Körper & Bewusstsein
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Wenn sich dein Leben um 90 Grad dreht

Stellt euch vor, ihr seid Mitte 20, kommt gerade von einer Wanderung mit einer Freundin nach Hause und fangt an auf eure Prüfungen für die Uni zu lernen. Ihr werdet bald gegen Covid geimpft, bald fallen die Einschränkungen und ihr könnt wieder mehrere Freunde treffen, ins Restaurant gehen oder ins Kino. Ihr habt eine tolle Familie, habt erst gestern erfahren, dass ihr Tante/Onkel werdet und ihr freut euch, eure Freunde bald wieder zu sehen.

Ihr setzt euch an den Tisch um Abend zu essen, auf eurem Fitnessarmband seht ihr, dass euer Ruhepuls bei 52 liegt. Ziemlich cool, da sieht man wohl doch den Effekt von Sport.

Watte im Kopf

Eine Woche später steht ihr auf und fühlt euch komisch. So, als ob man Watte im Kopf hätte oder einen heftigen Kater, aber ihr habt gar nichts getrunken. Zu Mittag bekommt ihr Kopfschmerzen. Drückende, ein bisschen als ob sich ein Elefant auf den eigenen Kopf gesetzt hätte. Ihr denkt euch nichts dabei, schließlich ist das Wetter heute auch total eigenartig, wechselt ständig zwischen Regen und Sonnenschein. Diese Kopfschmerzen bleiben bis ihr euch ins Bett legt. Als ihr aufwacht, sind sie verschwunden.

Es dauert ein paar Stunden, und der gleiche Schmerz setzt wieder ein. Dazu wird euch schwindlig. Das wiederholt sich ab jetzt jeden Tag, bis ihr nach einer Woche zum Arzt geht. 

Die Schmerzen werden immer stärker

Die Kopfschmerzen vergehen nur, wenn ihr liegt. Im Sitzen sind sie nur da, im Stehen werden sie stärker und bei Bewegung werden sie irgendwann so unerträglich, dass ihr nur noch aufsteht, um ins Bad zu kriechen. Ihr zieht wieder zu euren Eltern, denn ihr seid nicht mehr dazu in der Lage, euren Alltag alleine zu bewältigen. Selbst ein Brot zu schmieren oder aufs Klo zu gehen wird maximal anstrengend.

Das Fitnessarmband tragt ihr schon lange nicht mehr, weil ihr keinen Sport mehr machen könnt. Euch ist aber mal aufgefallen, dass euer Puls im Sitzen bei 110 liegt. Normal, wenn man Schmerzen hat, oder?

Eure Freunde verabreden sich, fragen ob ihr auch kommt und ihr würdet liebend gerne, aber ihr wisst, dass ihr es nicht aus dem Haus schaffen würdet. Zumindest nicht so weit. Ihr geht (bzw. fahrt, denn gehen könnt ihr kaum noch) zu gefühlten 100 Ärzten*innen und verbringt bald 80% des Tages liegend, weil alles andere unerträglich wird. Eure besten Freunde kommen kurz vorbei um bei euch zu sein, damit ihr nicht komplett vereinsamt. Ihr steht auf, um Popcorn zu holen und eure Freundin sagt „Leg dich lieber hin, ich mach das schon, du kannst den Schmerz in deinem Gesicht nur ganz schlecht verbergen“. Das wusstet ihr gar nicht, weil euch einzelne Ärzt*innen vermittelt hatten, es wäre alles nur rein psychisch, vielleicht durch Stress ausgelöst und ihr „seht ja eigentlich gar nicht so krank aus“.

Man macht gefühlte 100 Untersuchungen um die Krankheit zu finden, und man findet: nichts. Wieder wird angesprochen, ob ihr nicht einfach viel Stress habt. Langsam fragt ihr euch, ob ihr verrückt seid und euch das alles nur einbildet. (An dieser Stelle ein Artikel über Medical Gaslighting, sehr wichtig.)

Wer liegen muss, der kann kaum am Leben teilhaben

Ihr versucht, zumindest noch für die Uni zu lernen, was anderes kann man im Liegen ja eh nicht machen. Die Gesellschaft scheint irgendwie nicht darauf ausgerichtet zu sein, nicht aufrecht sein zu können. Wer liegen muss, der kann kaum am Leben teilhaben.

Ihr fragt euch, wie ihr eure Prüfungen schreiben sollt, denn dafür müsste man 2 Stunden am Stück aufrecht sitzen. Ihr fragt euch, wie ihr im Sommer arbeiten sollt, denn wie arbeitet man, wenn man kaum gehen kann? 

Klingt alles wie ein dystopischer Alptraum? Ist es leider nicht. Das war mein Leben für 2 Monate. Dann hatte man die richtige Diagnose.

Ich bekam ein Medikament und meine Symptome waren nicht plötzlich komplett verschwunden und alles war rosa und schön, aber ich konnte nach 2 Tagen plötzlich wieder einigermaßen normal leben. Aufrecht sitzen zum Lernen. Sich selbst was kochen. Selbst in die Stadt gehen und wissen, dass man auch aus eigener Kraft wieder zurückgehen kann, da die Schmerzen zwar nicht verschwunden, aber auszuhalten sind.

Was ist denn nun die Krankheit und warum erzähle ich diese Geschichte?Weil die Krankheit selten ist. Den meisten Betroffenen wird unfassbar schwindlig und schwarz vor Augen, sobald sie aufrecht sind. Einige werden mehrmals am Tag ohnmächtig, nur wenige haben starke Kopfschmerzen. Aber alle der oben genannten Dinge sind gleichermaßen einschränkend und halten einen davon ab, „normal“ am Leben teilzunehmen. Trotzdem werden Betroffene manchmal belächelt, weil ihnen nicht geglaubt wird.

Posturales orthostatisches Tachykardiesyndrom

Die Krankheit heißt POTS – Posturales orthostatisches Tachykardiesyndrom und ist eine Störung des autonomen Nervensystems (das so ziemlich alles reguliert, was einem nicht bewusst ist, wie Puls, Blutdruck und Verdauung). Das bedeutet, der Herzschlag steigt in aufrechter Position >30 Schläge an, fast so als würde der Körper jedes Mal einen Marathon laufen, sobald man aufsteht. Dadurch kommt zu wenig Blut und in Folge Sauerstoff ins Hirn, was dann die Symptome auslöst.

Von meinem Fenster aus sehe ich den Berg, auf den ich vor der Krankheit mit einer Freundin gewandert bin, und frage mich, ob und wann ich je wieder aus eigener Kraft bis zum Gipfelkreuz gehen kann. Tatsache ist, ich weiß es nicht. Vorerst bin ich dankbar, schmerzfrei hier sitzen und diesen Text tippen zu können. Manchmal sind es wohl die kleinen Dinge im Leben, die eigentlich ganz groß sind.

Lia ist 24, studiert Medizin und liebt die Berge, auch wenn sie diese momentan nur vom Tal aus bewundert. Mit Kochabenden und Mitternachtsgesprächen kann man bei ihr nie was falsch machen. Außerdem schreibt sie manchmal, um ihre Gedanken zu ordnen.

Gestaltet wurde der Beitrag von Celina.

Falls ihr mehr zu POTS wissen wollt, könnt ihr gerne auf einer Website von und für Betroffene nachlesen.

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