Monate: Januar 2022

„Das Gefühl, dass ich da auch hingehöre“ #Wie ist es eigentlich…?

Für die zweite Ausgabe von „Wie ist es eigentlich…?“ treffe ich Angelina, eine Freundin, die inmitten zweier sehr unterschiedlicher Kulturen aufgewachsen ist. Zwischen Supermarktregalen und bunten Spielzeugkartons sprechen wir über „doppelte Fremdheit“, die Bedeutung von Sprache, verschiedene Zubereitungsarten von Kartoffeln und grüne Limonade. Meine Frage: Angelina, wie ist es eigentlich aus einer russlanddeutschen Familie zu kommen? Bevor ich über die Feiertage zu meinen Eltern nach Hause fahre, sitze ich auf dem Sofa in meiner Einzimmerwohnung und denke nach. Über wen schreibe ich? Wer aus der Heimat würde sich mit mir für meine Kolumne treffen? Ich öffne WhatsApp, scrolle durch die Chatübersicht und sehe Angelinas Namen. Angelina ist das, was man eine „Sandkastenfreundin“ nennt. Wir wurden in der gleichen Stadt geboren und teilten uns gleichermaßen Pausenbrote und Versuche des Erwachsenwerdens. Seit unserem Abitur sehen wir uns jedoch nur noch selten. Ich lebe in Berlin, Angelina studiert BWL in Köln und verbringt ihre Freizeit als leidenschaftliche Skilehrerin. Ich beginne eine Nachricht zu tippen, um zu fragen, ob Angelina zufällig jemand einfällt und halte dann plötzlich inne. Mir …

Tanzen auf altem Parkett

Eine Kurzgeschichte Er bückte sich, um etwas in das Regal zu legen.Was es war, konnte sie nicht sehen.Sie vermutete aber ein Buch.Sie strengte ihre Augen ein wenig an, um einen Blick von seinem Gesicht zuerhaschen, während er sich wieder aufrichtete, aber der Winkel war zu schräg, durchden sie das Fenster auf der anderen Seite der Straße sah. Und dazu war dasFenster auch ziemlich klein, da oben im fünften Stock, knapp unter der Dachschräge. Sie hatte sich überhaupt nicht auf die Fensterbank gesetzt, um irgendjemanden zubeobachten, obwohl sie das gerne mal tat. Sie hatte sich eigentlich gesetzt, um einwenig weiter in ihrem Buch zu lesen, das sie letzte Nacht so gefesselt hatte, dass siees kaum hatte weglegen können. Er, drüben, konnte das wohl auch nicht und hattesein Buch gestern bestimmt noch bis mitten in die Nacht gelesen. Sie stellte sich vor,dass er bestimmt eine Freundin hatte. Das war ihr ganz klar. Und die Freundin hattees wahrscheinlich am Anfang der Beziehung noch gestört, dass seineNachttischlampe jedes mal so ewig an war. Er drehte den kleinen, grünen,metallenen Kopf …

Whatever makes you happy – oder erregt #offenherzig

Fetische sind etwas Schmutziges: Das zumindest scheint oft der gesellschaftliche Tenor zu sein. Doch für Alina und Mira lohnt sich der Blick in die Tabu-Ecke: Worin liegt eigentlich die Kritik an Fetischen? Die beiden beleuchten, was für emotionale Beweggründe hinter scheinbar verruchten Fetischen stecken können, ob sich ein devoter Fetisch und die Prinzipien des Feminismus ausschließen und wie bestimmte Fetische patriarchale Strukturen widerspiegeln. Denn eines ist ihnen besonders wichtig: Das Thema Fetisch heraus aus dem Tabu und in den Austausch zu holen. „Was ist eigentlich dein Fetisch?“, fragte mich vor etwa einem Jahr ein guter Freund, als wir uns bei Mate und Rollo über unsere jeweiligen Sexleben austauschten. Gute Frage, dachte ich mir und überlegte. „Du, das weiß ich gar nicht so genau“, musste ich jedoch resümieren. „Jede Person hat doch einen Fetisch“, entgegnete er. Ich nahm einen großen Schluck von meiner Mate und fragte mich innerlich Ist das so? „Also ich habe Vorlieben, natürlich. Ein paar bestimmte Verhaltensweisen meines Gegenübers, die mich besonders erregen. Das geht von Bissen am Hals zu Schlägen auf den …

Sprache ohne Worte

Triggerwarnung: In diesem Beitrag werden Szenen von häuslicher Gewalt beschrieben. Wenn es Dir damit nicht gut geht, lies den Text lieber nicht oder nur gemeinsam mit einer anderen Person. Wenn Du selbst von häuslicher Gewalt betroffen bist oder eine betroffene Person kennst, findest Du hier Hilfe. Augen können sprechenVor allem die Farben darunterVor allem das Blau und GrünUnd später mal das GelbVor allem halb geschlossene, tränende, fast schon vor dem Überlaufen stehende Augen können sprechen Du schleichst an all den Leuten vorbeiAls wär gestern nichts gewesenFast wünschst du dir, sie würden nicht tun als hätten sie nichts gehörtgesehen odergeahntFast wünschst du dir, sie hätten richtig hingesehen,Ihn auf dich losgehen sehen – Wenn Augen sprechen könntenDann würden die Farben darunter schreienWeil du es nicht durftest, nicht konntest, nicht können wirst Aber das kannst du ja nicht alles sagenUnd auf Fragen oder besorgte BlickeWinkst du nur lächelnd ab und meinstEs wäre alles besser als gedachtDu hättest alles halbwegs unter KontrolleEs könnte alles noch viel schlimmer sein,Du brauchst keine Hilfe, denn du hast es schließlich auch allein bis zu …

