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Zwischen Kinderzimmer und Vorlesungssaal #gedankenkarussell

Nach zwei Semestern zum ersten Mal am Campus zu sein fühlte sich unwirklich an. Die Hoffnung auf Normalität wird begleitet von Ängsten und Sorgen. Doch kaum jemand fragt Student*innen eigentlich „Wie geht es dir mit all dem?“. Das Thema um psychische Belastung zu Corona-Zeiten wird unausgesprochen unter den Teppich gekehrt. Damit soll jetzt Schluss sein.

Im aufkommenden Wind lag der Duft getrockneter Blätter, als sie die Tür zaghaft öffnete, die nach draußen führte. Die kühle Luft ließ sie ihre Jacke enger zuziehen und sie richtete den Blick auf die Vorgärten der benachbarten Häuser. Etliche Blätter hatten sich in Folge des Herbstes am Boden gesammelt, sodass es ein Wunder war, dass die Bäume noch so voll mit ihnen waren. Sie fragte sich, wann sie die Welt das letzte Mal so bunt gesehen hatte. 

Wieso war es plötzlich so schwer los zu gehen?

Es war ihr erster Tag, und? Für so viele andere war er das auch.

Ein Blick auf die Uhr verriet, dass sie nicht wie erhofft noch Zeit zum Zögern hatte. Die erste Vorlesung begann schon bald und da sie noch nicht wusste, wo genau der Saal lag, musste sie ihn suchen, doch dafür sollte sie erst einmal das Haus verlassen.

Die Straßen auf ihrem Weg waren noch ganz feucht vom Regen. Ihre Gedanken wanderten unweigerlich zurück zu den Sorgen, die sie schon den ganzen Morgen plagten. Ihr waren noch so viele Dinge über ihr Studium unklar, aber sie hatte das Gefühl, diese Sachen nach einem Jahr wissen zu müssen. Und trotzdem erwartete sie, dass ein Guide am Campus auf sie warten und mindestens die nächste Woche begleiten würde. Stattdessen müsste sie sich den Herausforderungen jedoch gewissermaßen allein stellen. 

Während sie die nächste Straße überquerte, wurde ihre Anspannung so stark, dass sie langsamer ging und die feucht kalten Hände an ihrer Jacke abstrich. Sie merkte zu spät, dass sie die falschen Schuhe angezogen hatte, als sie noch in Gedanken versunken in eine Pfütze trat. Sie seufzte. Hätte sie die Vorlesung zu Hause, wäre ihr das nicht passiert. Dort könnte sie es sich mit einer Wolldecke, dicken Socken und den hässlichsten aber bequemsten Pullovern in einem Sessel bequem machen und Tee trinken, statt die nächsten zwei Stunden mit nassen Füßen in einem halbwegs beheizten Raum zu sitzen.

Sie wusste, dass der Gedanke albern war, aber das hieß nicht, dass es nicht wirklich Vorzüge hatte, von zu Hause zu studieren. Einige Vorlesungen konnte sie sich allein ansehen, ohne dass jemand neben ihr sie ablenken könnte; oder sie hatte die Möglichkeit; Professor*innen eine schnellere Sprechgabe zu verleihen, sodass sie nur halb so lang für eine Sitzung brauchte. Das würde ihr jetzt definitiv fehlen.  

Auf der Hälfte des Weges kam sie an einer Buchhandlung vorbei und hielt inne. Sie hatte keine Zeit für einen spontanen Einkauf aber sie erinnerte sich an die unzähligen Bewerbungen, die sie vor gut einem dreiviertel Jahr geschrieben hatte, weil sie nach dem ersten Semester geplant hatte, das Studium abzubrechen. 

„Ich möchte mehr praktische Erfahrungen machen. Das Studium erfüllt mich nicht auf die Art, wie ich es mir vorgestellt habe.”

Dies waren ihre Worte in fast jedem Vorstellungsgespräch, das sie führen musste. Es waren keine leeren Floskeln gewesen, sie war überzeugt davon, dass ein Studium nicht das Richtige für sie war. Als sie kurz darauf ein Angebot erhielt, musste sie sich der Frage stellen, wieso genau sie wechseln wollte. War es wirklich, weil die Arbeit ihr besser gefiel? Weil sie somit das Gefühl hatte, einen Platz gefunden zu haben, zu wissen, was sie tat und wer sie war? Weil sie so sicher sagen konnte: ”Ich mache dies und es erfüllt mich gänzlich”, so wie die anderen in ihrer Umgebung es taten? Damit sie sich nicht mehr so verloren fühlte? 

