Triggerwarnung: In diesem Text geht es um das Thema Winterdepression. Wenn es Dir damit nicht gut geht, lies den Text vielleicht lieber nicht oder nur gemeinsam mit einer vertrauten Person. Wenn Du selbst betroffen bist oder eine betroffene Person kennst, findest Du hier Hilfe.
Dunkelheit, Kälte und schlechtes Wetter – der Winter macht es uns nicht leicht. Aber was ist, wenn die dunklen Wolken nicht am Himmel sondern direkt über dem eigenen Kopf hängen und wir das Gefühl haben, davon erdrückt zu werden?
Die Tage sind kurz und dunkel, der Himmel grau und bewölkt. Morgens aufzustehen fällt noch schwerer als sonst, Motivation für die alltäglichen to dos zu finden, ist fast unmöglich. Vielleicht kennst Du das. Das Gefühl von ständiger Müdigkeit und einer Stimmung, die dem schlechten Wetter draußen Konkurrenz macht. Gefühle, die scheinbar wie von selbst jeden Winter wieder kommen und bleiben – bis der Frühling an die Tür klopft.
Je länger diese schlechte Stimmung anhält, desto größer werden die Sorgen. Was ist nur los mit mir? Was, wenn das so bleibt? Was, wenn das mein ganzes Leben durcheinander bringt? Einmal Google benutzt und schon scheint die Diagnose klar: Diese andauernden Wolken über dem eigenen Himmel brauen sich zu einer Winterdepression zusammen. Eine Depression also. Aber was bedeutet das eigentlich? Und heißt das wirklich, dass dieses getrübte Gefühl in mir bei den ersten Sonnenstrahlen im Frühling wieder aufklart?
Winterschlaf
Um das zu klären, muss man erstmal herausfinden, was eine Depression überhaupt ist. So einfach, wie Google denkt, ist das Ganze nämlich nicht. Im Gegenteil. Viel zu oft wird das Wort „Depression“ umgangssprachlich falsch verwendet – und das ist irreführend.
Aus medizinischer Sicht ist eine Depression eine ernstzunehmende Erkrankung, die Denken, Fühlen und Handeln beeinträchtigen kann. Sie hat feste Kriterien, die im ICD-11, einem internationalen Klassifikationssystem für Krankheiten und gesundheitliche Probleme, festgelegt sind. Ziel der World Health Organisation, kurz WHO, ist es damit, medizinische Diagnosen vereinheitlicht zu definieren und individuelle Krankheiten klarer voneinander abgrenzen zu können. Unter der Diagnose Depression werden hier beispielsweise Symptome wie Verlust von Interessen, Schlafstörungen oder ein vermindertes Selbstwertgefühl – über einen längeren Zeitraum – aufgezählt. Eine Winterdepression wird wiederum definiert als eine saisonal auftretende Form der Depression, die immer zur selben Jahreszeit – eben im Herbst und/oder Winter – wiederkommt. Man nennt sie deswegen auch eine „seasonal affective disorder“ oder zu Deutsch „saisonal abhängige Depression“ – kurz SAD.
Im Herbst und Winter verlieren nicht nur Bäume ihre Blätter, auch wo einst in Sommerfarben leuchtenden Blumenwiesen blühten, weilt jetzt graue Tristesse – die Natur geht in den Winterschlaf. Und sowie sich die Natur um uns herum in der dunklen Jahreshälfte wandelt, können sich auch die Symptome einer Winterdepression verändern und vergleichsweise atypisch erscheinen.

Ein Nebel aus Fragen
Ein kurzer Einschub an dieser Stelle: Was durch gesellschaftliche Stereotypisierung und Normung als typische und atypische Krankheitssymptome einer Depression angesehen werden, wäre noch einmal ein ganz anderes Thema. Behaltet also bitte im Hinterkopf: Psychische Erkrankungen und deren Symptome können vielseitig und individuell sein – sie verdienen es, ernst genommen zu werden!
Zurück zu den also vergleichsweise „atypischen“ Symptomen einer Winterdepression. Heißhunger statt Appetitlosigkeit oder vermehrten Schlafdrang statt Ein- und Durchschlafstörungen sind nur einzelne Beispiele, wie unser Körper auf all die angespülten Gefühle im Meer aus grauen Wellen reagieren kann. Schätzungen zufolge leiden in Europa etwa ein bis drei Prozent der Erwachsenen an einer SAD, in Deutschland etwa neun Prozent. Neun Prozent – dreimal so viel wie im europäischen Durchschnitt.
