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Der #wahltag naht

Früher oder später sehen wir uns alle damit konfrontiert: wählen gehen. Das Privileg der Demokratischen Mitbestimmung besteht aber aus mehr, als nur zwei kleine Kreuzchen zu setzen. Wie wir uns damit fühlen eine Entscheidung zu treffen und wie es uns stellenweise auch überfordert an der Mehrheitsverteilung in Parlamenten mitzuwirken, erfährst Du in diesem Text. 

Papier mit Bedeutung

Es waren zwar nur ein paar Striche mit dem Kuli, aber es fühlte sich besonders an, als ich zum ersten Mal wählen gehen durfte. Erstmal ‘nur’ die Bezirksverordnetenversammlung, doch es war trotzdem aufregend für mich, den Gang zur Wahlkabine anzutreten. Seit ich klein war, durfte ich meine Mutter alle Jahre wieder zu den Wahlgängen begleiten. Natürlich musste ich, als es ans Kreuzchen setzen ging, vor der Wahlkabine warten und habe mich seitdem gefragt, was denn so Spannendes hinter den drei grauen Wänden passiert. Zusammengefaltet und diskret in einen hohen Kasten gesteckt, war die demokratische Stimme versiegelt. Das war’s schon? Keine Luftschlangen, Ballons oder Jubel? Wählen ist leider kein Kindergeburtstag. Aber deshalb nicht weniger wichtig!

Das unbeschriebene Blatt bekommt erst durch meine Hand eine Bedeutung. Und obwohl ich schon früh wusste, wie so ein Wahlvorgang abläuft, habe ich lange Zeit gedacht: Politik interessiert mich nicht. Was für eine ignorante Einstellung das ist, habe ich erst in den letzten Jahren verstanden. Denn mal ehrlich: Politik, wie wir sie von klein auf erleben, wirkt nun mal ziemlich trocken. Wer blickt schon durch bei all den Debatten und Konferenzen? Den Abstimmungen und Abgeordneten? Was habe ich als Teenie mit den Menschen in Anzügen gemeinsam? Mit vierzehn, fünfzehn denkt man an andere Dinge als an Wahlen, bei denen man sowieso nicht mitsprechen darf.

Hinter Wahlkabinen

Als dann mit sechzehn meine Wahlberechtigungsschein im Briefkasten lag, hat sich meine Sicht allmählich verändert. Plötzlich wurde mir schwarz auf weiß mitgeteilt, dass ich mitbestimmen darf. Zwar habe ich bei den Parteien und Politiker*innen erstmal gar nicht durchgeblickt, doch dieser Zettel gab mir die offizielle Bestätigung: Du hast ein Stimmrecht.

Ein paar meiner Freundinnen habe ich dann erzählt, wie aufgeregt ich bin, endlich selber hinter die Wahlkabine zu gehen. Die Reaktionen waren ernüchternd: „Also Politik interessiert mich eh nicht“ oder „Ich wüsste gar nicht, wen ich wählen soll“ und am heftigsten: „Selbst wenn ich alt genug wäre, würde ich nicht wählen gehen“. Hinter diesen Aussagen steckt vor allem eins: ein Haufen Privilegien. Denn nicht jede Person ist happy mit der Welt, wie sie gerade ist. Du hast die Chance, etwas zu verändern und entscheidest Dich dagegen. Nicht cool, oder? Die Möglichkeit, sich von der Politik abzuwenden, zeigt, dass die Politik Dich nicht benachteiligt. Diese Gleichgültigkeit gegenüber politischen Verhältnissen haben viele ausgegrenzte Gruppen eben nicht. Stattdessen könntest Du Dein Privileg nutzen, um genau diesen Gruppen zu Entscheidungsmacht zu verhelfen. Damit wir alle Zugang zu politischen Räumen haben.

Dass ich Politik langweilig fand, zeigt auch, dass ich es nicht für notwendig empfand, ein System zu ändern, das mir schon passt. Ganz so einverstanden war ich aber irgendwann doch nicht mit Entscheidungen, die in Parlamenten getroffen wurden und daraus ist dann mein politisches Interesse erwachsen. Mit allem was Du machst, bist auch Du Politik. Denn nirgendwo existieren wir komplett unabhängig vom Staat. In fast allen Bereichen spielt der Staat eine Rolle und genau deshalb müssen wir selbst wählen, wie dieser aussieht. Von der Wohnung, in der du wohnst, über die Sachen, die in deinem Einkaufskorb landen bis hin zu dem Artikel, den du gerade liest: Alles hat auch politische Ursachen. Und das macht dich zu einer politischen Person.