Oder vielleicht weil in dieser Zeit der Alltag viel mehr Raum für schwere Gedanken ließ. 

Sie hatte es lange Zeit versucht zu vergessen und all die Jahre war ihr das erfolgreich gelungen, bis sie sich vor ungefähr einem Jahr nicht nur in ihren Kinderzimmer zurückversetzt sah, sondern auch in die Zeit aus der es stammte. Dann sah sie Bilder von sich in jüngeren Jahren, als wäre sie nur eine unbeteiligte Zuschauerin.

Sie stand im Türrahmen des Gemeinschaftsraumes, der um das kleine Mädchen an dem Tisch in der Mitte viel zu riesig und verschlingend wirkte. Die grelle Lampe über ihr stand in viel zu starkem Kontrast mit der Schwärze des Abends außerhalb der bogenförmig Fenster an der gegenüberliegenden Seite. Und das Mädchen saß einfach nur da, die Stimmen und das Lachen der anderen älteren Kinder klangen gedämpft aus dem Nebenraum…

Es kostete sie alle Mühe diese Bilder dorthin zurückzuschicken, wo sie herkamen und ihren Gang fortzusetzen. Sie war schon auf dem Weg und konnte es sich nicht leisten, dass alte Geister sie heimsuchten. Und sie staunte innerlich darüber, wie viel einfacher das jetzt geschah. Vor einigen Monaten noch war es ihr vorgekommen, als sei sie durch die Isolation wieder an diesem Ort gelandet. Nur dass sie jetzt älter war und die Situation auf eine Weise verstand, wie es das kleine Mädchen wohl nie getan hätte. 

Als sie ihre Umgebung wieder wahrnahm, befand sie sich nur ein paar Meter weiter als zuvor noch. Mit dieser Geschwindigkeit würde sie ihr Ziel wohl erst in Jahren erreichen. Und irgendwo in ihrem Inneren dachte sie, dass das auch okay sei.

Sie war vielleicht weit davon entfernt, die Schrecken, die das letzte Jahr hervorgeholt hatten, zu verarbeiten, aber sie fragte sich manchmal, was gewesen wäre, wenn sie sich nie damit auseinandergesetzt hätte. Wenn sie nicht angefangen hätte, über sich und das was sie wollte nachzudenken. Nur wie konnte man an etwas arbeiten, sich weiter entwickeln, wenn das Leben um einen herum stehen blieb? 

Manchmal kam ihr schon der Gedanke, sie könne verlernt haben, wie man sich normal unterhält, wie man andere Leute anspricht, vor allem jetzt, wo die Menschen die Nähe kaum noch kannten. 

Erneut fragte sie sich, wie ihre Gedanken, die erst so positiv begonnen hatten, in so eine negative Richtung einschlagen konnten. Wann hatte sie je so viel Zeit in ihrem Kopf verbracht? Wann war es normal geworden? Wann war um sie herum diese Blase entstanden, die sie so mühsam schon einmal verlassen musste?

Kopfschüttelnd richtete sich ihr Blick wieder nach vorne und ihr Gang beschleunigte sich. Je näher sie dem Campus kam, desto mehr Menschen erkannte sie, die ebenfalls in die Richtung liefen. Das beklemmende Gefühl in ihrer Brust wuchs, als sie um die letzte Kurve ging und die ersten hohen Gebäude sichtbar wurden.

Auf ihrem Bildschirm war die Uni-Welt so klein gewesen, jetzt überragte es sie enorm.

Wieder dachte sie zurück an die Ausbildungen, die sie überlegt hatte, gegen das Studium auszutauschen. Die Fragen, die ihr damals durch den Kopf gingen hatte sie damit beantwortet – und das machte sie sich in diesem Moment, in dem sie erneut auf ihrem Weg zögerte, bewusst – dass es okay sein würde, ein Stück in der Schwebe zu hängen, statt zu wissen, wo sie sich befand. Dass niemand außer sie selbst verlangte zu wissen, wer sie war, oder wer sie sein wollte. Mit diesen Worten, die sie beinah wie ein Mantra in ihrem Kopf wiederholte, wurden die nächsten Schritte leichter.