Noch drastischer wird es, betrachtet man die Zahlen innerhalb der letzten drei Jahre Pandemie in Deutschland. Die Medizinische Fachzeitschrift The Lancet veröffentlichte im letzten Jahr eine Studie, die zeigt, dass im vergangenen Jahr weltweit 52 Millionen (!) mehr Menschen an depressiven Episoden litten als noch in den Jahren davor. Laut Fokus lässt sich somit ein relativer Anstieg von 28 Prozent bei psychischen Erkrankungen wie Depression und Panikattacken verzeichnen.
Wie kann das sein? Ist an allem wirklich nur das deutsche Wetter und pandemiebedingte Isolation Schuld? Oder doch der Umgang mit mentaler Belastung und psychischem Unwohlsein im Diskurs der Leistungsgesellschaft? Ein dichter, zäher Nebel aus Fragen mit Antworten, die im grauen Winterdickicht nur mühsam zu finden sind.
89 tage lieg ich da.
und träume – von sommer und von dir.
in meinem 12 qm zimmer – im winter – allein hier mit mir.
kopf unter decke,
krieg darüber keine luft.
weil du als hoffnungsvoller pessimist
die hoffnung manchmal selbst vermisst.
Wieso, weshalb, warum
Wieso überhaupt immer im Winter? Forschungen zufolge ist die Sonne schuld. Beziehungsweise ihr Fehlen. Denn die kurzen Tage signalisieren dem Körper einen veränderten Tag-Nacht-Rhythmus, was zu einem Ungleichgewicht der Hormone und Botenstoffe, den sogenannten Neurotransmittern, im Gehirn führt. Denn wenn es früher dunkel wird und weniger Licht ins Auge dringt, wird das Schlafhormon Melatonin ausgeschüttet und wir werden müde. Das klingt logisch. Es erklärt, wieso wir es kaum erwarten können, abends ins Bett zu kommen und morgens nicht aufstehen wollen: Der Körper denkt, es ist mitten in der Nacht. Hinzukommt, dass Sonnenlicht die Ausschüttung von Serotonin, dem Glückshormon, anregt.
Dies könnte demnach einer der Gründe sein, warum Menschen in südlicheren Ländern – wir erinnern uns an die genannten ein bis drei Prozent – seltener mit einer SAD oder Winterdepression diagnostiziert werden. Fehlt dem Körper das durch Sonnenstrahlen und Vitamin D ausgeschüttete Serotonin, versucht er, die damit assoziierten positiven Gefühle auf andere Weise zu kompensieren – zum Beispiel durch eine Tafel Schokolade. Deswegen kann es einigen also wirklich besser gehen, wenn die Sonne scheint.

59 tage, jeder einer zu viel doch keiner je genug.
find keine worte,
denn hab davon zu viele.
gratwandernd zwischen beliebt und beliebig,
nur das mit mir in meinen vier wänden hält scheinbar ewig.
gerade kein vitamin D zu verschenken,
keine hoffnung zu verkaufen –
wahrscheinlich nicht mal an mich selbst.
Sonnige Aussichten schaffen
Feststeht: Dunkelheit im Herzen und Gemüt ist immer scheiße – besonders im Winter. Und dass das im Winter nun mal vermehrt auftreten kann, ist bewiesen. Gegen die fehlende Sonne bei uns am Winterhimmel, kann man leider wenig tun – aber ganz hilflos sind wir nicht. Vorweg: Bei Winterdepression über kommerzialisierte und popularisierte self-care zu reden, wirkt auf den ersten Blick fast ironisch. Als könne man mit ein paar Beauty-Produkten und Dankbarkeits-Tagebüchern jede Diagnose, jede Krankheit bewältigen. Aber auch wenn es vor allem die Gesellschaft ist, die bei Themen rund um mentale Gesundheit und Enttabuisierung von psychischen Erkrankungen ein Komplett-Make-Over mehr als nötig hat, kann der ein oder andere Anstoß vielleicht trotzdem wie eine leise Vorahnung von Sonnenstrahlen auf müder Winterhaut sein.
