Hier & Jetzt
Schreibe einen Kommentar

Quantifizier Dich – auf ein Mittagsmenü mit der Leistungsgesellschaft #gibmirwiderworte

Hast Du Dich schon mal aktiv mit der Leistungsgesellschaft auseinandergesetzt? Also Dich nicht nur seinen Anforderungen unterworfen, sondern mit ihm gemeinsam Mittag gegessen? Hier folgt ein Einblick in ein wirklich katastrophales Rendezvous. 

Er tritt verspätet an den Tisch, der seit einer halben Stunde für uns reserviert ist. Einfach, weil er es kann. In einem schicken Anzug, der für den gegenwärtigen Anlass viel zu übertrieben ist, sitzt er mir gegenüber und fingert an den untersten Knöpfen seiner kunstvoll bestickten Weste. Gerne würde ich das eindeutig von den Delfter Fayencen inspirierte Muster komplimentieren, doch ich habe Sorge vor seiner Reaktion, wenn er mit diesem Begriff nichts anzufangen weiß. Von der textilen Beengung befreit, spannt sein Wohlstand leicht über dem Hosenbund und unter dem perlweißen Hemdstoff.
Von diesem äußert unangenehmen Auftritt bin ich nicht wirklich überrascht, denn was soll man von jemandem erwarten, dessen Existenz daraus besteht, Forderungen zu stellen. 

Wir sitzen in einem viel zu teurem Bistro in Berlin-Mitte. Das Mittags-Angebot würde ich mir unter normalen Umständen nicht mal abends zu einem besonderen Anlass gönnen, doch ich will dazu gehören und erst recht keinen schlechten Eindruck hinterlassen. 20 Minuten nachdem wir bestellt haben, lächelt mich mein Stundenlohn von einem Porzellanteller aus an, der anscheinend abgetropft hat, anstatt abgetrocknet zu werden. Zu dem tragischen Salat mit Walnusstopping portioniere ich die 200ml Leitungswasser für 2,50 Euro akribisch. Mein Gegenüber schlürft um 13:25 Uhr einen Espresso Martini, denn Höchstleistungen kommen schließlich nicht zu hundert Prozent aus Eigenressourcen. 
Eigentlich wollten wir über meine Zukunft sprechen, doch bei dem Anblick macht sich ein Fluchtinstinkt in mir breit. Denn wenn das, was sich gerade vor mir selbstgefällig die Kräutermarinade der Snackoliven aus den Zähnen puhlt, ein Mitbestimmungsrecht in der Angelegenheit meiner Zukunft hat, dann sieht es für mich ziemlich düster aus.  

„Und? Wie kann ich Dir denn nun helfen?“, tönt es in der Atempause zwischen Schlucken und Schmatzen. Die Frage ist gut, denn das wüsste ich selbst ganz gerne.
„Eigentlich dachte ich, dass Sie etwas von mir möchten“, ich beiße mir auf die Zunge, denn die Frage was ich für wen tun und womit ich wem helfen kann, stelle ich mir schon viel zu lange. Irgendwo tief drinnen weiß ich, dass die Erwartungshaltung, mit den eigenen Fähigkeiten irgendjemandem zu genügen, nie so richtig zum Ziel führen kann. Aber meine intrinsischen Weisheiten habe ich schon zu tief geschluckt, als dass ich sie jetzt hier auspacken könnte.  

„Diese Haltung ist etwas überzogen, findest Du nicht? Schließlich kommen Verdienst und Stellung nicht von irgendwie, etwas Eigeninitiative ist da schon nötig“, daraufhin fehlt es mir schlicht und ergreifend an einer Antwort. Die Intensität, mit der mich seine misslungene Fremdeinschätzung trifft, verletzt mich nicht nur, sie hindert gar jegliche Aussicht auf Heilung.
An meinem Schweigen ergötzt sich mein Gegenüber aber sichtlich, daher lege ich mir meinen Konter nun etwas bedachter zurecht: „Ist aber der Anspruch, in jeder Tätigkeit alle anderen zu übertreffen und gegen wieder andere gemessen zu werden nicht etwas unnötig? In den meisten Fällen wollen wir in unserer Gesellschaft doch etwas voneinander und nur selten wirklich etwas gegeneinander“, mag sein, dass hier nun ungefilterte Jahre des Strebens nach ungeteilter Anerkennung und der Erfüllung einer Norm aus mir sprechen, aber was raus muss, muss raus.

