Florian Rudolph ist Tattookünstler und Besitzer eines queeren Tattoostudios namens TTTRIP in Berlin. Auch ich war schon Kundin in seinem Studio. Als ich vor unserem Termin in meinem Hotelzimmer am Rande einer Panikattacke war und der Termin ins Wasser fallen zu drohte, hat Florian mich kurzerhand selbst abgeholt und ist mir gemeinsam den Weg mit der U-Bahn zu seinem Studio gefahren. In einer Branche, die sehr zeitorientiert arbeitet, ist das keine Selbstverständlichkeit.
Wer also ist Florian Rudolph? Welche Verantwortung trägt man als Tätowierer? Welche tiefere Bedeutung hat die Profession und was hat es mit Cultural Appropriation auf sich? Ich habe gefragt und bewundernswerte Antworten erhalten.
Ich würde gerne mit deinem Werdegang einsteigen: Wie bist du zum Tätowieren gekommen? Ich glaube wir haben darüber schonmal gesprochen und du hast mir gesagt, du hast eigentlich Produktdesign studiert?
Genau, ich habe ein Master im Produktdesign gemacht. 2014 hab ich den Abschluss gemacht, in Saarbrücken. Und bin dann nach Berlin gezogen, eineinhalb Jahre später. Dort war ich anfangs sehr viel alleine und hatte dann auch viel Zeit, darüber nachzudenken, was ich denn eigentlich von meinem Leben möchte. Was macht mir eigentlich Spaß? Dann habe ich an meine Kindheit zurückgedacht und daran, was mir eigentlich schon immer Spaß gemacht hat: das Zeichnen. Warum habe ich das so vernachlässigt? Einen greifbaren Grund warum mir das so gefällt gab es nicht, aber es war einfach da und eine Intuition. Und dann habe ich wieder angefangen, mehr zu zeichnen und auch angeboten, diese Zeichnungen zu tätowieren. Dann sind eigentlich doch recht schnell Leute drauf angesprungen. Ich hatte das auf Instagram hochgeladen, damals hat Instagram für sowas noch gut funktioniert (lacht). Dann hatte ich ein paar Freiwillige, die gerne etwas haben wollten und so konnte ich auch gut üben.
Hast du dir dann erstmal ein eigenes Übungs-Set gekauft und an dir selbst ausprobiert oder ging das richtig schnell, so ganz organisch, dass du direkt an anderen tätowiert hast?
Eigentlich schon. Angefangen hat es damit, dass ich einer Freundin davon erzählt hatte, die selbst eine eigenes Set-Up Zuhause hatte. Sie meinte, ich könnte mich einfach mal tätowieren und dann habe ich mir selbst ein Tattoo gemacht, das auch garnicht so schlecht geworden ist. Dabei habe ich dann gemerkt, dass ich eine ruhige Hand habe dafür. Durch das Zeichnen hatte ich eine gewisse Sicherheit, die man dafür auch braucht. Eine gewisse Selbstsicherheit einfach. Dann habe ich den Entschluss getroffen, etwas zu riskieren, Geld in die Hand zu nehmen was ich zuvor nie so wirklich gemacht hatte, und mir eine Maschine zu kaufen. Geübt habe ich eigentlich nicht wirklich viel auf Übungshäuten oder Orangen oder Bananen, was man da alles so machen kann. Das fühlt sich komplett unnatürlich an, finde ich. Ich hatte einfach das Glück, dass ich viele Freund*innen hatte, die etwas wollten oder Leute von Instagram die mich angeschrieben haben, sodass ich einfach direkt üben konnte. Das war ein ziemlich guter Einstieg.
Selbstsicherheit. Das ist ein gutes Wort. Das ist was ich an deinem Beruf so bewundernswert finde. Die Selbstsicherheit die man haben muss, weil man ja auch immer im Hinterkopf hat „Das was ich da tue bleibt jemandem ein Leben lang.“ Ist das ein Druck, der immer bestehen bleiben muss, damit man sein Level hält? Oder ist das ein Druck von dem man sich distanzieren muss, weil man sonst verrückt wird?
Ich glaube Druck ist nicht das was mich auf dem Level hält, sonder ein gewisser Perfektionismus. Anfangs hatte ich natürlich sehr viel Angst. Man hat einen Versuch und entweder es wird gut oder nicht – das ist eine riesige Verantwortung. Diese Verantwortung kommt mit dem Beruf oder der Profession. Das war schon schwierig, das unter Kontrolle zu bekommen. Obwohl ich Routine im Zeichnen hatte, ist es natürlich was anderes, wenn man am Menschen praktiziert. Mit der Zeit habe ich gemerkt, dass sich das entwickelt. Man wird immer sicherer. Man versteht das Medium Haut besser. Mittlerweile habe ich überhaupt keine Bedenken mehr.
