Eine Kurzgeschichte
Er bückte sich, um etwas in das Regal zu legen.
Was es war, konnte sie nicht sehen.
Sie vermutete aber ein Buch.
Sie strengte ihre Augen ein wenig an, um einen Blick von seinem Gesicht zu
erhaschen, während er sich wieder aufrichtete, aber der Winkel war zu schräg, durch
den sie das Fenster auf der anderen Seite der Straße sah. Und dazu war das
Fenster auch ziemlich klein, da oben im fünften Stock, knapp unter der Dachschräge.
Sie hatte sich überhaupt nicht auf die Fensterbank gesetzt, um irgendjemanden zu
beobachten, obwohl sie das gerne mal tat. Sie hatte sich eigentlich gesetzt, um ein
wenig weiter in ihrem Buch zu lesen, das sie letzte Nacht so gefesselt hatte, dass sie
es kaum hatte weglegen können.
Er, drüben, konnte das wohl auch nicht und hatte
sein Buch gestern bestimmt noch bis mitten in die Nacht gelesen. Sie stellte sich vor,
dass er bestimmt eine Freundin hatte. Das war ihr ganz klar. Und die Freundin hatte
es wahrscheinlich am Anfang der Beziehung noch gestört, dass seine
Nachttischlampe jedes mal so ewig an war. Er drehte den kleinen, grünen,
metallenen Kopf der Lampe jetzt immer ein wenig vom Bett weg, dass er die
Buchstaben nur noch gerade so erkannte. Und sie, hatte sich langsam daran
gewöhnt, schlief jetzt im halb hellen Zimmer, im Takt der blätternden Seiten schnell
ein. Glühend warm lag sie dann da, Schweißperlen auf ihren rosa Wangen. Aber so
mochte sie es, ansonsten war es ihr zu kalt. Sie schlief sanft, im sanften Licht,
während seine rauen Finger die kaum angestrahlten Seiten sanft weiter schlugen.
Er blieb länger dort stehen, als sie erwartet hatte, seine weiße Boxershorts, grell im
matten Licht des Morgens, eng auf der glatten Seite seiner Beine. Der dünne Stoff
strahlte durch das offene Fenster, raus in die kühle Luft.
Wie es wohl sein mochte, mit ihm zu sein?
Sie hatte es im Gefühl.
Es brauchte nicht lang, bis es sie erfüllt hatte.
Es brauchte nicht viel, da hatte sich bereits eine ganze Welt in ihr breit gemacht.
Während er noch nach etwas zu suchen schien, zwischen Vasen, die sie nicht sah,
Stapeln von Magazinen, die keineswegs in ihrem Blickfeld waren, die er aber, wie sie
glaubte, bewusst abonnierte und tatsächlich las, zwischen hängenden Pflanzen, die
er oft vergaß zu gießen und Fotos, von denen die meisten in Urlauben entstanden
waren, setzte sich in ihrem Kopf nicht nur die restliche Wohnung Stück für Stück
zusammen, sondern auch Teile seiner Persönlichkeit. Die Teile, die die anderen
kannten und auch die, die nur die Personen an ihm lernten, die ihm am nächsten
waren. Sein Gesicht war noch immer von der Sonnenblende verdeckt, die eine harte
Schattenlinien über seine weichen Konturen schlug.
Ein wenig schämte sie sich, ihn immer noch anzusehen, zuzusehen bei diesem
morgendlichen Geschehen. Ein kleiner Moment, stellvertretend für alles. Es war
alles, was sie über ihn wusste. Es war alles, was sie wissen musste. Auf das
Wesentliche reduziert. Sein Körper, die enge weiße Shorts, das Morgenlicht. Auch
sein Geist war vermutlich noch aufs Wesentliche reduziert, gefüllt mit nebeligen
Morgengedanken.
Einfach. Intim. Vollkommen.
Was würde er erzählen, während er durch die kleine Wohnung schlenderte?