 „Ein gut gemeinter Rat meinerseits: Denk doch einfach ein bisschen weniger über die großen Dinge nach, ja?“habe ich zuvor meine Zunge malträtiert, würde ich ihm die seine gerade gerne aus dem selbstgefälligen Mund reißen. 
„Und Sie können sich absolut nicht vorstellen, dass ich nicht so scharf darauf bin, ungebeten ein fremdbestimmtes Preisschild auf meine Leistungen packen zu lassen?“, denn viel zu lange habe ich die Quantifizierung meiner Person schon ertragen müssen. Nachkommastellen machen mittlerweile einen zu großen Teil meiner Selbstzweifel aus, davon will ich mich befreien. Denn lieber will ich an Ergebnissen knabbern als an Evaluationen. 
„Nun ja, das ist ziemlich offensichtlich. Also wer sich nicht verkaufen kann, der kann auch keinen Preis verlangen. Manchmal liegt es auch einfach an Dir selbst “

„Das musste jetzt wirklich sein, ja? Und außerdem: Warum Duzen Sie mich eigentlich, ich habe Ihnen diese Ebene nicht angeboten“, war ich eigentlich auf ein Gespräch zur Gestaltung einer Perspektive eingestellt, sehe ich mich nun vor den Kopf gestoßen. Einen Freifahrtschein mit Sitzplatzreservierung, auf in die strahlende und sorgenfreie Zukunft, habe ich mir nun auch nicht unbedingt vorgestellt. Mit einem derartigen Verkehrsunfall an Zwischenmenschlichkeit habe ich aber unter keinen Umständen gerechnet. 
„Ich spüre hier über den Tisch hinweg eine klare Hierarchie, das Sie muss man sich verdienen“, diese Anmaßung ist wie eine einzige Karambolage der angemessenen Gesprächsebene.
„Haben Sie man oder Mann gesagt? Mir ist es doch recht neu, dass ich für Respekt mit Lebensjahren bezahlen muss“, wenig überraschend geht diese Rechnung auch nicht auf. Respekt hat man sich nicht zu verdienen oder einzufordern, Respekt sollte Grundbaustein jeglicher Interaktion sein. Dass man Respekt genauso gut wieder verlieren kann, das ist eine andere Angelegenheit. 

„Nicht per-se Lebensjahre, aber Erfahrung ist das wertvollste Gut, da zahlt sich jede Investition aus“, diese kalkulatorische Betrachtungsweise des Daseins überrascht mich dann doch herzlich wenig. 
„Na Sie haben ja eine Ahnung vom Anlegen. Und Ihre Erfahrung unterliegt auch keinerlei inflationären Schwankungen, ja? Unter Umständen sollten Sie in Ihrer Erfahrungsbilanz auch Abschreibungen listen“, die künstliche Rangordnung der Generationen anhand aus Lebenserfahrung resultierender Weisheit, wird sich mir wohl nie erschließen. Alter ist in den seltensten Fällen eine Entschuldigung und noch viel seltener als unanfechtbare Begründung geeignet. 

„Die eigene Zukunft kannst Du aber schwerlich umgehen, dann also besser heute daran denken als übermorgen.“ Ich bin etwas verwirrt von diesen wahren Worten. Zwar keine Glanzleistung der Gedankenakrobatik, aber doch irgendwie beeindruckend unbestreitbar, auch wenn die exklusive Konzentration auf die (eigene) Zukunft mir ebenfalls etwas gegen den Strich geht. 
„An der eigenen Vergangenheit kann man aber ja leider auch nichts ändern. Daher empfehle ich dir, heute schon an morgen als die Vergangenheit von übermorgen zu denken.“ Zum einen hat er gerade ohne Aufforderung gesprochen – was mir unangenehm aufstößt – zum anderen scheint die Dauer meiner Denkpause ausgereicht zu haben, dass seine Gedanken jetzt so richtig mit ihm durchgehen. Diese Rechnung geht vorne und hinten nicht auf. 
„Sie fordern ein Höchstmaß an Qualifikation, stören sich dann aber an der individuellen Vergangenheit? Ihre Prioritäten spielen sich gegenseitig aus, finden sie nicht? Und außerdem heißt es doch so schön: immer einen Fuß vor den anderen. Was sie da vorschlagen ist ja nicht mal mehr Weitsprung, das ist physisch einfach unmöglich.“ jetzt gehen meine Gedanken mit mir durch und ich stelle mir den dritten Schritt in die Zukunft vor, der durch die Last der gesellschaftlichen Erwartung schon schrecklich beschwerlich ist, ohne den zweiten überhaupt gegangen zu sein. Zumindest reicht dieses Bild auf jeden Fall für die Auflistung bei Zusatzqualifikationen im nächsten Bewerbungsverfahren. 
„Das mag zwar hart klingen, aber Erfolg und Aufstieg sind kein Zuckerschlecken. Par Naturgesetz ist dort unten mehr Sauerstoff zur Verfügung als hier oben.“ 

