Die Liebe wird seit jeher als ein geheimnisvoller, undurchdringlicher Mythos beschrieben, den wir niemals ganz verstehen können. Şeyda Kurt hat in ihrem Buch „Radikale Zärtlichkeit – Warum Liebe politisch ist“ die Normen und Rituale rund um die romantische Liebe erforscht und untersucht, wie sie mit Patriarchat, Rassismus und Kapitalismus zusammenhängen. Über ihr Buch, Beziehungen und ein gerechteres Miteinander durch radikale Zärtlichkeit hat Emma mit ihr gesprochen.
Warum ist die Liebe politisch?
In meinem Buch betrachte ich da unterschiedliche Herangehensweisen. Zunächst geht es darum, wie gewisse Konzepte von romantischer Liebe und Familie über die letzten Jahrhunderte mithilfe der Gesetzgebung, der Institutionen und des Steuerrechts normiert wurden, was als normal und was als Abweichung dargestellt wurde.
Dazu kommt die Frage, wer sich überhaupt in unserer Gesellschaft ungefährdet bewegen kann und wer sich fürchten muss, in der Öffentlichkeit Zärtlichkeiten mit Partner*innen auszutauschen. Das betrifft vor allem queere Menschen, aber Menschen in interracial Beziehungen, zum Beispiel zwischen einem Schwarzen Mann und einer weißen Frau. Da spielen koloniale Vorurteile und Bilder eine Rolle, bei denen der Schwarze Mann als die Bedrohung angesehen wird, der den weißen Männern die weißen Frauen wegnimmt.
Letztendlich geht es auch um Abhängigkeiten. Ich schreibe im Buch, mit Verweis auf Philosoph*innen wie Hannah Arendt, dass voneinander abhängig zu sein in einer Gesellschaft die Grundbedingung für Gemeinschaft ist. Wir kommen auf die Welt und sind von anderen Menschen abhängig. Gleichzeitig gibt es auch zum Teil gewaltvolle oder unfreiwillige Abhängigkeiten, die meistens ökonomisch sind, zum Beispiel bei Partner*innen. Zudem gibt es aufgrund der Tatsache, dass zum Beispiel weibliche Menschen weniger verdienen, öfter in Teilzeit oder alleinerziehend sind, ein sehr großes Armutspotenzial. Es herrscht also eine ökonomische Abhängigkeit, die auch politisch bekräftigt wird.
Was kritisierst du an dem Konstrukt der romantischen Zweierbeziehung?
Die romantische Zweierbeziehung wird als die dominante Norm verstanden. Abweichungen davon müssen sich immer erstmal rechtfertigen. Mein erster großer Kritikpunkt ist, dass in unserer Gesellschaft und von den Institutionen keine Pluralität von unterschiedlichen Beziehungsformen gefördert und zugelassen wird.
Außerdem ist die romantische Zweierbeziehung ein sehr bürgerliches Konstrukt. Es gibt unterschiedliche Kritik von Feminist*innen, die sagen, dass dieses Konzept der Zweierbeziehung schon immer dazu gedient hat, Kapitalinteressen und patriarchale Interessen von cis Männern zu vertreten. Dabei geht es darum, in einer Blutfolge Besitz und Kapital zu vererben. Die Frau und ihre Sexualität müssen in einer monogamen Beziehung dem Ehemann gehören, damit er sich sicher sein kann, dass seine Erben tatsächlich seine Blutsverwandten sind.
In Hetero-Zweierbeziehungen gibt es eine Arbeitsteilung, in welcher Care-Arbeit, also Fürsorge- und Hausarbeit, meistens als weiblich und als Aufgabe der Frau betrachtet wird. Dazu gehört auch alles, was damit zu tun hat, Kinder auf die Welt zu setzen und zu erziehen. Selbst in vermeintlich progressiven Beziehungen wird das meistens so gelebt. Auf diese Weise ist kostenlose Arbeit garantiert, die den Kapitalismus am Laufen hält. Wenn man anfangen würde, die Hausarbeit zu entlohnen, würde das System zusammenbrechen. Das System, in dem wir leben, beruht auf dieser ausgebeuteten verweiblichten Arbeit. Das sehen wir auch zum Beispiel in der Pflegebranche, die ebenfalls eher weiblich markiert ist und dadurch entwertet und schlechter entlohnt wird.
Du beschreibst auch, dass zum Beispiel Freund*innenschaften im Gegensatz zur romantischen Zweierbeziehung als viel weniger Wert erachtet werden.
Die romantische Zweierbeziehung hat gegenüber allen anderen Formen von intimen oder sexuellen Beziehungen eine Vorrangsstellung, aber auch grundsätzlich. Freund*innenschaften werden als weniger begehrenswert betrachtet als romantische Beziehungen. Dabei haben Freund*innenschaften ein großes transformatives Potenzial. Menschen finden meistens über gewisse gemeinsame Überzeugungen zusammen, im Gegensatz zur Blutsverwandtschaft in traditionellen Kernfamilien. Ich finde, dass Freund*innenschaften oftmals herausfordernder sind, weil in ihr viel mehr ausgehandelt werden muss. In romantischen Beziehungen sind gewisse Rituale und Abläufe viel starrer. Wir sind alle mit diesen Filmen aufgewachsen und haben eine Vorstellung davon, wie eine romantische Beziehung ablaufen sollte. Freund*innenschaften sind bei vielen Menschen meistens eine viel offenere Beziehung, bei der es darum geht, sie gemeinsam zu formen. Gerade weil es diese Norm in unserer Gesellschaft gibt, dass die Freund*innenschaft nicht die Priorität Nummer Eins ist, schafft sie viel mehr Freiräume zur Gestaltung.
