seit man ihr das Werkzeug dafür in der ersten Klasse in die Hand gedrückt hat. Damals wie Heute sind es fantastische Wesen und Welten, die sie am meisten interessieren und in die sie im Alltag abtaucht. 

In ihrer Kolumne gedankenkarussell bespricht sie unter dem Oberthema mental health Themen wie Zwangsgedanken, Depressionen und Ängste, die nicht immer gerne ausgesprochen werden. Damit versucht sie, mehr Offenheit und einen safe space zu schaffen für alle, denen es ebenfalls schwer fällt, darüber zu reden.

Gestaltet wird Lauras Kolumne von Anna. Sie ist 24, liebt das Meer, die Musik, schwarzen Kaffee und tolle Bücher. Wenn sie nicht irgendwo in Italien mit ihren Freund*innen am Aperitivi schlürfen ist, beschäftigt sie sich gerne mit Buchgestaltung und Fotografie. Bei TIERINDIR ist sie für die Gestaltung zuständig.

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