Das Medium Haut – Tattookünstler Florian Rudolph #FUTURABOLD

Florian Rudolph ist Tattookünstler und Besitzer eines queeren Tattoostudios namens TTTRIP in Berlin. Auch ich war schon Kundin in seinem Studio. Als ich vor unserem Termin in meinem Hotelzimmer am Rande einer Panikattacke war und der Termin ins Wasser fallen zu drohte, hat Florian mich kurzerhand selbst abgeholt und ist mir gemeinsam den Weg mit der U-Bahn zu seinem Studio gefahren. In einer Branche, die sehr zeitorientiert arbeitet, ist das keine Selbstverständlichkeit. Wer also ist Florian Rudolph? Welche Verantwortung trägt man als Tätowierer? Welche tiefere Bedeutung hat die Profession und was hat es mit Cultural Appropriation auf sich? Ich habe gefragt und bewundernswerte Antworten erhalten. Ich würde gerne mit deinem Werdegang einsteigen: Wie bist du zum Tätowieren gekommen? Ich glaube wir haben darüber schonmal gesprochen und du hast mir gesagt, du hast eigentlich Produktdesign studiert? Genau, ich habe ein Master im Produktdesign gemacht. 2014 hab ich den Abschluss gemacht, in Saarbrücken. Und bin dann nach Berlin gezogen, eineinhalb Jahre später. Dort war ich anfangs sehr viel alleine und hatte dann auch viel Zeit, darüber nachzudenken, …

Vanille- oder Schokoeis

ich sitz im bus, links von mir geht die sonne unter, das gelbe licht spiegelt sich im fluss und die stadt zieht rechts an mir vorbei. eine nachricht von dir reißt mich aus meinen gedanken und plötzlich vermiss‘ ich dich.ich will vanilleeis. es ist viel zu kalt für eis und eigentlich mag ich vanille gar nicht, ich würde immer schoko wählen, es ist unangefochten das beste eis.aber jetzt ich kenne den grund, warum ich trotzdem manchmal vanilleeis essen muss.ich will zu dir, mich dir nah fühlen, verbunden mit dir sein. ich brauche dich und vanille bringt mich zu dir.  du isst am liebsten vanilleeis.du bist bunt und laut und kreativwild und frei und eigendeshalb passt es einfach nicht zu dir,dass du es am liebsten isst. ich erinner mich an momente mit dirwir zusammen und immer du mit vanilleeis,meine sorten wechseln, hab verschiedene geschmäcker probiert.meistens schoko, aber auch mango oder himbeer.wir sitzen im park, es ist warm, wir verstecken uns im schatten vor der starken sonne.während dein vanilleeis schon wieder aus der waffel läuft, weil du zu …

Zwischen Kinderzimmer und Vorlesungssaal #gedankenkarussell

Nach zwei Semestern zum ersten Mal am Campus zu sein fühlte sich unwirklich an. Die Hoffnung auf Normalität wird begleitet von Ängsten und Sorgen. Doch kaum jemand fragt Student*innen eigentlich „Wie geht es dir mit all dem?“. Das Thema um psychische Belastung zu Corona-Zeiten wird unausgesprochen unter den Teppich gekehrt. Damit soll jetzt Schluss sein. Im aufkommenden Wind lag der Duft getrockneter Blätter, als sie die Tür zaghaft öffnete, die nach draußen führte. Die kühle Luft ließ sie ihre Jacke enger zuziehen und sie richtete den Blick auf die Vorgärten der benachbarten Häuser. Etliche Blätter hatten sich in Folge des Herbstes am Boden gesammelt, sodass es ein Wunder war, dass die Bäume noch so voll mit ihnen waren. Sie fragte sich, wann sie die Welt das letzte Mal so bunt gesehen hatte.  Wieso war es plötzlich so schwer los zu gehen? Es war ihr erster Tag, und? Für so viele andere war er das auch. Ein Blick auf die Uhr verriet, dass sie nicht wie erhofft noch Zeit zum Zögern hatte. Die erste Vorlesung begann …

Das kleine Glück ist groß

Am Morgen, wenn der Tag noch neu und unberührt, oder am Abend, wenn der Tag bereits vergangen und verbraucht ist, machen wir uns Gedanken. Gedanken darüber, was noch wird oder was bereits war. Wir schmieden Pläne für den Tag, erstellen To-Do-Listen und schreiben Notizen. Wir wollen nichts vergessen, alles erledigen, jedem gerecht werden und zuletzt einfach einen Haken hinter den Tag setzen. Mit einem fetten Punkt oder einem großen Ausrufezeichen dahinter. Um am Ende des Tages sagen zu können: „Ich habe alles geschafft, was ich mir für den Tag vorgenommen habe“.  Blicken wir auf den Tag zurück, erinnern wir uns an die erledigte Buchhaltung, den kleiner werdenden Papierstapel auf dem Schreibtisch, an die erfolgreich absolvierte Präsentation. Oder an den wieder vollen Kühlschrank, die gemachten Uniaufgaben, den gemähten Rasen. Das sind Pflichten und Prinzipien, Verbindlichkeiten und Selbstverständlichkeiten. Sie gehören zu unserem Leben, unserer Selbst und zum Alltag dazu. Sie füllen den Tag. Aber ist der Tag dadurch erfüllt? Sind wir dadurch erfüllt? Denn blicken wir noch länger auf den Tag zurück, haben wir zwar nichts vergessen, …