Körper & Bewusstsein
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Das Potential des Sommers #readyornot

Triggerwarnung: Dieser Text behandelt die Themen Selbstverletzung und psychische Krankheiten.

20.08.21 

Morgen wird die Sonne wieder scheinen, und wir werden zum Strand gehen. Das Meer wird warm sein. Ich kann nicht glauben, dass es Sommer ist, dass ich immer noch lebe. 

#readyornot beschäftigt sich mit Zwangsstörungen. Sie werden häufig missverstanden oder als „Putzfimmel“ abgetan, was sehr schade und hinderlich ist: Durchschnittlich werden Betroffene nämlich erst nach neun Jahren diagnostiziert. Menschen mit Zwangsstörungen leiden unter unerwünschten Zwangsgedanken und/oder unter Zwangshandlungen, die ihren Alltag zunehmend vereinnahmen und alle möglichen Themenfelder umkreisen können. Effektiv behandelt werden Zwänge mit kognitiver Verhaltenstherapie und Konfrontation mit Reaktionsmanagement, oft in Kombination mit einem Antidepressivum.

Dieser Sommer gleicht tatsächlich keinem bisherigen: Ich kauere zwischen Weinbergen und bin traurig. Da hängen überall Feigen, die schmecken nach Honig, süß, schön. Ich lösche den Chat mit dir und wir stoßen darauf mit Champagner an, ich sprudele über vor glucksendem Stolz. Ich spüre die unerträgliche Leichtigkeit des Seins wieder. Ich schaue die Halbkugeln lange an, stoße und schlucke die bitteren viergeteilten Tabletten. Ich bin stolz auf diese Entscheidung. Das Medikament hilft mir. Ich habe zum ersten Mal seit Jahren einen Tag Ruhe in meinem Kopf und will es in die Welt schreien. Ich küsse ein Mädchen und sie hat die schönsten Haare der Welt. Ich laufe durch nasse Zuckerwatte und klebe und heule. Ein paar Typen starren mich bewundernd an und lächeln viel zu genießerisch. Mich befällt der Ekel und ich schaue an die Decke. Ich bin nicht bereit für mehr als Küssen.

Dieser Sommer zwingt mich, mich selbst aufzufangen. Zum zweiten Mal eine Trennung im Mai, zum zweiten Mal den Freund ins Spinnennetz gezogen und alle Ängste auf ihn übertragen. Zum zweiten Mal „Ich konnte es dir nicht sagen, dir ging es ja so schlecht, ich wollte warten, bis es dir wieder besser geht.“ Mein Herz ist voller Tränen und ich verabschiede mich langsam von einer guten Freundin.

Die gute Freundin ist eigentlich gar keine. Aber ich kenne sie schon sehr lange. Mit zwölf hat sie mir erzählt, dass ich meine Eltern umbringen möchte. Mit fünfzehn, dass ich an einer tödlichen Krankheit sterben werde. Mit zwanzig, dass ich ein schlechter Mensch bin. Ich bin auf ein Hörbuch gestoßen, dass mich berührt und fesselt: Lily Bailey erzählt darin von ihrer Zwangsstörung, von ihrem OCD, das sie seit ihrer Kindheit in Atem hält. „Because we are bad“, heißt es. We. We, denn so lang Lily denken konnte, war sie immer zwiegespalten: Da gab es einmal sie selbst und dann das andere Mädchen in ihrem Kopf; das sie zwang, nächtelang wachzubleiben und Listen in ihrem Kopf aufzustellen. Das ihr immer mehr Fragen stellte und keine Antworten lieferte. Nicht ohne Grund nennt man OCD im englischsprachigen Raum auch doubting disease. Eine Zwangsstörung ist ein Teufelskreis. Du bekommst extreme Angst vor etwas, irgendetwas, und versuchst, das Worst-Case-Szenario mit allen Mitteln von dir wegzuhalten. Eigentlich wolltest du dir bloß sicher sein, und plötzlich wäscht du dir siebzig Mal pro Tag die Hände, weil du das Gefühl hast, sonst deine Familie zu vergiften. Plötzlich fragst du alle deine Freunde wiederholt danach, ob du ein guter Mensch bist. Plötzlich schaust du Kindern nicht mehr ins Gesicht, weil du Angst hast, pädophil zu sein. Plötzlich befragst du Google, ob du ein Psychopath bist. Plötzlich gibt es keine Entspannung und keinen sicheren Ort mehr für dich, denn du schleppst dein Gehirn überall mit hin. Plötzlich hast du vor nichts mehr Angst als vor dir selbst. Plötzlich tust du alles, um dir zu entkommen.