Von Studioarbeit und Schicksal
Anfangs hast du erstmal in einem Studio gearbeitet, oder?
Genau, das ging auch sehr schnell. Mir wurde direkt eine „residency“ angeboten, also ein fester Arbeitsplatz in einem Hamburger Studio. Ich bin dann nach Hamburg zum Interview, habe aber direkt gesagt, dass ich mir nicht vorstellen kann, nach Hamburg zu ziehen, da ich ja erst nach Berlin gezogen bin. Aber gerne regelmäßig kommen würde, um dort meine Termine abzuarbeiten. Ich habe dann den Tag noch in dem Studio in Hamburg verbracht, um mir das einfach mal anzugucken. Dort habe ich dann eine andere Tätowiererin kennengelernt, die am nächsten Tag nochmal nach Berlin gefahren ist. Wir haben uns unterhalten und sie hat mir erzählt, dass sie in Berlin eine Freundin mit einem eigenen Studio hat. Und dass sie mich dort gerne vorstellen würde. Dann bin ich noch eine Nacht in Hamburg geblieben, ganz ungeplant und bin am nächsten Tag mit ihr nach Berlin. Sie hat mich dann dort vorgestellt und ein paar Tage später hab ich schon die Zusage bekommen, dass ich dort anfangen kann.
2018 hast du dein eigenes Studio TTTRIP in Berlin-Wedding gegründet. Was hat dich dazu bewegt?
Das Studio in dem ich gearbeitet habe, hat einfach keine guten Konditionen gehabt. Das ist aber im Tattoo-Business total gang und gäbe, dass man sehr hohe Abgaben an das Studio zu leisten hat. Was dazu führt, dass man sehr viel arbeitet und nicht genug raus hat. Und wenn man dann noch seine Steuererklärung macht, dann habe zumindest ich mich gefragt, warum ich überhaupt in diesem Studio arbeite. Auch aus persönlichen Gründen hat es sich nicht mehr so gut angefühlt. Dann habe ich mir einfach mal durchgerechnet wieviel ich da abgebe und festgestellt, dass ich dann auch mein eigenes Studio machen kann. So war es dann auch und ging auch wirklich sehr schnell. Ich habe auch sehr schnell ein schönes Studio gefunden, du warst ja schon da, ist ja ganz nice (lacht). Dann habe ich es einfach gewagt und gemacht. Eine befreundete Tätowiererin ist mit mir gekommen, weil sie auch nicht mehr in dem Studio sein wollte und hat dann angefangen das mit mir aufzubauen. Dann kamen auch noch mehr Leute dazu.
Die eigene Vision
Ich finde das total interessant und schön, dein Studio ist eine Verräumlichung deiner Vision. Als wäre das in die Räumlichkeiten übergegangen und hätte es vollendet. Weil alles zusammen passt.
Das hast du gut ausgedrückt. Verräumlichung habe ich so noch nie benutzt in dem Kontext, aber es stimmt voll. Nicht nur mein Hintergrund als Interior-Designer/Produktdesigner sondern auch meine Interessen, die sich im Tätowieren widerspiegeln: Das alles vereint spiegelt sich wieder in der Räumlichkeit. Es ist sehr viel von meiner Identität nicht nur in meinen Motiven, sondern auch in meinem ganzen Studio.
Ja, ich nehme das als Teil deiner Arbeit war. Wie arbeitest du? Hast du bestimmte Arbeitsschritte, Handlungen oder Eigenheiten, die du in deiner Arbeit hast?
Ich würde schon sagen, dass ich mir über die Jahre eine gewisse Routine angeeignet habe, wie ich meine Motive kreiere. Es ist alles sehr aus der Welt der Botanik, Tiere, Anatomie. Ich betreibe sehr viel Recherche. Ich collagiere Bilder und Materialien und erschaffe so meine eigene Welt. Das ist aber auch ehrlich gesagt das Einzige, wenn es um die Ideenfindung geht. Ich probiere viel rum, arrangiere Motive miteinander. Am Ende muss es harmonisch und intuitiv für mich passen. Das ist aber dann auch einfach ein Gefühl. Inspiration finde ich immer irgendwo. Wenn ich etwas angucke und ich sehe etwas anderes dazu, verbinde ich einfach mal beide Motive zusammen. Trotzdem möchte ich auch, dass meine Motive eine gewisse Aussagekraft haben. Das geht nicht bei jedem Motiv, manchmal mache ich auch „nur“ eine simple Pflanze oder ein Tier – das hat aber für mich auch eine Bedeutung. Wenn ich solche Motive kreiere und collagiere, dann bekommt das auch schon fast einen poetischen Charakter. Oder auch ein Charakter der mit meinen Moralvorstellungen einhergeht.

