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Weil so viel sein könnte #zwischenTürundAngel

Durch Hongkongs Straßen hallt ein Mahnruf, der so schnell nicht verstummen wird. Der Kampf um Demokratie, Freiheit und den Schutz der Menschenrechte erschüttert das Leben zahlreicher Hongkonger*innen – so auch das von Frances Hui und Ray Wong. Gemeinsam mit den im Exil lebenden Aktivist*innen blickten wir auf die letzten 10 Jahre Hongkongs zurück. Nachdem wir uns den Hintergründen des dortigen Konfliktes und dem Leben als geflohene Aktivist*innen gewidmet haben, möchten wir uns im nächsten Schritt an ein mögliches Zukunftsszenario heranwagen.

Schon 2021 löste sich eine der größten und bedeutendsten Gruppen in der Hongkonger Demokratiebewegung auf, die Civil Human Rights Front (CHFR). Die politischen Repressionen durch China wurden zu gewaltig. Wie also könnte Hongkongs fragile Zukunft in 10, 20 oder 30 Jahren aussehen? Wir spielen Zukunftsmusik.


21. Februar 2022

Die Olympischen Winterspiele sind vorbei. Frances Hui hat sich für den Boykott der Olympischen Spiele eingesetzt. „Wenn wir nichts tun und wegschauen, erlauben wir ihnen, Menschenrechte zu verletzten“, findet sie. Diese Auffassung vertreten auch andere Aktivist*innen. Unter Hashtags wie #BoycottBeijing2022, #NoBeijing2022 oder #BoycottBeijingOlympics finden sich zahlreiche Erklärungen warum.

2035

Im Jahr 2022 war Ray Wong noch optimistisch, dass die Volksrepublik China in 15-20 Jahren von selbst zerbricht – wie auch die Sowjetunion. Vermeintlicher Sozialismus und Kommunismus als Hirngespinster, die in der Realität nicht überleben – ist das so?

Was nach dem Idealstaat der Volkspartei Chinas folgen sollte, konnte Ray sich 2022 noch nicht ausmalen. Heute ist es der Fall Chinas, der ihm unvorstellbar scheint. In den letzten 13 Jahren hat China schließlich Fische jeder Größe verschlungen. Deutlich wird das nicht zuletzt durch Chinas machtpolitisches Expansionsbestreben, bei dem diplomatisches Geschick ein Fremdwort zu sein scheint. Pekings Fokus liegt stattdessen vielmehr darauf, Abhängigkeitsverhältnisse zu schaffen, sodass sich andere Staaten nicht querstellen können.

Dass dieser Politikstil gelingt, ist nicht zuletzt durch die East African Crude Oil Pipeline (EACOP) möglich gewesen, der auch ein Aufgebot von in Petitionen gesammelten Unterschriten nichts anhaben konnte. Dank Chinas starken Partnern in der Welt, die vor allem monetäre Sprachen sprechen, war die Errichtung der Neuen Seidenstraße möglich, die China weiterhin zu einem der größten machtpolitischen Akteure der Welt heranwachsen ließ. Die Strategie der EU “zu einem wirkungsvollen geopolitischen Akteur” zu werden, indem sie bis 2027 in Schwellen- und Entwicklungsländern investierte und somit den Ausbau der Infrastruktur förderte, ist nicht aufgegangen.

Europa hat sich geirrt. Während die EU mit demokratischen und egalitären Werten punkten wollte, gelang es der Volksrepublik China mit Autoritarismus und vermeintlich positiven Bilanzen das eigene Staatsmodell zum Kassenschlager anzuheben. Viktor Orbán und Alexander Lukaschenko blickten gespannt auf Peking, der beispielhaften Alternative zur Demokratie. Ein bisschen Inspiration hat schließlich noch niemandem geschadet.