Die Montagsfrage

Meine Einschlafangst habe ich schon vor vielen Jahren verloren. Immer mal wieder tauchen da aber diese Sonntage auf, an denen ich partout nicht einschlafen möchte, aus Sorge, fast Angst, vor der Welt, die mich am kommenden Montag erwartet. Oder eher vor der Gesellschaft, die mir über Nacht, innerhalb weniger Stunden, plötzlich fremd wird. 

Vor dem Tag der eigentlichen Wahl werden wir mit Sonntagsfragen, Meinungsbildern und Fernsehdebatten überhäuft. Diese ganzen Inhalte und Informationen sollen ja eigentlich dazu dienen, eine bestmögliche Entscheidung zu treffen, die meinen Erwartungen und Wünsche an die politische Zukunft gerecht wird. Doch die vorläufigen Erhebungen, Szenarien und Prognosen haben es noch nie geschafft, mich zu beruhigen oder zu motivieren, eher schmälern sie meine positive Grundeinstellung gegenüber unserer Gesellschaft, die ich vorher irgendwie versucht habe, aufrecht zu erhalten.

Die wirkliche Errungenschaft der demokratischen Wahl ist eigentlich, dass ihr Ergebnis nicht vorher festliegt, da jede wahlberechtigte Person allgemein, unmittelbar, frei, gleich und geheim wählen darf.

Doch woher kommt dann unser Drang, schon vorher wissen zu wollen, wer mit wem und mit welchen Mehrheitsverhältnissen?

Vorhersehbarkeit ≠ Demokratie

Schlicht und ergreifend steht in unserer polarisierten Gesellschaft zu viel auf dem Spiel. Die Probleme scheinen immer größer zu werden, während die gemeinsame und einvernehmliche Lösungsfindung immer unwahrscheinlicher wird. Da scheint es dann fast schon natürlich, noch einen unlösbaren Konflikt eröffnen zu müssen und den Wahlausgang bereits vor (und erst recht nach der Wahl) jemandem in die Schuhe zu schieben.

Denn wenn die Entscheidung dann gefallen ist und nicht mehr Straßenumfragen und Telefoninterviews, sondern echte Wahlzettel gezählt werden, dann naht eine Flut aus Balken- und Kreisdiagrammen, vorläufigen Hochrechnungen und Koalitionsbezeichnungen, in denen meine ursprünglichen Hoffnungen fast ertrinken. Währenddessen verliere ich dann recht schnell aus den Augen, warum ich eigentlich wählen gegangen bin und dass meine Stimme mächtiger ist , als in einem Wahlverhaltensvergleich der Altersgruppen als Indikator für einen Rechts- oder Linksruck junger Wähler*innen analysiert zu werden. 

Ich möchte nichts lieber, als am nächsten Post-Wahl-Montag aufzuwachen und mich nicht mit rückblickenden Schuldfragen herumschlagen zu müssen, sondern über die Antworten auf zukunftsgewandte Sachfragen zu staunen.

Wenn wir Angst vor Wahlergebnissen haben, dann müssen wir eigentlich auch Angst voreinander haben, und genau dies ist ein Miteinander, das vermieden werden muss. Wahlen sind dafür da, dass die Stimmen vieler Individuen in ein gemeinsames Sprachrohr übersetzt werden. Dass es da mal zu Kommunikationsschwierigkeiten kommt, ist fast schon vorhersehbar. Aber wir können nicht nur erwarten laut aufschreien zu dürfen, sondern müssen auch lernen, aufmerksam und stumm zuzuhören. Wahlen bringen Fakten, und Fakten ändern sich nur durch Prozesse.

Die „schönste“ Zeit des Jahres

Lange hatte ich die Wahlen verfolgt, ohne selbst wählen gewesen zu sein. Trotzdem hatten diese Sonntage für mich etwas Glänzendes an sich. Wahlberechtigungskarte und Personalausweis an das Portemonnaie geklemmt, liefen Bewohner der Kleinstadt in unsere Grundschule, um dort ihre Stimme abzugeben. Die Unterrichtsstunden, die man zu den Wahlvorgängen im Sozialkundeunterricht über sich hatte ergehen lassen müssen, waren nun zum Greifen nah. Zu den Landtagswahlen in Bayern im Spätsommer 2018 sah ich mich schließlich mit meinem Stimmrecht konfrontiert. Den Wahlkampf zuvor würde ich allerdings gerne aus meinem Gedächtnis streichen. Bis heute ist jeder Wahlkampf, dem ich als Bürgerin ausgesetzt bin, ein Wechselspiel zwischen Galle hinunterschlucken und vor Lächerlichkeit der personengebundenen Wahlparolen und -versprechen nur noch den Kopf schütteln können. Der Glanz ist verpufft und der vertrockneten, staubigen Realität gewichen.

Der Hochsommer strapazierte unsere Nerven, seit Wochen hatte es nicht mehr geregnet. Die kurvige Landschaft zog sich, stockend krochen wir durch sie hindurch. Wir fuhren in die nächstgrößere Stadt, um dort ein paar Einkäufe zu erledigen und anschließend noch ein Eis zu essen. Die schwüle Luft drückte gegen meine Schläfen und ich konnte mich nicht daran erinnern, wann mein Körper das letzte Mal nicht von Sonnencreme und Schweiß klebrig war. Im Radio lief zum x-ten Mal derselbe „Hit“.

Ein Meer aus blauen Plakaten

Wir passierten ein Ortsschild und trotz der nicht enden wollenden Hitze überzog ein Schauer meine Arme. Mit offen stehendem Mund las ich den Wahlspruch des Plakats, das am Wegrand an einer Laterne befestigt war. Sicherlich war das nicht der erste Moment, in dem ich realisierte, dass hier gerade etwas gewaltig schief läuft. Wenige Augenblicke später sahen wir uns in einem dichten Wald aus weiteren blauen Plakaten, deren Aufschriften mich wütend schnauben ließen. Wie kann es sein, dass diese grundlegend menschenverachtenden Wahlplakate hier überhaupt hängen dürfen? Dass sich die Menschen, die an diesen Straßen leben, vom Esstisch aus jeden Tag diese Parolen ansehen müssen?

Der Wahlkampf ist für mich die Zeit des professionalisierten Schauspiels. Potenzielle Wähler*innen bekommen genau das auf einem Silbertablett serviert, was sie in der aktuellen Situation hören wollen. Ob das dann nach einem Sieg auch wirklich umgesetzt wird, sei zunächst dahingestellt. Wirklich verwunderlich ist das für uns nicht mehr, denn wir sehen uns mit diesem strategischem Marketing durch den Kapitalismus tagtäglich mit so etwas konfrontiert. Wir wissen, wie der Hase läuft, lesen (hoffentlich) noch einmal ganz genau im Wahlprogramm nach, was da eigentlich im Kleingedruckten steht und versuchen uns so unabhängig und frei wie möglich, für das zu entscheiden, wohinter wir stehen können. Ist das so?

Jedenfalls wog ich mich wochenlang in dieser rückblickend betrachtet etwas naiven Vorstellung. Dass jeder Mensch, der an diesen Plakaten vorbeifährt, ähnliche Gedanken hat, wie ich selbst, verärgert den Kopf schüttelt und sich in der eigenen Entscheidung nur noch gestärkter fühlt. Als schließlich einige Tage nach der Landtagswahl ein Dokument herumgeschickt wurde, in dem die Stimmverteilung unserer Kleinstadt ins Detail aufgeschlüsselt war, wurde ich mit einer Realität konfrontiert, die ich noch lange zu verdauen versuchte. Mit dem Ergebnis, dass ich so etwas einfach nie verdauen werde. Doch gleichzeitig ist mir bewusst geworden, wie mächtig meine eigene Stimme ist und wie wichtig es ist, sie zu nutzen. 

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Diese Texte entstanden innerhalb der Vorbereitungen zum neuen TIERINDIR-Workshop #wahltag. Im Superwahljahr 2021 wollen Emi, Jasmin und Dessany sich gemeinsam mit Dir kreativ mit dem Thema Wahlen beschäftigen. Wir haben Dein Interesse geweckt? Mehr Infos findest Du auf Instagram oder schon bald auf unseren Blog unter der Kategorie Workshops. Im Moment kannst Du Dich dort noch für unseren #wahltag-Newsletter anmelden.

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Emi ist 21, studiert und lebt in Berlin. Bei Regen verliert sie sich in Tagträumereien und wird kreativ. 

Jasmin ist 23, studiert Politik und Wirtschaft und schreibt sich gerne mal woanders hin.

Dessany ist 21 und studiert Germanistik in Leipzig. Schon früh wurde das Schreiben zu ihrem Ventil. Über fast alles was sie erlebt, was sie über ihre Umwelt und sich lernt, führt sie Notiz. Nicht zuletzt, um das alles ein bisschen besser verstehen zu können.

Luise ist junge Gestalterin und Künstlerin und lebt und studiert in Berlin an der Universität der Künste. Sie mag traurige Musik, trashige Filme, laute Konzerte und komische Comics.

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