Ich glaube das ist bei jeder/jedem Tätowierer*in anders oder? Was die eigene Vision angeht und dann die von dem Kunden oder der Kundin. Es gibt viele Tätowierer*innen, die auch einfach Motive tätowieren, die sie nicht selbst gezeichnet haben. Es gibt Tätowierer*innen, die ausschließlich ihre eigene Vision tätowieren. Wie ist das bei dir, wie wichtig ist dir das?
Mir ist es mega wichtig, dass ich nur meine eigenen Motive tätowiere. Es kann natürlich auch eine Kundin oder ein Kunde an mich herantreten mit einem Wunsch und wenn das in mein Gestaltungsspektrum passt, dann mache ich das natürlich auch gerne. Am liebsten mache ich „Flashs“ also Zeichnungen, die ich im Vorfeld schon gemacht habe. Generell arbeite ich aber auch referenzbasiert, das ist einfach Teil meiner Arbeit, dass ich mir Referenzen anschaue, die collagiere und dann meinen eigenen Touch mit reinbringe. Was die Motive sehr nahe an die alten Illustrationen aus Büchern heranbringt. Das ist ein Look, der mir sehr gut gefällt und den ich beibehalten möchte. Aber mir ist es sehr sehr wichtig, meine eigene Vision durchzuführen. Das ist Teil meiner kreativen Arbeit, ich will, dass Menschen ein Stück von mir bekommen. Jedes Tattoo ist auf eine gewisse Art und Weise legitim. Jede Anfrage ist legitim. Aber es gibt auch manche Kund*innen die gar nicht verstehen, in welcher Welt ich mich bewege und dann nach einem Outline-Tattoo fragen oder nach einem Tattoo, das sie auf Pinterest gefunden haben. Was alles völlig legitim ist, jeder hat seine eigenen Vorstellungen und Geschmack – aber es ist nichts, was mit meiner Arbeit zu tun hat. Das muss ich dann auch leider ablehnen.
Cultural Appropriation
Es ist ja auch wichtig für einen selbst, dass die Arbeit authentisch bleibt. Das ist das Ziel überhaupt. Gibt es sonst noch Dinge, die du ablehnst?
Ja, auf jeden Fall. Politische Motive natürlich, auch kulturelle Motive. Du hast ja gerade authentisch gesagt. Ich kann die Formsprache und die Kultur nicht so authentisch rüberbringen wie eine Person, die selbst aus dieser Kultur stammt. Um es an einem Beispiel anschaulicher zu machen: Wenn jemand ein Maori-Muster haben möchte, dann ist die Person auf jeden Fall bei mir an falscher Stelle. Ich möchte keinen Profit aus einer anderen Kultur schlagen. Das ist ein Aspekt, der unter Cultural Appropriation fällt: Aneignung von anderen Kulturen und daraus Profit schlagen. Das ist etwas, wovon ich mich klar distanzieren möchte. Man kann sich immer Inspiration nehmen und Dinge anders machen, das finde ich legitim. Man kann ja auch nicht das Rad neu erfinden. Wenn man zum Beispiel Tribals macht, kann man die ja immer neu erfinden. Aber ich würde nie genau etwas übernehmen. Auch mit chinesischen Drachen. Ich denke, es gibt mit Sicherheit eine Person, die chinesischer Abstammung ist und das einfach lebt und authentisch macht.
Spiritualität & Schmerzerfahrung
Du hast vorhin gesagt, dass es dir wichtig ist, dass du deinem Gegenüber etwas von dir mitgibst – durch die Tätowierung. Was bedeutet dir das Tätowieren auf einer tieferen Ebene? Ist es etwas Spirituelles oder überhaupt nicht?