Das 1,5-Grad-Ziel haben wir übrigens nicht erreicht, Xi Jinping strebt Klimaneutralität aber auch erst 2060 an. Also kein Grund zur Sorge. Lehn‘ Dich einfach zurück und entspann‘ Dich. Ist die Natur nicht das schönste Theaterstück? Die beste Unterhaltung? Hör nicht auf die Klimaaktivist*innen, die sagen: „Wir haben unsere Chance vermasselt. Jetzt versuchen wir, das zu retten, was noch zu retten ist. Ob das gelingt?“

Joshua Wong, das Gesicht der Hongkonger Freiheits- und Demokratiebewegung, mahnte schon im Dezember 2019 in der Kolumne „Briefe aus Hongkong“ in der Welt: „Ich unterstütze [Gretas] Aussage: ‚Wir können nicht einfach so weiterleben, als gäbe es kein Morgen, denn es gibt ein Morgen.‘ Es gibt eine Zukunft, in der Greta und ich leben werden, und wir sind dafür verantwortlich, dass diese Zukunft erstrebenswert ist. (…) Der Klimawandel und der Kampf für die Demokratie in Hongkong haben einiges gemeinsam: Beide können nicht einfach durch Engagement an nur einem Ort gelöst werden, und China muss in beiden Fragen in die Verantwortung genommen werden. Interessant dabei ist, dass Peking auf beide Herausforderungen ähnlich reagiert.“

Dass China als Land mit den weltweit höchsten Treibhausgasemissionen über kein Bewusstsein für seine maßgebliche Rolle in Fragen des Umgangs mit dem Klimawandel verfügt, zeige laut Wong bloß, dass China sich nicht an politische Versprechen halte. Die Tatsache, dass der Grundsatz Hongkongs, „ein Land, zwei Systeme“, durch Peking seit Jahrzehnten systematisch untergraben wird, bestätigt Wong zusätzlich in dieser Einschätzung.

„Beide Beispiele zeigen, dass China nicht vertrauenswürdig ist und seine Zusagen nichts gelten. Die Regierung wird tun, was sie will, ungeachtet aller Normen und Vorschriften. Es braucht mehr als nur die Jugend, um dieses Problem anzugehen. Greta, die Streikenden und die Jugend Hongkongs allein können China nicht für gebrochene Versprechen und verletzte internationale Verträge zur Verantwortung ziehen. Dazu braucht es die solidarische Unterstützung der ganzen Welt. Nur so kann China gezwungen werden, Normen einzuhalten, die für alle internationalen Akteure gelten“ , appelliert Wong.

2047

Die Welt blickt auf Hongkong. Hier hat alles angefangen. Es ist wie in dystopischen Apokalypsenfilmen oder der Serie Years & Years. Die zarte Pflanze der Demokratie ist unter der Last von Kohlebaggern, Lastwagen und den Portraits von Mao und Xi Jinping zerquetscht worden wie eine lästige Eintagsfliege am schwülen Sommermorgen.

Hongkong fällt. China hat die USA als global player endgültig überholt. Spätestens jetzt zeigt sich, dass Peking sich nicht allein mit der Vormachtstellung im asiatischen Raum zufrieden gibt. Und Hongkong ist bloß der Anfang.

Die Welt blickt auf Hongkong, aber China blickt auf die Welt, holt tief aus, kanalisiert all seine Kräfte – und spuckt kräftig auf Werte wie Freiheit und Demokratie, schlägt die Menschenrechte nieder. Knockout.

2060

2022 sagte Frances: “Ich wurde in Hongkong geboren, ich bin Hongkongerin und ich hoffe, dass ich dort eines Tages sterbe und eine Hongkonger Seele werde.”

Sie hält nach wie vor an diesem Traum fest. Sie möchte auf den Straßen Hongkongs stehen und sich an den Ständen am Straßenrand etwas zu essen holen, die Hongkonger Nationalgerichte schmecken nirgends so gut wie dort. Sie möchte am Hongkonger Flughafen mit Uigur*innen und Menschen aus Tibet, Taiwan und China feiern, dass sie frei sind. Sie sieht dieses Bild glasklar vor sich.

