Triggerwarnung: Dieser Text behandelt das Thema Zwangsstörung und psychische Krankheiten.
Frage: Wenn ich keine Rolle spiele, wieso bin ich mir dann nachts so furchtbar fremd im Spiegel?
#readyornot beschäftigt sich mit Zwangsstörungen. Sie werden häufig missverstanden oder als „Putzfimmel“ abgetan, was sehr schade und hinderlich ist: Durchschnittlich werden Betroffene nämlich erst nach neun Jahren diagnostiziert. Menschen mit Zwangsstörungen leiden unter unerwünschten Zwangsgedanken und/oder unter Zwangshandlungen, die ihren Alltag zunehmend vereinnahmen und alle möglichen Themenfelder umkreisen können. Effektiv behandelt werden Zwänge mit kognitiver Verhaltenstherapie und Konfrontation mit Reaktionsmanagement, oft in Kombination mit einem Antidepressivum.
Ich bin gesünder als früher. Ich bin meistens nicht mehr so hart zu mir selbst und kann morgens aufstehen. Ich bin jetzt ein Edelstein: Ein blutender Rubin, scharf und schillernd. Schaut mich an: Ich bin verwirrt. Ich möchte über gar nichts schreiben. Ich möchte über alles schreiben. Mein Leben ist vorbei. Mein Leben fängt erst an.
Ein Mensch zu sein bedeutet, dass auf deinem Hirn den ganzen Tag lang herumgesprungen wird, und der ungebetene Hüpfer sich an Dingen festkrallt. Ständig. Im besten Fall gewöhnst du dich an die Mini-Stromschläge. Das Problem ist nur: Je mehr du deinen Zwängen nachgibst, desto weniger autonom bist du. Du bringst dir bei, dass du nicht entspannen darfst; nicht, bis ES gelöst ist. Bis du dir sicher bist. Diesmal fühlt es sich anders an, diesmal muss es etwas bedeuten. Habe ich das gedacht oder das? Habe ich es absichtlich gedacht? Was bedeutet der Gedanke, den ich vorgestern vielleicht hatte? Niemand außer mir denkt so etwas, niemand außer mir fühlt so etwas. Du darfst nicht entspannen. Nicht entspannen bedeutet: Sich aufregen. Klingt spannend, ist es aber nicht.
(Eine Zeit lang dachte ich, dauerhaft den Herzschlag einer Scoridae, einer Spitzmaus zu haben, wäre normal.)

Partnerschaft! Liebe. Öfter, als ich es wollte, war ich ängstlich, klammernd, um mich selbst kreiselnd. War es nicht irgendwie aufregend, spannend, dass der Vorhang abends aufging und ich mein Drama-Stück in 4 Akten abspulte? Ich tendiere offenbar dazu, meine Partner zu Gast-Schauspielern zu machen. Und dann bin ich klein und schwach, und sie passen auf mich auf und wir denken, das ist halt unser Leben gerade. Und ich weiß gar nicht mehr, wie ich ohne diese Spannung leben kann.
(Aber nichts daran war spannend. Die Uraufführung war vermutlich gruselig und traurig, und der Rest bedrückend.)
Zwangsstörungen sind gewitzte Perfomancekünstler. Sie werden sich niemals zufriedengeben, solange du mit ihnen ins Gespräch trittst. Sie sind so abhängig von deinem Zutun, dass sie dir gehässige Dinge zubrüllen werden und quengeln werden, bis du dich entnervt umdrehst. Du wirst dich immer wieder umdrehen. Oder du drehst dich irgendwann nicht mehr um und die Stimmen werden leiser.
(Ich glaube, ein riesiger Teil davon ist auch das Internet. Einerseits die unendliche Erleichterung: Es GIBT Gleichgesinnte, es gibt Ressourcen und kostenlose Hilfe, Videos und Discord-Server, Telegramgruppen und Instagram-Recovery-Pages. Ich fühle mich wohl unter Gleichgesinnten und die täglichen Posts auf Instagram (You are not going crazy!) beruhigen mich, aber: Sie lassen mich die Blase nicht verlassen. Wenn du dich schlecht fühlst, kannst du den Brieftauben Post mitgeben und dir werden Leute mitfühlend antworten. Oder auch nicht, und dann fällst du tief.)
Gott: Ich denke so viel nach. Ich lese ein flammendes Plädoyer vor. Niemand außer mir sitzt im Gerichtssaal. Der Prozess wird nicht international ausgestrahlt. Ich finde immer ein Gegenargument. Ich habe das Gefühl, als ausrangierte Marionette von einem teuflischen Puppenspieler herumkommandiert zu werden. Den Puppenspieler gibt es nicht. Der Puppenspieler bin ich. Meine Aufgabe ist es, mit dem Denken aufzuhören.