Wieso hast du dich entschieden, keine monogamen Beziehungen mehr zu führen?
Mir geht es nicht darum, Menschen, die in monogamen Beziehungen leben, zu verurteilen. Mir geht es einfach darum, die Wahl zu haben. Ich verstehe das Konzept der Monogamie auf einer theoretischen Ebene und weiß, woher es kommt, aber ich verstehe nicht, warum es für mein Leben irgendwie entscheidend sein sollte. Ich bin in einer wundervollen und fairen Beziehung und sehe nicht ein, wieso etwas mit dieser Beziehung nicht stimmen sollte, weil ich das Bedürfnis habe, auch mit anderen Menschen intim zu sein. Für mich schließt das eine das andere nicht aus.
In deinem Buch behandelst du auch die Frage, ob Liebe Arbeit ist, und kommst dabei zu keinem eindeutigen Urteil. „Liebe als Arbeit“ steht im Gegensatz zu diesem mystifizierten Liebesbild, was man oft hat. Was ist das Problem dabei, Liebe so als Mythos zu betrachten?
Die Soziologin Eva Illouz hat sehr viel dazu geschrieben, dass diese Transzendenz und Mystifizierung der Romantik wichtig im Kapitalismus ist. Das Wesen der romantischen Liebe muss so unbestimmt bleiben, damit wir konsumieren und versuchen, es in kommerzielle Rituale zu übersetzen. Viele Dinge werden in unserer Gesellschaft mit Romantik verbunden, haben aber eigentlich gar keine direkte Verknüpfung mit romantischer Liebe, zum Beispiel Schmuck.
Ich schreibe auch in einem Kapitel, in dem es um Sprache geht, wie schwierig es ist, dass wir zwar einen großen Kanon der Liebesbekundungen haben, dieser aber oftmals sehr ritualisiert und redundant ist. Es fällt uns schwer, Gefühle anderen Menschen gegenüber konkret zu benennen und darüber in den Austausch zu gehen. Ich glaube, dass diese Mystifizierung uns im Zwischenmenschlichen häufig viele Dinge verwehrt, die einen Austausch auf Augenhöhe ermöglichen könnten.
Du verwendest sehr bewusst das Wort „Zärtlichkeit“ statt „Liebe“. Was ist für dich der Unterschied?
Ich habe Schwierigkeiten mit dem Begriff der Liebe, weil er sich wie ein Heilsversprechen über die Verhältnisse legt, aber trotzdem oft so inhaltsleer bleibt. Er ist auch durch die Literaturgeschichte sehr vorbelastet. bell hooks schreibt darüber, dass die Liebe in der Literatur häufig cis männlich und bürgerlich geprägt wurde. Es herrscht oft eine Vorstellung von Liebe als Naturgewalt, der Gewalt inhärent sein muss. Dass Liebe auch ein produktives Tun beinhaltet und es eine Entscheidung ist, mit einem anderen Menschen zärtlich zu sein, rückt dabei in den Hintergrund. bell hooks plädiert dafür, Liebe eher als ein Handeln zu denken. Mir persönlich ist der Begriff allerdings trotzdem noch zu vorbelastet. Zärtlichkeit drückt für mich eher aus, dass es tatsächlich um ein zärtliches Handeln geht, das ganz unterschiedliche Formen haben kann.
Was ist radikale Zärtlichkeit für dich?
Etymologisch bedeutet radikal, die Wurzel zu betrachten. Man schaut sich also an, was die politischen Bedingungen für Zärtlichkeit sind und was das mit Patriarchat, Kapitalismus und Kolonialrassismus zu tun hat.
Radikale Zärtlichkeit ist, diese Fragen nach Fairness und Zärtlichkeit im Intimen und unmittelbar Zwischenmenschlichen einen Schritt weiterzudenken. Es ist unfassbar wichtig, in Freund*innenschaften oder Beziehungen auch Gerechtigkeit oder Solidarität zu üben, aber schlussendlich muss es um eine Gerechtigkeitsforderung gehen, die über meine eigene Beziehung hinausgeht. Ich kann mich in meiner Beziehung zwar an Gerechtigkeit zwischen Menschen annähern, aber Gerechtigkeit ist für mich immer noch ein Begriff oder ein Paradigma, das einen gesamtgesellschaftlichen Zustand betrifft. Ich kann nicht in meiner Beziehung allein Gerechtigkeit etablieren, wenn es gesamtgesellschaftlich keine Gerechtigkeit gibt.
Wir können in unseren Intimbeziehungen einen anderen Umgang miteinander üben, was es bedeutet, Konsens zu erzielen und unterschiedliche Bedürfnisse zu berücksichtigen. Das ist auch zum Beispiel in politischen Bewegungen relevant. Radikale Zärtlichkeit ist für mich, all das auf einer größeren Ebene zu leben, die politischen Verhältnisse mitzudenken und letztendlich zu überwinden.
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Das Interview wurde von Emma geführt. Sie ist 22 und lebt in Freiburg, wo sie Soziologie und Germanistik studiert. Nebenbei schreibt sie, zum Teil für das Uni-Magazin, hauptsächlich für sich selbst.
Luise ist junge Gestalterin und Künstlerin und lebt und studiert in Berlin an der Universität der Künste. Sie mag traurige Musik, trashige Filme, laute Konzerte und komische Comics.