China wollte bis 2060 klimaneutral werden. Laut der Parteiführung ist das auch gelungen. Laut investigativen Journalist*innen nicht. Das 1,5-Grad-Ziel kann schon lange nicht mehr erreicht werden, eine globale Erderwärmung um über 2 Grad scheint unvermeidbar. Unsere Erde kann nicht mehr gerettet werden. Ist vielleicht sowieso egal. Wen soll man schon retten? Alle, die der chinesischen Expansionspolitik kritisch gegenüber stehen, hört und sieht man nicht mehr. Sie sind in Umerziehungslagern, das hat Tradition. Alle anderen sehen keinen Grund zur Aufruhr. Die tollen Institute im Ausland haben beste Arbeit geleistet. Gehirnwäsche verkleidet unter Verbreitung der chinesischen Kultur und der Förderung interkultureller Kompetenzen ist hervorragend gelungen, dafür gibt es eine 1+ mit Sternchen.

Und jetzt?

Es ist nie zu spät, einen Samen einzupflanzen.

Atticus

es fällt mir schwer
zu verstehen
wie ein Einzelner werden kann zu einem
von so vielen
dass es nichts mehr zählt oder bedeutet
wenn Er untergeht
es fällt mir schwer
zu verstehen
wie aus siebzehn Menschen eine Masse kann werden
dass alle Blicke sind verdreht
dass die ganze Welt steht quer
Menschen en masse große Verbrechen begehen
an Menschlichkeit und <Sachen>
und niemand mag etwas unternehmen
alle werden in <Ruhe> gelassen

Sich um ihn zu kümmern, damit er zu Stärke heranwachsen kann.

doch schlimmer als das
ist die Frage
an mich
und die an Dich

 was können wir tun
damit das nicht Wirklichkeit wird?
was tust Du?

ich hab einen Vorschlag

"Shoot all the bluejays you want
if you can hit 'em,
but remember
it's a sin
to kill a mockingbird."

Flügel ausbreiten und fliegen.


Weiterführende Informationen findest Du in unserem Storyhighlight „Hongkong“ auf Instagram.


Text von Diana, Gestaltung von Merve und Chiara.

Diana ist Autorin der Kolumne #zwischenTürundAngel und lebt in Trier. Manchmal gestikuliert sie so stark, dass ihre Mitmenschen lieber Abstand zu ihr halten. Wenn sie gerade nicht politisch unterwegs ist, findet ihr sie bei ihrem tierischen Begleiter Max. Sie liebt heiße Schokolade, Worte und holpriges Tanzen.

Ein Gespräch #zwischenTürundAngel über Worte, Politik und das Dazwischen. Schon eine spontan in den Raum geworfene Frage unserer Autorin kann zu Kopfakrobatik führen. Nach ersten Impulsen und Reaktionen fischend, fügt sich hier alles im Laufe zu einem Netz. Mit Liebe zur Weisheit, rotierenden Gedanken und vergessenen Eindrücken. Über Heidelbeerjoghurt, Schnecken und Blumentöpfe.

Chiara ist 19 Jahre alt und studiert Design in München. Zusammen mit Merve gestaltet sie die Kolumne #zwischenTürundAngel. Man trifft sie meist in einem viel zu großen Mantel und einer viel zu kleinen Tasche. Sie ist dafür bekannt ihr Essen zu versalzen, jegliche Dinge zu sammeln und viel zu spät das Haus zu verlassen. Ansonsten zeichnet, kocht und fotografiert sie gerne.

Merve lebt in Karlsruhe und studiert an der HfG Kommunikationsdesign. Sie ratscht gerne mit vielen Menschen, genießt es aber auch sehr alleine in die Natur zu fahren oder zu töpfern. Was sie sehr liebt: Zusammen mit ihren Liebsten und einem Tee im Park Menschen zu beobachten und zu zeichnen und gemeinsam über Träume und Ängste sprechen. Bei TIERINDIR ist sie Gestalterin.

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