2 Monate danach

Diesen ersten Schritt zu gehen, hätte nach über einem Jahr der Isolation befreiend wirken sollen. Ein erster Schritt in die richtige Richtung. Zu dem Leben, das man vorher kannte, an das man sich jetzt aber kaum noch erinnerte. 

Und doch ist es drei Monate später, als wäre dieser Hoffnungsschimmer nur eine Illusion gewesen. Zurück sind die Ängste, die Türen des Heimes werden geschlossen, man selbst verdammt sich hinter diese Türen, und träumt weiter von den Möglichkeiten, die man hätte haben können. 

Es scheint mir jedoch, als würden diese Träume immer unschärfer werden. Jahrelang wurden sie auf einer Leinwand vor mir abgespielt, auf die ich hinblicken konnte. In der Schulzeit war es das Erwachsen werden. Das Ausmalen meines späteren Lebens war so bunt und hell, ich wusste, ich könne alles tun. Wenn ich nur erst erwachsen wäre, oder einfach 18 Jahre alt, könnte ich ausziehen und mein Leben gestalten wie mir lieb war. Die Oberstufe hielt mir so viele Chancen offen. 

Die Furcht vor dem was danach geschehen würde war präsent, aber ich hatte Möglichkeiten, die ich ihr vorsetzen konnte. Ein Studium oder eben danach eine Ausbildung. Vielleicht auch erstmal ein Jahr Pause. Endlich den Rest der Welt zu sehen, das Buch zu schreiben, das mir seit Jahren im Kopf schwebt. Es gab immer einen Plan, immer ein imaginäres Nächstes und Übernächstes. 

Wenn es jetzt ans Nächste geht und ich habe das Gefühl, es rückt immer näher, ist diese Leinwand plötzlich schwarz. Plötzlich ist da Dunkelheit, die noch gar nicht dort sein sollte. Ich bin noch nicht am Ende und das weiß ich. Aber zum ersten Mal habe ich das Gefühl, dass ich nicht alles tun kann, weil ich nicht weiß, wie es weitergeht.

Das dritte Semester schreitet voran, die Hälfte eines geplanten Studiums liegt fast hinter mir und ich weiß, dass ich auf dem Papier studiere und digital (und manchmal körperlich) an Lehrveranstaltungen teilnehme. Aber ich studiere nicht wirklich. 

Ich möchte Menschen sehen und sie kennenlernen, aber dann frage ich mich: „Wollen sie das auch?” 

„Haben sie vielleicht schon andere kennengelernt?”

„Wie lerne ich andere Menschen kennen?”

Irgendwann habe ich mal gelesen – und die Erfahrung bestätigt es – dass man andere Menschen kennenlernt und Freundschaften schließt, indem man zu gleichen Zeiten, die gleichen Orte immer wieder besucht. So fanden wir Freunde in der Schule oder durch Hobbies. Aber wie findet man solche Freunde, wenn es diesen gemeinsamen Ort nicht gibt, weil er digital ist? 

Einige meiden viel Kontakt mit Anderen noch konsequent. Ist das richtig? 

Sollten wir das Risiko eingehen, damit wir den Teil, der dieses Miteinander braucht, nicht in uns begraben? 

Welches Risiko ist höher? Oder lautet die Frage eher: Welche Angst ist größer?

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Text von Laura, Gestaltung von Anna.

Laura ist 21 und studiert Germanistik und Kunstwissenschaften in Kassel. Sie schreibt schon, seit man ihr das Werkzeug dafür in der ersten Klasse in die Hand gedrückt hat. Damals wie Heute sind es fantastische Wesen und Welten, die sie am meisten interessieren und in die sie im Alltag abtaucht. 

In ihrer Kolumne gedankenkarussell bespricht sie unter dem Oberthema mental health Themen wie Zwangsgedanken, Depressionen und Ängste, die nicht immer gerne ausgesprochen werden. Damit versucht sie, mehr Offenheit und einen safe space zu schaffen für alle, denen es ebenfalls schwer fällt, darüber zu reden.

Anna ist 24, liebt das Meer, die Musik, schwarzen Kaffee und tolle Bücher. Wenn sie nicht irgendwo in Italien mit ihren Freund*innen am Aperitivi schlürfen ist, beschäftigt sie sich gerne mit Buchgestaltung und Fotografie. Bei TIERINDIR ist sie für die Gestaltung zuständig.

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