Du wachst auf und hast Angst, weil du weißt, dass du mit Angst aufwachst. Die letzten fünfhundert Tage war es nicht anders, also wieso sollte sich heute etwas ändern?
Die anderen kennen deine Stimmungsschwankungen, sie wissen, dass du nie fest zusagen kannst. Dass du manchmal laut in deinem Zimmer weinst. Dass du das schon als Kind so gemacht hast, und wenn deine Mutter nicht hineinkam, wurdest du unfassbar wütend. Es hat die letzten Jahre geschneit, und die Kälte hat sich wie eine Decke um dich gehüllt. Deine Gliedmaßen sind so starr, dass du vergessen hast, wie man sich bewegt. Du schlurfst so durch die Tage, und die Decke ist unfassbar schwer. Nachts gefriert das Bett, und Eiszapfen durchstechen dein Gehirn. Aus irgendeinem Grund denkst du, diese Decke wäre angebracht, gemütlich, ein Teil von dir, unverzichtbar.
Eine Packung Streichhölzer hinauszukramen und sie vorsichtig über die Schneekristalle zu halten: Das hätte ich mich nicht getraut. Was soll schon übrigbleiben, wenn sie schmilzt? Ich wusste nicht, wer ich bin, was ich wollte, und ob ich überhaupt irgendetwas wollte. Diagnosen geben Sicherheit. Das Mädchen mit den Streichhölzern lässt sich nicht einfach umschreiben. Diagnosen fördern manchmal die Illusion einer lebenslangen Haftstrafe: Ich habe eine Zwangsstörung, ich bin also gestört. Mein Hirn hat einen irreparablen Fehler und ich leide darunter. Und das bleibt auch so. Das heißt, ich werde mich nie befreit fühlen. Ich kann mit den Zwangsgedanken vielleicht leben, aber ich werde sie mit ins Grab nehmen.
Was für eine ermüdende Zukunftsvision: und gefährlich falsch ist sie auch noch.
Zwangsstörungen sind kein Todesurteil. Sie werden vor allem verhaltenstherapeutisch behandelt, und zwar meistens mit einer Unterform der Verhaltenstherapie; der sogenannten exposure and response prevention (Expositions- und Reaktionsverhinderung). Hierbei setzen sich Patient*innen schrittweise immer größeren Ängsten und Zwangsgedanken aus, ohne mit dem üblichen Zwang zu reagieren. So lernst du, dir selbst wieder zu vertrauen und deinem Gehirn zu zeigen, dass deine Angst irrational ist. Ungefähr 70% der Betroffenen profitieren von ERP und/oder medikamentöser Behandlung gegen ihre Zwangsstörung. Und: Du bist nicht allein! Zwangsstörungen kommen häufig vor: Im Laufe ihres Lebens haben ungefähr bis zu 3 von 100 Menschen damit zu tun.
Auch ich. Aber mir geht es besser. Geht es mir besser? Ich glaube schon, aber wissen tue ich es nicht. Bin ich jetzt geschliffen oder strahle ich fahl? Eins weiß ich: Meine Störung macht mich nicht zu einer interessanten Person.
Ich will mir nicht mehr einbilden, ein seltener Stein zu sein, ich will zu den anderen Kieselsteinen in die Sonne und dort einschlafen.
Es bringt nichts, dein Zimmer zu einem perfekten, triggerfreien Seidenpalast zu machen, weil draußen trotzdem der Wind beißt, und du es nicht vermeiden kannst, irgendwann vor die Tür zu gehen. Die ganze Stadt ist ein einziger Trigger. Der einzige Weg, sich besser zu fühlen, ist, ihr nicht mehr aus dem Weg zu gehen. Durchs Leben stolpern mit Pflastern in der Tasche, oder dem Mut, in die nächste Notaufnahme zu humpeln, wenn es irgendwie geht.

Keine Ahnung, was ich gemacht habe, als ich gesund war. (Eigentlich ist das eine Lüge: Ich habe Schnee gegessen, und Zeitschriften zusammengeklebt und in Briefkästen geworfen. Ich habe geheult, weil die Nachrichten so traurig waren oder weil ich mit dem Kopf beim Kippeln gegen die Heizung gekracht bin. An das alles erinnere ich mich nur bruchstückhaft: Weil nichts davon besonders schlimm war. Weil ich damals die Tendenz noch nicht kannte, alles festhalten und bewerten zu müssen.)
Wenn die Leben-oder-Tod-Probleme in deinem Kopf weniger Platz einnehmen als je zuvor und wenn du manchmal ohne den Zentner Beton atmen kannst und wenn manchmal Kraut durch die Löcher wächst; dann kommen andere Probleme auf dich zu. Dann ist jemand auf dich sauer, und du bist unzuverlässig. Plötzlich fallen dir all die anderen Stellen auf, an denen du Scheiße baust. Wieder gesund zu werden heißt auch: Verantwortung zu übernehmen. Ich habe Angst davor, wieder ganz gesund zu sein. Denn wenn ich dann zersplittere, das Bild nach außen zurücknehme – bin ich dann nur noch ein unspektakulärer Halbedelstein? Komme ich dann nochmal hoch?
(Nur dass das nicht geht. Nur dass nichts davon jemals geht. Dass es ist wie mit Mikroplastik, in meine Zellstruktur verwoben; unsichtbar, aber viel leichter. Endlich leichter.)
Schaut mich nicht an, denn ich bin nicht weniger verwirrt als ihr.
Ich bin ungeschliffen Stein und am Strand niemals allein.
Der Text und die Gestaltung sind von Ronja.
Ronja ist 22, studiert Freie Kunst und fasst gerne Dinge in Worte. Ihre Kolumne illustriert sie selbst. Gedichte mag sie sowieso, und Menschen portraitieren auch: In Tusche und in Bleistift.
In ihrer Kolumne readyornot erzählt sie von Zwangsstörungen und vom absurden Leben.