Gastgedanken, Hier & Jetzt, Inspiration
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Ein Ort namens Zufriedenheit

Es gibt Tage, an denen ich abends im Bett liege und nicht einschlafen kann. kommt vor, ist nichts weiter schlimmes und kennt ja schließlich jeder. doch ab und an, da wollen mir meine Gedanken einfach keine Ruhe lassen und wenn ich mich dann um halb zwei noch immer in den Laken wälze, halte ich es manchmal einfach nicht mehr aus.

Wie mechanisch greift meine Hand dann zum Handy und mit zwei, drei schnellen Fingerbewegungen öffnet sich auch schon Instagram.

Zack – sofort springt mir das grinsen irgendeiner Bekannten, die ich vor Jahren mal im Urlaub kennengelernt habe, ins Gesicht. ein kurzer Klick und ich weiß, sie ist gerade auf Bali, verbringt ihre Zeit dort mit Surfen und dem lesen von feministischer Literatur. und ab und an häkelt sie sich ein neues kurzes Top im Schatten der Palmen.
Könnte das Leben leichter sein?

Na super, denke ich, und merke, wie meine Laune schlagartig fällt. Bis vor zwei Minuten war mir noch nicht einmal bewusst, dass ich gerade lieber auf Bali unter irgendeiner Palme irgendein viel zu knappes Oberteil häkeln würde.

Meine Gedanken beginnen wie wild zu kreisen und auf einmal gehe ich im Kopf meinen kompletten Bekanntschaftskreis durch und denke darüber nach, wer gerade an welchem Ort in welchem Land lebt.
Und dort – natürlich – die absolut beste Zeit des Lebens hat, versteht sich. Wieder einmal fällt mir auf, in was für einer reisesüchtigen-Menschen-Blase ich mich bewege. Alle wollen immer nur weg, weg, weg. Am besten jedes mal noch ein Stückchen weiter und aufregender und exotischer als der ganze Rest. Wer schafft es, den schönsten Sonnenuntergang zu posten? Wessen Vino wird vor der spektakulärsten Kulisse getrunken?
Und wer bereist die meisten Orte in der kürzesten Zeit? Ständig vergesse ich, dass es überhaupt nicht ich bin, die gerne irgendwo in der Karibik Tauchen lernen will. Oder dass ich nie das Verlangen gehegt habe, bei 40 Grad und subtropischer Hitze durch den südamerikanischen Dschungel zu stapfen. Im Gegenteil, dass das sogar meinen persönlichen Werten und Einstellungen widerspricht. 

Und trotzdem hört dieses klitzekleine Fünkchen im hintersten Teil meines Kopfes nicht auf zu brennen.
Wird nicht müde, mir entgegen aller meiner Vorsätze, bei dem ganzen Hype nicht mitmachen zu wollen, ins Ohr zu flüstern, dass es aber schon auch cool wäre. Ich solle mir doch mal die ganzen tollen Bilder und Geschichten ausmalen, die ich dann erzählen könnte. All die Abenteuer—Punkte, die mich auf der Rangliste der tollsten und spannendsten Fernreisen nach oben befördern würden.

Really?
Die eigentliche Frage ist doch,
wen juckt’s?

Dass ich irgendwann mal irgendwo von in irgendeinem beschissenen Touri Boot ins Meer gehüpft bin, nur um mir dort die Korallen anzusehen. Während mich zeitlgleich meine Gedanken angeschrien haben, dass ich verdammt noch mal Angst vor der Vorstellung habe, mit voller Montur eine viel zu lange Ewigkeit unter Wasser rumzupaddeln.
Und das alles nur für die Fotos, die mir danach zugesendet werden und die ich vermutlich niemals irgendwo aufhängen werde.

Und jetzt sind wir doch mal ehrlich – Gedanken, was hinter den ach so leuchtend bunten Bildern wirklich abgeht, macht sich ja doch im Endeffekt niemand. Immer nur sprühen wir alle bloß vor Neid und Eifer, das ganze Schauspiel noch mehr übertrumpfen zu wollen. 

Noch mutiger, noch spannender und noch ausgefallener sein. Ja, das ist, was wir wollen.
Doch inmitten dieses Konkurrenzkampfes um die schönsten Fotos und die verrücktesten Geschichten mit der steilsten Klimax verlieren wir uns selbst. Geben uns Zielen und Erwartungen hin, von denen wir unterbewusst bereits Wissen, ihnen nie gerecht werden zu können. Sehen uns selbst nicht mehr inmitten der alles überschattenden Erlebnisse der anderen, die auf uns in Form von Fotos Tag ein, Tag aus einprasseln. Geben unsere eigenen Wünsche und Vorstellungen auf und tauschen sie viel zu unüberlegt dagegen ein, für immer nach dem ‚mehr‘ zu streben. 

Uff — auf einmal merke ich, wie sich in den letzten Minuten nicht nur meine Gedanken, sondern auch meine Atmung exponentiell beschleunigt hat. Während ich krampfhaft versuche, die Luft wieder gleichmäßiger in meine Lunge ein- und ausströmen zu lassen, merke ich, dass ich mittlerweile nur noch halb anwesend meinen Feed herunterscrolle. Zeitgleich beginnen sich die Satzfetzen in immer langsamer werdenden Kreisen nach und nach zu entwirren und inmitten des hätte-könnte-würde-Knotens in meinem Kopf taucht auf einmal ein blasses Bild auf. 
Da bin ich, wie ich lesend und mit Kaffee in der Hand auf einem Fensterplatz in der Sonne sitze. War das nicht erst vor zwei Tagen? Habe ich nicht in genau diesem Moment in mein Tagebuch gekritzelt, dass ich dort in der Sonne nichts zu missen geglaubt habe?

Entschieden lege ich mein Handy wieder auf meinen Nachttisch und mit der Dunkelheit kehrt auch endlich die Ruhe in meinen Kopf zurück. Vollkommen ausgelaugt kuschle ich mich in mein Deckengestöber und kurz bevor ich sanft in den Schlaf abtauche, schwimmt mir ein letzter Gedanke durch den Kopf, den ich für eine kleine Weile nicht zu sehen vermocht habe.

Ich will kein ‚mehr‘.
Ich will mein persönliches ‚genug‘
– einfach ’sein‘, in meinem hier und jetzt.
Und endlich ankommen, an dem Ort namens Zufriedenheit.

Julia ist 23, studiert Internationales Grundschullehramt, hat aktuell keinen festen Wohnsitz, wird aber die kommende Zeit in Köln verbringen. Sie liebt schöne Worte, den Geruch von frisch gedruckten Buchseiten und mit Freund*innen selbstgeschriebene Texte auszutauschen. In ihrer freien Zeit befindet sie sich am liebsten an einem Sonnenplatz in einem gemütlichen Café, mit Hafermilch-Kaffee und Lektüre in der Hand.

Gestaltet wurde der Beitrag von Selma. Sie ist eine der Gestalter:innen bei TIERINDIR und für die Gestaltung der Kolumne #gutundir zuständig. Selma ist 22 Jahre alt, studiert Druck- und Medientechnik und arbeitet nebenbei als Grafikerin in Berlin. In ihrer Freizeit ist sie gern kreativ, liebt lange Spaziergänge und verliert sich in Büchern aus ihrem Bücherregal oder der Bibliothek.

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