Er fand das Objekt, wonach er gesucht hatte: flach, quadratisch. Mehr erkannte sie
auf die Schnelle nicht. Eine Schallplatte? Verdammt, wieso hatte sie nicht besser
aufgepasst? Sie war wieder in ihrem Kopf verloren gewesen. Ihre Neigung, sich in
Tagträumereien zu verlieren, würde ihm bestimmt gefallen. Er würde bestimmt an
vielen ihrer Eigenschaften Begeisterung finden, wahrscheinlich sogar vor allem an
denen, die sie selber nicht mochte: Ihre morgenmuffelige Unzufriedenheit würde ihn
entzücken. Er würde sie kurz betrachten, die Schallplatte vorsichtig auflegen, die
Nadel sachte auf die Rille setzen, mit schnellen Schritten auf sie zugehen, bevor der
Takt einsetzten würde, und ihre müde Hand schnappen. Er würde sie ein weiteres
Mal verschmitzt anlächeln und sie würde an seinen wippenden Beinen ahnen, dass
er gleich drauflos tanzen würde, auf dem knarzenden alten Parkettboden.
Was machte er gerade wohl? Machte er Frühstück? Schnitt er würzigen Käse mit
seinen starken rauen Fingern? Er wirkte stark, und weich zugleich, das wusste sie.
Er war jemand, der einen auffängt, wenn man einen schlechten Tag gehabt hat, aber
genauso gut mit eingeknickten Knien auf hellblau karierten Bettwäsche liegend, Kopf
auf den Oberschenkeln seiner Freundin ruhend, die Tränen fließen lassen konnte.
Ja, sowas konnte er.
Wie schade, ihn gerade nicht mehr sehen zu können. War seiner Freundin eigentlich
bewusst, wie glücklich sie sich schätzen konnte, dass sie ihn die ganze Zeit vor sich
hatte? Ihn sehen und anlächeln und berühren konnte?
Aber es war bestimmt nicht immer leicht. Sie hatte bestimmt Dinge, die sie an ihm
nervten; dass er ihr oft nicht zuhörte, dass er die Zahnpastatube nicht vom Ende
quetschte, sondern irgendwo mittendrin, dass er ihren runden Babybauch nur
streichelte, wenn ihm danach war, und dann war ihr manchmal nicht danach. Und
wenn ihr danach war, machte er es nie.
Sie sah die beiden vor ihrem inneren Auge so klar.
Es war manchmal besser, weniger von Dingen zu wissen, um mehr über sie zu
glauben. „In dem Unentdeckten steckt die Unendlichkeit.“ Hatte sie das mal irgendwo
gelesen, oder hatte ihre Oma das gesagt? Egal, auf jeden Fall konnte sie direkt was
damit anfangen.
Von Weitem weg wirken die Dinge oft schärfer als von ganz Nahem. Dort, wenn man
jemandem ganz lang, ganz nah ist, dort verschwimmen die Dinge dann und werden
unklar. Sie aber sah die beiden jetzt glasklar auf der anderen Seite des Hauses auf
dem Balkon sitzen. Während er versuchte, die Brötchen auf den kleinen runden
Glastisch zu stellen, ohne die roten Blumen in der kristallenen Vase umzuwerfen, saß
sie mit den Händen auf dem kugelrunden Bauch da und blickte runter in den
Innenhof, wo die Vögel auf der blühenden Kastanie hin und her hüpften.
Sie starrte noch eine Weile länger in die Leere des offenstehenden Fensters, das
jetzt fast wieder so aussah wie all die anderen. Leuchtend setzten sich die weißen
Rahmen von dem Orange-rot der glatten Fassade ab, die in einem etwas hellerem
Ton mit Stuck versehen war. Orange-rot und undurchdringlich schön.
Wäre sie nur da drüben, dann wäre alles so viel besser. Sie war sich sicher. Auf der
anderen Straßenseite war alles so viel schöner.
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Vanessa ist 24, studiert in Kiel und schreibt gerne leichtherzig über schwerwiegende
Gefühle. Sie befasst sich viel mit der Schönheit banaler Alltagsdetails und der
Vielschichtigkeit von Situationen. Aufgewachsen zwischen zwei Kulturen fragt sie
sich seit klein auf große Fragen. Sie liebt Tage an denen nichts geplant ist und
lauwarmen Milchreis.
Gestaltet wurde der Beitrag von Helena