Betroffene haben Zwangsgedanken, so wie sie bei jedem Menschen ab und an auftreten: Du wartest auf den Zug und stellst dir vor, jemanden auf die Gleise zu schubsen. Du siehst ein Messer und spürst den verrückten Impuls, deine Mutter abzustechen. Du sitzt in der Uni und denkst: Ich könnte mich jetzt ausziehen und auf den Tischen ein Lied von Ice Cube performen. Das menschliche Leben bietet ein Kaleidoskop an Möglichkeiten ohne vordefiniertes Farbspektrum. Es bietet eine Menge Spaß und unendliche Grauzonen, aber Menschen mit einer Zwangsstörung teilen ihre Welt und ihre Identität, ordentlich wie ein Schachbrett, in Schwarz und Weiß ein. Entweder Leben oder Tod, entweder gesund oder krank, entweder richtig oder falsch. Ein Gedanke blitzt in dir auf, ein seltsamer und abstoßender Gedanke vielleicht; und dein Leben dreht sich um 180 Grad.

Du tust alles, um wieder „normal“ zu sein, um dein Leben zurückzubekommen, um dich wieder sicher zu fühlen. Nichts hilft. Du wachst auf und dein Herz schlägt müde und schnell, denn sobald die Sonne in dein Zimmer strahlt, beginnst du nachzudenken: Wie fühle ich mich heute? Bin ich ein schlechter Mensch? Was ist, wenn ich heute etwas Schlimmes tue? Die Sommernächte sind lang, aber du siehst die Blumen und den Sonnenbrand auf deinen Beinen nicht. Jedes Eis ist vergiftet. Du hast deinen Freund betrogen, „Was unterscheidet mich von einem Serienmörder?“, du bist eine international gesuchte Verbrecherin, „Willst du die Melone schneiden?“, du hast Corona und steckst deine Großmutter an, „Liebst du mich wirklich?“. 

Du bleibst im Bett und stapelst Steine in deinem Zimmer, die du irgendwo gefunden hast. Du begräbst die Farben in deinem Kopf und lernst, dir nicht zu vertrauen. Du atmest nur noch flach und spannst ständig alles an. Du redest viel, lächelst viel, aber eigentlich hörst du nicht mehr zu. In deinem Kopf ist kein Platz für Liebe, denn da findet eine dauerhafte Gerichtssitzung statt, ohne Verteidiger. Da sind Richter und Anwälte, die sich nie einig werden, und jeden Tag kommen neue Zeugen hinzu. Ich habe viele Sommer in diesen Verhandlungen verbracht, vor fünf Jahren zum Beispiel. Das waren drei Wochen in Thailand, drei Wochen in meinem Kopf. Das Mädchen in meinem Kopf war sich sicher: Ich war eindeutig schwanger. Was sollte ich meinen Eltern erzählen? Wie konnte das passieren? Ich muss abtreiben. Fuck, Fuck, Fuck. (Ich erinnere mich an wenig und fror sogar im Meer, weil mir die Angst die ganze Zeit wie ein schleimiger Algenklumpen am Knöchel hing.)

Aber diesmal ist etwas anders. 

Ich liege im Bett und – ich liege im Bett. In meinem Kopf ein brummendes „Hm?“, man wundert sich dort oben: Liegt da etwas quer? An den Tapeten, die meine Amygdala kleiden, stößt sich eine Fliege an. Ich ernte Tränen, ich wage es kaum, zu atmen. Mein Kopf ist wieder Kind. In unbändige Freude gehüllt schwebe ich über die Straßen. Ich bin mir sicher, ich bin mir sicher, ich bin mir sicher: Ich bin ein Mensch. Draußen ist die Welt grüngetunkt, der Wald goldenes Sonnenmeer. Diese Diagnose, diese endlose Recherche, dieser Seemannsknoten voller Hass und Schmerz und Tränen bouncet lahm hinter mir her, an meinem Bein festgebunden, glaube ich. Ich blitze in der Sonne, und für den dunklen Knoten ist es fast zu hell. 

Meine Therapeutin fragt mich, wo ich denn mein „aktuelles Ich“ im Raum verorten würde. Ich stecke mich in die Heizung, festgeklemmt und schwitzig. Dann fragt sie, wo das Ich ist, das ich gerne sein würde. Das steht am Fenster und atmet. Sie nimmt ein Maßband und sagt mir leise die Zentimeterzahl. Die beiden sind so nah beieinander. Warum greife ich nicht hoch, sagt sie mit fast unhörbarem Vorwurf in der Stimme. Und ich weiß es nicht. 

