(Triggerwarnung: Essstörungen)
Meine Gefühle gehen manchmal so tief, dass ich Angst habe, auf der anderen Seite der Erde herauszukommen. Oder mich selbst wie ein schwarzes Loch zu verschlucken. Lustiger Gedanke, aber lange wollte ich genau das. Verschwinden ohne jede Spur. Schön nachhaltig, keine Rückstände. Am liebsten wäre es mir gewesen, wenn ich dafür nichts zu tun gehabt hätte. Der Boden öffnet sich, saugt mich auf und that’s it. Niemand fragt nach, niemand vermisst etwas. Dachte ich. Doch die Welt hat diese Option nicht auf Wunsch im Angebot, also anders.
„An dir ist ja gar nichts mehr dran“ meint meine Oma, als wir uns zur Begrüßung umarmen, gefolgt von „nimm doch mal wieder ein paar Kilo zu“. Wir haben uns lange nicht mehr gesehen. Mittlerweile sind diese Begrüßungssätze bei meinen Besuchen zu Floskeln geworden. Sie mache sich doch nur Sorgen, sagt sie dann. Früher hatte ich immer das Gefühl, dass da eine Art Barriere zwischen meiner Umwelt und mir ist, eine unsichtbare Membran, die beidseitig nur tröpfchenweise Dinge durchlässt. Diese Schutzhülle wurde über die letzten Jahre immer poröser. Was sich in mir abspielt, trage ich nach außen und das zeigt sich auch an meinem Körper. Versuche, mir meine inneren Brüche nicht ansehen zu lassen, werden mühsamer.
Ich kann mich nicht daran erinnern, wann ich das erste Mal auf eine verdrehte Art und Weise über Essen nachgedacht habe. Im Teenageralter lag der Vergleich mit den Körpern von Freundinnen bei Schwimmbadbesuchen und Übernachtungsparties nahe. Bei jeder Gelegenheit unterlag ich der Versuchung, meine mir fremde Fleischhülle einzureihen. Doch in sämtlichen Kategorien schien ich mich am falschen Ende zu befinden. Kleiner, zierlicher, süß wäre ich damals gerne gewesen. Die einfachste Möglichkeit, mich auf den Skalen in meinem Kopf in die richtige Richtung zu bewegen, war das Essen. Oder vielmehr das Nichtessen. Am Anfang musste alles gesund sein, schnell schlug es jedoch ins Hungern um. Was ich damals nicht verstand, war die Tatsache, dass die schlimmsten, längsten Hungerphasen mit den Zeiten einhergingen, in denen ich Familienmitglieder verlor oder in denen ich mit schwierigen Situationen nicht anders umzugehen wusste. Mein Gehirn befahl Rückzug, Isolation. Dazu kamen Schuldgefühle den Menschen gegenüber, die sich um mich kümmern wollten. Denn egal wie stark man sich einzureden versucht, dass man komplett alleine ist, irgendjemandem bedeutet man doch immer etwas. Das zu verdrängen kostet auch Lebenskraft. Kraft, die mich in einigen Momenten komplett verließ. Das Gefühl, nach außen hin nie so sein zu können, wie ich es gerne gewesen wäre, machte meinen Körper zum Hassobjekt, bei dessen Zerstörung sich meine Wut und meine Ängste, die letzten Energiereste in mir, entluden. Verschwinden war das naheliegende Ziel, weil ich mich meist eh schon unsichtbar fühlte. Wenn ich für kurze Momente sichtbar wurde, dann betäubten mich Unsicherheit und Selbsthass. Sie entwickelten auch eine Choreografie für Situationen, in denen Menschen klar werden konnte, wie schlecht es mir ging. Die erste Lektion in Sachen Essstörung ist das
Versteckspiel und ich hatte ja bekanntlich ein Talent dafür. Die extremen Tiefen ja nicht zeigen und das Spiel solange weiterspielen, bis nichts mehr von mir übrig ist. Die Person, die ich am häufigsten belog, war ich selbst.
Es ist Donnerstagmorgen, ich sitze im Schneidersitz auf dem Boden und wühle mich durch einen Berg alter Fotos, Eintrittskarten und anderer Papierschnipsel, die meine Oma in einer Kiste auf ihrem Speicher aufbewahrt hat. Mir schießt ein Satz aus einem Film in den Kopf, den ich vor Kurzem gesehen habe: In Japan glaubte man lange, dass der Akt des Fotografierens einen Teil der Lebenskraft oder gar die Seele rauben könnte, weshalb Personen Angst davor hatten, fotografiert zu werden. Ich frage mich, was Menschen denken werden, wenn sie in vielen Jahrzehnten Kinderfotos von mir sehen. Welche Teile von mir bleiben in ihnen erhalten? Wie viele weitere Fotos existieren, in denen nur ein winziges Fragment von mir im Hintergrund bestehen bleibt? Wie viele Leben habe ich vielleicht gestreift, von denen ich gar nichts weiß?
Hinter mir liegen mit Hunger und Scham gefüllte Jahre, aber heute weiß ich, dass ich ab der Sekunde, in der ich geboren wurde, nie unsichtbar war, nie verschwinden konnte. Ich war immer da und Überreste von mir werden es noch eine ganze Weile sein. Schwere Zeiten lassen manchmal das Unmögliche möglich erscheinen. Ich denke, es ist unsere Aufgabe zu bleiben und unsere Membranen immer weiter abzustreifen.
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Der Text ist von Michelle. Sie lebt in Frankfurt und arbeitet im Kunstbereich. Nebenher schreibt sie immer mal wieder kleine persönliche Texte, die manchmal ihren Weg in die Welt finden.
Gestaltet wurde der Beitrag von Helena