Ich glaube es hat viele Ebenen für mich. Es ist eine Art Vererbungs-Gedanke. Das klingt jetzt ein bisschen komisch, aber dass ich mein Erbgut auf eine andere Art und Weise weitergebe. Ich möchte keine Kinder haben und nichts in die Welt setzten, aber ich möchte mich als Person und meine Welt sozusagen meine DNA, auf eine andere Art und Weise weitergeben. Irgendwas hinterlassen, zumindest für eine gewisse Zeit. Aber ohne, dass ich dabei meiner Umwelt schade. Man sagt zwar, ein Tattoo ist ewig, aber nein, irgendwann stirbt auch der Mensch und das nimmt das Tattoo auch wieder weg. Aber wenn man sich nicht dafür entscheidet es wegzumachen, hat man das Tattoo bis zum Ende seines Lebens und das finde ich auch ein sehr großer Vertrauensbeweis den mir jemand entgegenbringen kann. Dann kommt das für mich auf diese spirituelle Ebene.
Dann auch beim Tätowieren, wenn ich diese Verbindung merke, ich unterhalte mich mit Menschen, ich lerne die Menschen kennen, ich weiß, was sie machen und wie sie denken. Sie erzählen mir sehr persönliche Sachen, man kann sich austauschen und voneinander lernen. Das ist wie ein Energieaustausch, den ich sehr wertschätze. Das ist mir sehr wichtig bei der Arbeit. Ich bin generell ein Mensch, der Menschen gerne hilft und sie unterstützt so gut es geht. Und ich habe das Gefühl, dass das durch das Tätowieren auch passiert. Durch die Schmerzerfahrung, die ja unweigerlich jede*r hat, kommen auch viel mehr Emotionen hoch. Ich hatte auch des öfteren schon Menschen, die mir teilweise ganz tragische Geschichten erzählt hatten. Menschen, die geweint haben, sodass man auch eine Pause machen musste. Das sind alles Dinge, die in meinem Raum, den ich ja selbst auch als sicheren safe space bezeichne, völlig okay sind. Es soll überhaupt kein Druck entstehen, es soll alles offen und ehrlich sein. Das schätze ich einfach sehr an dieser Arbeit und an den Menschen die zu mir kommen.

Ich finde das sehr schön, dass dir so bewusst ist, in was für eine vulnerable Position sich dein Gegenüber bringt.
Genau, man ist schon fast ausgeliefert. Und in dieser Position, muss man sich auch einfach wohl fühlen können und dürfen. So sehe ich das zumindest. Mir geht es darum, auf den Menschen zu achten und auf die Bedürfnisse einzugehen. Es ist ein sehr sensibles Thema, es sind Schmerzen involviert, das ist schon was Krasses. Wenn sich jemand dazu entscheidet, dass ich die Person in gewisser Weise verletzen darf. Die Erlaubnis zu bekommen, jemanden zu verletzten, ist heftig und ein extremer Vertrauensbeweis.
Eine Ode an Big B
Berlin ist ja in den letzten Jahren zum dem Tattoo-Hotspot überhaupt geworden. Ich glaube es gibt auch viele queer-friendly Studios, so wie TTTRIP. Wie siehst du das, wenn du hinter die Grenzen von Berlin schaust, wie wichtig ist das?
Ich glaube im queeren Bereich gibt es viel mehr Menschen, die sich darüber bewusst sind, dass es sichere Räume für Menschen geben muss, in denen sie sich wohl fühlen. Ich glaube aber, dass sich diese Ansammlung von queeren Tätowierer*innen in größeren Städten aufhält. Berlin ist natürlich meiner Meinung nach der beste Ort auf der Welt, um sich tätowieren zu lassen. Vor allem in der queeren Szene, die dort sehr groß ist.
Meine letzte Frage: Was wünscht du dir für die Zukunft?
Ich wünsche mir, dass Menschen generell ein verstärktes Bewusstsein gegenüber ihrer Umwelt haben. Sei es in Beziehungen oder im Bezug auf das Thema Tierwohl und Umwelt. Und auch: Wie gehe ich mit mir selbst um, wie gütig bin ich zu mir selbst. Reflektieren wo man im Leben steht, das klingt jetzt super cheesy, aber wenn man sich selbst keine Güte entgegenbringt, dann kann man das anderen Lebensformen auch nicht entgegenbringen. Ich würde mir wünschen, dass Menschen etwas mehr auf sich achten. Dass sich in der Gesellschaft und auf der Systemebene etwas verändert.
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Ein Interview von Mara, Illustrationen von Florian Rudolph.
Mara ist 24, Crossmedia Publishing Studentin und Fotografin. Sie lebt in Stuttgart.
In ihrer Kolumne FUTURA BOLD, unterhält sie sich mit Personen aus Kunst und Kultur über verschiedensten Themen. Die Gespräche erscheinen auch als Podcast auf Spotify und Apple Podcasts.