„Sie bekommen aber schon mit, dass heute noch kein einziger unproblematischer Satz Ihren Mund verlassen hat, oder?“ 

Nun wird es mir zu bunt, meine Höflichkeit ist erschöpft. Ich wende mich ab von diesem desaströsen Gespräch. In meinen Händen halte ich meinen Lebenslauf, den ich, fest überzeugt von meinen Qualifikationen, eigentlich der Leistungsgesellschaft zur Verfügung stellen wollte. Doch nun erscheint mir der dünne Schnellhefter kaum etwas wert und fühlt sich viel schwerer an, als ich mir 23 Lebensjahre schwarz auf weiß jemals vorgestellt hätte. Energisch schließe ich meinen Laptop und mit dem Bildschirm verschwinden auch die Stellenausschreibungen und Studienbeschreibungen, durch die ich mich die letzten 30 Minuten gequält habe. Ich bin wütend auf mich, denn der Verlauf dieser Konfrontation war vorhersehbar, die Toxizität der gesellschaftlichen Erwartungshaltung mir eigentlich schon bekannt. Und trotzdem verrenne ich mich immer wieder darin, ihre Ansprüche mit den meinen gleich zu setzen und dabei selbst zu vergessen, nachzudenken.  
Dass die Excel-Tabelle, die ich ambitioniert angelegt und in die ich alle potenziell interessanten Zukunftsoptionen feinsäuberlich kategorisiert habe, nun ohne automatisches Speichern höchstwahrscheinlich verloren ist, tangiert mich herzlich wenig. Eine solch destruktive Auseinandersetzung muss nicht länger als nötig aufbewahrt werden.  

Lieber Herr Leistungsgesellschaft, ich weiß, dass ich Dir nur schwer aus dem Weg gehen können werde, aber so viel steht fest: Zum Essen lade ich Dich nie wieder ein.


Kommentar der Autorin: 
Mir macht die Leistungsgesellschaft zu schaffen, das gebe ich ganz ohne Scham zu. 
Dieser Text ist aus meiner Vorstellung heraus entstanden, wie sich ein Gespräch mit der konstruierten Leistungsgesellschaft anfühlen, und wie sich diese in menschlicher Gestalt anderen gegenüber verhalten würde.
Der vorangegangene Dialog spricht viele unangefochtene Erwartungshaltungen an, die unsere Gesellschaft an junge Menschen formuliert, die sich gerade inmitten ihrer Qualifizierung befinden, oder mit den schier endlosen Möglichkeiten der individuellen Zukunftsgestaltung konfrontiert werden. 
Für mich ist die Leistungsgesellschaft ein Symptom des Zeitdrucks, mit dem wir gelernt haben zu leben und der sich konstant intensiviert – der Zeitdruck, zu wissen was ich will, wer ich bin und was ich aus mir machen möchte, der Zeitdruck anzukommen und nicht umzudrehen, und der Zeitdruck das zu genießen, was sich in absehbarer Zeitspanne massiv verändern wird, oder uns gänzlich genommen werden wird. 


Jasmin ist 23, studiert Politik und Wirtschaft und schreibt sich gerne mal woanders hin.
In Gib Mir Widerworte will sie Dich zur Auseinandersetzung mit der aktuellen Alltagspolitik animieren und für einen informierten Diskurs sensibilisieren. Gib Ihr Widerworte. 

Dieser Post wurde von Johannes gestaltet. Er ist 22, studiert Visuelle Kommunikation in Berlin, macht nebenbei Musik und schläft gern bis 13 Uhr. Er verbringt seine Zeit mit lieben Leuten und verliert sich manchmal in seinem Computer.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert