Du & Ich
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Manchmal habe ich das Gefühl, ich bin fremd in meinem eigenen Leben

Ein Telefonat in der Pandemie bei Nacht. Und wir teilen Gefühle, von Konstanz bis nach Berlin.

Wir vermissen alle etwas. Uns fehlen die Konzerte, die Kneipenbesuche, das Kino und die Umarmung  zur Begrüßung. Die spontane Reise übers Wochenende und die WG-Party mit unseren Freunden.  Trotzdem geht es uns gut – sagen wir. Wir vermissen ja alle etwas. „Aber wir kommen damit zurecht,  haben ja trotzdem so viel.“ Und es stimmt, wir kommen zurecht, wir haben viel. Die meisten von uns  sind sehr privilegiert und es gibt so viele Gründe dankbar zu sein. Und das bin ich. Trotzdem fehlt  nicht nur „irgendwas“. Was fehlt, ist auch ein Teil von mir. 

„Manchmal habe ich das Gefühl, ich bin fremd in meinem eigenen Leben“, sagst du am Telefon und  ich höre wie das Feuerzeug mehrmals zischt, als du dir eine Zigarette anzündest. Du stehst auf  deinem Balkon in Berlin und ich sitze hier in meinem WG-Zimmer in Konstanz, am anderen Ende von  Deutschland. „Ja“, sage ich. „Es fühlt sich so an, als wäre ich noch da, aber als ob ein Teil von mir  fehlt. Und in manchen Momenten frage ich mich, was noch von mir übrig ist, wenn das hier vorbei  ist?“ Du atmest Zigarettenrauch aus. 

Es ist 23 Uhr. Unser Anruf läuft seit über drei Stunden. Du hast mich vom Supermarkt bis nach Hause  begleitet und bist selbst nebenher durch die leeren Straßen der Hauptstadt spaziert. Jetzt sitze ich  vor meinem Fenster und starre in die leere Freitagnacht. Wir erzählen uns von unseren Büchern, die  wir gerade lesen, den Rezepten, die wir kochen. Wir sprechen von deiner Mama, die seit Monaten ihr  Restaurant nicht öffnen kann, Freunden in Kurzarbeit und von der Angst, wie lange das Geld noch  reicht ohne den Job an der Bar. Du hast angefangen zu Häkeln, ich mache mittlerweile viel Yoga und  „hast du das neue Album schon gehört?“. Natürlich hast du. Darauf die Frage: „Weißt du noch  damals beim Konzert?“ 

Da ist sie wieder, die diesige Erinnerung. Die Erinnerung daran, wie ich morgens mit dir in einem  stickigen Zelt aufwache. Den Reißverschluss öffne, der Sonne entgegen blinzele und mich mit dir  nach der dritten Tasse Mokka von unserem Gaskocher in der Menschenmenge verliere. Bis wir  wieder der Sonne entgegenblinzeln und dann nach vier Tagen alles wieder in den Rucksack stecken,  samt der vorsorglich eingepackten Desinfektionstücher aus dem Drogeriemarkt, die wir damals  ungeöffnet nach Hause tragen. 

Unvorstellbar. Alles fühlt sich so weit weg an. Die 800 Kilometer zwischen uns fühlen sich so  kompliziert an wie eine Fahrt mit der transsibirischen Eisenbahn. Die Leichtigkeit aus dem  gemeinsamen Sommer ist so tief verschüttet, dass ich das Gefühl manchmal vergesse, bis ich auf  Fotos sehe, dass es wirklich passiert ist. 

Es ist mittlerweile nach Mitternacht. Wir sind still geworden, aber keiner denkt daran aufzulegen.  Nach einer längeren Pause sage ich: „Du bist noch da. Ich sehe sie noch. Die Frau, die immer  unterwegs ist, jedes Wochenende in einer anderen Stadt. Die Gespräche und Diskussionen mit  Fremden und Freunden liebt, am liebsten an einem großen Tisch. Die Frau, die surft, tanzt und Musik  macht. Die Frau, die alles für ihre Freunde gibt, die sich in die Nacht wirft und nichts lieber hat, als  nicht zu wissen, wo sie endet. Ich sehe noch genau diese Frau. Sie ist noch da. Du bist noch da.“ Kurz Stille. 

Und dann erzählen wir uns von uns. Aus über 10 Jahren gemeinsamer Vergangenheit. Aus der Zeit, in  denen deine Stimme mein Alltag war, die Nähe und die Leichtigkeit. Wir reden immer schneller, weil  es gar nicht genug Worte gibt, um dir zu sagen, wie du warst bevor die Welt so wurde, wie sie ist.  Und wie du immer noch bist. Zwischen schnellen Worten müssen wir immer wieder innehalten, weil uns beiden die Tränen übers Gesicht laufen. „Danke“, sagst du irgendwann. „Ich bin so froh, dass du  diese Frau noch kennst.“ 

Und dann fühle mich wieder ein bisschen mehr wie ich. Ein kleines bisschen vollständiger. Als hätte  ein Teil von mir gerade 800 Kilometer zurück zu mir gefunden. Als hättest du ihn mir zurückgegeben,  einfach nur, weil du ausgesprochen hast, was schon so lange keinen Raum mehr hat. Weil du mich  kennst, wir uns kennen. 

„Wir sind noch da, auch wenn das hier vorbei ist. Und so lange erzählen wir uns von uns.“ Und ich bin  mir auf einmal sicher. Und dann starren wir schweigend zusammen in den Samstagmorgen. Du in  Berlin und ich hier in Konstanz. Und der Morgen sieht auf einmal nicht mehr ganz so leer aus.  

Dieser Text wurde anonym veröffentlicht.

Gestaltet von Linda. Sie ist Grafikdesignerin und brennt für gute Gestaltung. Sie arbeitet gerne konzeptionell und legt den Fokus auf aussagekräftige Illustrationen. Neben Kunst und Design, liebt sie die Berge, Kaffee und ihr rotes Fahrrad Michl. Außerdem gibt sie definitiv zu viel Geld für Schreibwaren aus.

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