Vier-Wände-Serotonin
Der erste Tipp klingt simpel, hilft aber: Die Sonne einfach nach Hause holen. Tageslichtlampen kosten um die 30 Euro und werden auch bei offiziellen Therapien genutzt. Auch Sport, am besten draußen, kann bereits ein kleiner Lichtpunkt sein, da auch durch Bewegung wird Serotonin ausgeschüttet wird. Dabei muss es gar keine anstrengende Sporteinheit sein, ein ausgedehnter Spaziergang im Wald kann schon reichen, damit wir uns danach etwas besser fühlen.
Das führt direkt zum nächsten Punkt: Die kurze, helle Phase des Tages bestmöglich nutzen. Wie wäre es, in der Mittagspause mal kurz vor die Tür zu gehen oder mit dem Fahrrad zur Uni oder zur Schule zu fahren? Trotzdem keine Lust rauszugehen? Verständlich. Dann einfach drinnen für Gemütlichkeit sorgen. Vielleicht ein paar Kerzen anzünden, etwas Leckeres backen oder ein ausgiebiges Bad nehmen.
Es kann auch helfen, sich auf das Gute zu fokussieren. Beispielsweise ein Dankbarkeits-Tagebuch, um sich auf die kleinen Dinge im Alltag konzentrieren. Wenn die Sehnsucht nach Sommer zu groß ist, dann ist auch träumen erlaubt. Einfach auf Pinterest ein paar Pinnwände erstellen und im Kopf schon den nächsten Sommerurlaub planen.
Aber manchmal klappt all das nicht – die dunklen Wolken wollen einfach nicht weg, egal was man versucht. Und auch das ist okay, wir haben gesehen, es geht vielen so. Wenn du das Gefühl hast, es geht gar nichts mehr, dann such dir Hilfe. Bei Freunden, Familie oder einer Therapie. Denn, wenn die Dunkelheit Dich und Dein Leben kontrolliert, darf man gerne nach einer helfenden Hand greifen. Zusammen schafft man es oft besser aus dem Loch, als ganz allein.
zähl die tage – 33.
tulpen neben mir an der kahlen Wand,
wie ein kleines stückchen hoffnung in meiner blassen hand.
wie eintag-sommer –
mit urlaubs-postkarten und sonnencremeduft.
5 minuten an frühling glauben,
wenn wir uns mit leichtigkeit die sinne rauben.
Der Frühling kommt
Vielleicht muss die Frage gar nicht sein, ob es jetzt eine Winterdepression als solche gibt oder nicht. Klar ist, dass der Winter hart zu uns sein kann. So hart, dass er uns schnell die Leichtigkeit des Sommers vergessen lässt. Aber: Es geht vielen so, Du bist nicht alleine. Wir müssen nur aufpassen, dass die Traurigkeit nicht überhand nimmt. Also bloß nicht die Hoffnung verlieren, denn eins ist sicher: Der Frühling kommt – und daran darfst Du glauben.
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Weitere Informationen zum Thema findest Du hier:
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Text von Ana Paula und Nele, Gestaltung von Selma.
Ana Paula ist 20 Jahre alt und studiert Geschichte und Fachjournalistik in Gießen. Sie trinkt viel zu viel Kaffee, hat mehr Bücher, als sie lesen kann und bei neuen Pflanzen kann sie eigentlich nie nein sagen.
Nele ist 20 Jahre alt und studiert English-Speaking Cultures und Medien- & Kommunikationswissenschaften in Bremen. Sie prokrastiniert manchmal zu viel, hat einen wahrscheinlich ungesund hohen Salzkonsum und verliert sich gerne in Worten, den geschriebenen und den gesprochenen.
Unsere Generation beschäftigt ganz schön viel – Klimawandel, Zukunftsängste, Leistungsdruck. In gutunddir schreiben Nele und Ana Paula über all das, was uns nachts nicht schlafen lässt: Wer will ich in dieser Welt sein? Wie geht Erwachsenwerden? Und: Gibt es für diese Welt überhaupt eine Zukunft?
Selma ist eine der neuen Gestalter:innen bei TIERINDIR und für die Gestaltung der Kolumne #gutundir zuständig. Sie ist 22 Jahre alt, studiert Druck- und Medientechnik und arbeitet nebenbei als Grafikerin in Berlin. In ihrer Freizeit ist sie gern kreativ, liebt lange Spaziergänge und verliert sich in Büchern aus ihrem Bücherregal oder der Bibliothek.