Ich wollte die Jacke unbedingt haben. Diese Jacke von der einen Marke, die in der Schule alle trugen. Ich wollte cool sein, die Trends mitmachen, zeigen, dass ich dazugehöre. Zu meinem Geburtstag bekam ich sie dann. Sie war warm, aus einer Art Teddymaterial und dick genug, um kein Quäntchen meiner Unsicherheit nach außen zu lassen. Ich trug sie immer so, dass das Logo der Marke auf dem Schulhof aus einigen Metern Entfernung zu erkennen war. Doch der weiche Stoff und die glänzenden Lettern auf den Schildchen konnten mich selbst nicht täuschen. Du wusstest es auch, du hast es immer schon gesehen. Musstest zusehen, wie ich in meinem neuen, viel zu teuren Kleidungsstück innerlich so unglücklich war wie vorher. Und trotzdem hast du es mir geschenkt. Denn du wolltest nie, dass ich mich noch einsamer fühlte, als ich es eh schon tat. Du kanntest meinen Schmerz, hast dich beim Anblick deiner Tochter an das kleine Mädchen in dir erinnert, das von der Welt irgendwann dazu gezwungen wurde leise zu werden. Und es wurde so lange kleiner und leiser, bis du dir nicht mehr sicher warst, ob es überhaupt noch existiert.
Wenn ich könnte, würde ich diesem Mädchen eine Jacke kaufen. Aber eine andere als meine damals. Eine ohne Markenaufdrucke, in einer bunten Farbe und aus festem Stoff. Die Jacke würde genug Schutz bieten, damit sich das Mädchen in dir raus traut aus ihrem Versteck. Sie wäre ein Statement und würde deinen Platz in der Welt markieren. Dann würdest du wieder ungezügelter lachen und in der Küche deine Lieblingslieder aus den Achtzigern mitsingen, ohne darüber nachzudenken, ob es jemanden stört, ob du jemandem zu laut bist. Du würdest ungeschminkt spazieren gehen und keinen einzigen Gedanken daran verschwenden, dass du am Bauch abspecken solltest. Dieser Bauch mit seinen Streifen, den ich so sehr liebe, der mir das Leben gab und meinen Geschwistern und durch den deine Umarmungen die besten sind. Weich, wohlig und wärmer als jede Jacke, die du mir je gekauft hast. Nur weil du die Hoffnung hattest, ich wäre damit zumindest für den Moment ein bisschen glücklicher.
Wenn du lachst, dann sehe ich sie manchmal. Die junge Frau, das Mädchen, das den Schmerz mitgenommen hat und daran gewachsen ist. Dann möchte ich so sein wie du. Ein Mensch, der sich um alles und jeden kümmert außer um sich selbst. Wie anstrengend muss dieses Leben sein? Wie viele Male hast du mich über dich gestellt? An welcher Stelle musstest du Abstriche machen, um mir diese Jacke zu kaufen? So wichtig war dir mein Lachen, das immer so leise war, dass man es kaum hörte. Du wolltest, dass ich laut werde. Nicht auf deine Art, sondern auf meine eigene. Um mir zu zeigen, wie das geht, bist du bis an deine Grenzen gegangen und darüber hinaus. Du würdest mir immer noch jeden Stein aus dem Weg räumen, jeden Mann der mir wehtut, nur weil er es kann. Denn du musstest da zu oft alleine durch. Du weißt, dass man als Frau immer auf der Hut und stets kampfbereit sein muss. Ich sehe deine Kämpfe, die du für mich mitgeführt hast, um mir das süße Leben zu zeigen. So schmecken wie die Süßigkeiten, die du mir damals nach der Schule erlaubt hast beim Bäcker zu kaufen, soll es.
Jetzt bin ich so alt wie du als ich kam und ich weiß nicht wie du es geschafft hast. Jeden Tag aufzustehen, dich innerlich zu rüsten und der Welt entgegenzutreten. Da ist Dankbarkeit, die durch nichts auszudrücken ist. Weil du immer da warst – vor allem dann, als er es immer weniger war. Und da ist Liebe. Die Liebe, die du mir beigebracht hast. Dein größtes Geschenk von allen, Mama.
–
Michelle ist 26 Jahre alt und in den letzten Zügen ihres Kunstgeschichte Studiums. Sie liebt Kunst und ist fest davon überzeugt, dass diese durch all ihre Medien im Kleinen und im Großen für eine bessere Welt sorgen kann. Zu guter Musik verliert sie sich oft in mehr oder weniger utopischen Tagträumen. Ihr größtes Ziel ist es, verletzlich, weich und glücklich zu sein.