An schlechten Tagen will ich die Vögel abknallen, mein Zimmer mit einer Abrissbirne plattmachen und für immer schlafen. An schlechten Tagen vergesse ich, dass fünf Stunden OCD-Education verschlingen auch eine Zwangshandlung ist. An schlechten Tagen atme ich nicht, sondern starre nur und scrolle und fühle mich verschlungen oder ausgespuckt, an schlechten Tagen habe ich Angst vor mir selbst. 

Wir waren über die Corona-Zeit hinweg zusammen gewesen. Ich wollte mit dir feiern, mit dir essen gehen, mit dir rausgehen. Viel von diesem Chaos hatte ich immer auf die Pandemie geschoben. Alternativ: Wenn du endlich eine Wohnung hast. Wenn ich endlich klarkomme. Wenn wir nicht mehr die ganze Zeit aufeinanderhängen. 

Wir treffen uns bei dir, zum letzten Mal. 

Ich bin so sprachlos, dass ich nur kurz weine. Ich gehe unendlich langsam aus der Tür, klingele nochmal, weil ich weiß, dass ich nie wieder zurückkomme. Nicht wirklich. In deinem halbmöbilierten Zimmer hängen Zeichnungen von mir, auf dem Bett mein Kissen, meine Decke und mein Herz.

Diesmal ist es anders, ein Teil von mir hat sich sofort von dir abgelöst, denn wir haben uns so sehr im Kreis gestrudelt, dass die Wahrheit mir jetzt die Augen verbrennt. Ich starre und starre und es bleibt hell. Du konntest mir nicht helfen. Ich habe mich nur noch um mich selbst und um meine Ängste und Zwänge gedreht. Du hast dich verloren und weit weg gefühlt. Ich sitze auf deiner Matratze und tropfe. 

Ich entferne mich von meiner Moralität und gehe in eine Shisha-Bar. Der Rauch schmeckt angenehm und kühl und nicht wirklich nach Wassermelone, mir wird schwindlig und anscheinend ist da unendlich viel drin! Ich ziehe ein paar Mal an Zigaretten und könnte heulen vor Freude. 

Ich kann das hier nicht mehr schön verpacken und ausschmücken: Ich kann es nicht. Ich möchte nicht nachdenken. Irgendwas steckt fest, tief in meinem Herz. Ich schmelze in mein Bett, die Hände Pudding, die Augen flackern suchend im Zimmer umher. Mein Leben ist durchtränkt von der dunklen Bedeutung, die ich ihm verliehen habe. Diese Benommenheit zermürbt mich; Ich nehme sie mit ins Bett. Alle Schattierungen und Sterne habe ich auf eine Frage reduziert. Es gibt keinen Weg, diesen Knoten aufzulösen. Kalt, stumpf. Ich weiß nicht, ob ich oder eine Leiche diesen Text hier tippen. Normalerweise finde ich die Vorstellung gruselig, nie wieder aufzuwachen, aber gerade eben klingt die Aussicht ziemlich friedlich. 

Dieser Sommer ist durchtränkt von einer trotzigen Motivation. Ich habe entschieden, so tief drinnen, dass es sich nicht mehr rückgängig machen lässt: Ich hasse mich nicht mehr. Und deshalb muss ich innehalten, bei all den Verrenkungen, der endlosen Suche: Ich presse meinen Kiefer nicht mehr zusammen. Ich hinterlasse keine Zahnreihen in meinem Unterarm. Ganz viel höre und lese ich über unconditional self love. Das schönste Konzept, und am allerschwersten umzusetzen. 

Mir wird schlecht vom glitzernden Meer. Ich grabe in den Millionen Sandkörnern und denke an das Lied, das mir mein Exfreund geschrieben hat. […Ich liebe dich einmal, für jedes einzelne Korn Sand, an jedem auf dieser Erde auffindbaren Strand…]  

Ich spreche mit meiner Therapeutin über Früchte, das Erntedankfest, was ich denn so gesät habe. Ja, ich bin stolz. Der Herbst kommt, und mit ihm Blattkonfetti am Boden. Kühle, dankbare Luft, Kürbisse, Tee. Ich bin so unwiderruflich anders als noch im Frühling. Ich öffne das Fenster, und an keinem Morgen bleibt es dunkel. Ich bin froh, dass der Sommer vorbei ist. 

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Der Text und die Gestaltung sind von Ronja.

Ronja ist 22, studiert Freie Kunst und fasst gerne Dinge in Worte. Ihre Kolumne illustriert sie selbst. Gedichte mag sie sowieso, und Menschen portraitieren auch: In Tusche und in Bleistift.

In ihrer Kolumne readyornot erzählt sie von Zwangsstörungen und vom absurden Leben.

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