Nicht zu sehen, bedeutet nicht gleich blind zu sein.
Nicht zu erhören, bedeutet nicht gleich taub zu sein.
Aber zu ignorieren, bedeutet zu versagen.
Denn nicht zu repräsentieren, bedeutet zu vergessen.
Repräsentanten so grau, wie ihre Gesellschaft bunt
Den Rücken stärken, anleiten, führen – die Regierung einer parlamentarischen Demokratie muss vieles: Für die Bevölkerung da sein, ein Ohr für das Individuum haben und wenn möglich, immer eher präventiv als reaktionär zu handeln. Knietief in der aktuellen Krise, wirken diese Ansprüche doch eher fast wie Träumereien; sind die Wehklagen zu vieler Individuen gerade ohrenbetäubend und das Virus scheinbar unkaputtbar.
Moderne Demokratien setzen auf das Prinzip der Volkssouveränität und trauen der Bevölkerung eine mündige Wahl ihrer Vertreter zu. Die Zusammensetzung der Repräsentierenden ist somit Sache der Gesellschaft und kann sich im Zyklus der Wahlperioden verändern, somit sind Demokratien und gesellschaftlicher Wandel eng verwoben und bedingen einander.
Eine Regierung, als Ebenbild der Gesellschaft, die sie versucht zu erwählt worden ist – eine Kabinettaufstellung, die sich an den Menschen orientiert, die sie dazu berechtigt haben, eine Interessendelegation von unten nach oben. Auf keinen Fall andersrum.
Die Vielschichtigkeit einer Bevölkerung Eins zu Eins zu spiegeln, kann jedoch nicht die Priorität eines staatlichen Organs sein. Im Interesse der dementsprechenden Bevölkerungsgruppen zu handeln, aber schon. Dass dies nicht möglich ist, wenn sich Plenarsäle und runde Tische nur mit heteronormativen, weißen und überwiegend männlichen Individuen füllen, ist eine Erkenntnis, die etablierte Demokratien durch die Zunahme gesellschaftlicher Empörung auf dem Silbertablett serviert bekommen.
Es braucht die Darstellung der gesellschaftlichen Diversität, um sich politisch unabdingbar zu machen, doch den kleinsten Nenner der Heterogenität vertreten zu wollen, kann unter Umständen auch zu Stillstand führen – ein Kompromiss mit dem sich moderne Demokratien zunehmend konfrontiert sehen.

Wie viel Repräsentation ist zu viel?
Niemand kann sich darauf ausruhen, wenn Spitzenpositionen an weibliche Politikerinnen besetzt werden, oder der LGBTQI+ Hintergrund einer Person offenbart wird, und das für die restlichen Parteifreunde gar kein Problem zu sein scheint. Nett, dass man sich freut und nett, dass man einander akzeptiert. Doch nötiger als nett zu sein, haben wir es realistisch zu sein.
Repräsentation kommt nicht von allein. Repräsentation ist anstrengend und braucht Kommunikation und Austausch, gepflegten Diskurs und Streit. Ein Parlament ist nicht der Wohnzimmertisch in der Weihnachtszeit, doch es muss ähnliche Verschiedenheiten aushalten und darauf aus sein, einander zu unterstützen im Sinne eines gemeinsamen Ziels. Ob das nun friedliche Feiertage oder einen neuen Gesetzesentwurf betrifft, die Ansprüche sind tendenziell vergleichbar.
Willst Du mich nicht sehen, dann sollst Du mich hören.
Willst Du mir nicht zuhören, dann sollst Du meine Worte spüren.
Und wenn Du es nicht aushältst mich zu spüren, dann gib mir meine Stimme zurück.
Aber folgt dann auf eine graue und einheitliche Interessenpolitik automatisch eine bunte Staatsführung, die für die vorher nicht Erhörten ein Ohr hat und im Interesse derer handelt, die zuvor keine Interessen hatten?Je nach Dauer des politischen Zyklus kann es leicht fallen zu ermüden, sich von dem Kerngedanken der Demokratie zu verabschieden und das Politdrama anzunehmen, so wie es aufgeführt wird – eine Erholungspause gestattet, wird so oder so nicht. Aber aerartige Mentalitäten sind gefährlich und stellen die begrenzte Teilhabe des Volkes an parlamentarischen Demokratien in ein kritisches Licht.
Reicht das einfache Wahlrecht und der Verlass auf Bürgerpartizipation dort, wo sie nicht genug wertgeschätzt wird?
Die Strapazen der Kritik
Ist es die Anerkennung der vermeintlichen Masse, die demokratische Regierungsführer*innen dazu bringt, ihre Kabinette und den Kreis ihrer Vertrauten möglichst facettenreich zu gestalten? Die Macht einer Masse, die vorher unsichtbar und ungehört war, deren unterschiedlichste Realitäten aber in Form von politischen Gallionsfiguren Einzug halten in den Rang der Entscheidungsfindung und das Cockpit des gesellschaftlichen Fliegers.
Wir müssen feiern, dass Parlamente weiblicher, integrativer und diverser werden, doch wir dürfen nicht damit anfangen uns auf kleinen Erfolgen, aber scheinbar großen und gönnerhaften Taten, auszuruhen. Geduldig zu sein, ist hier fehl am Platz. Veränderungen lassen lang genug auf sich warten, dass sich darauf einstellen zu müssen, kein Grund für weitere Verzögerung sein darf. Zu hoch sind die Kosten und die Gefahr, eine polarisierte Gesellschaft noch weiter zu spalten, und die Schwächsten hinten runter fallen zu lassen.
Mit der Einladung einer breiteren, bunteren Vertretung des Volkes sind zunehmende Konflikte und gegensätzliche Interessen ein ungebetener, aber nötiger Gast. Denn schon lange haben wir den Punkt überschritten, in dem Politik von oben herab für Individuen gemacht werden sollte oder könnte. Moderne Demokratien sind nicht dafür ausgelegt, dass sich sogenannte Minderheiten auf der Nase herumtanzen lassen, nur weil eine proklamierte Mehrheit eben genau das kann. Eine moderne Demokratie bietet dafür keinen Platz, da ihr Vorzug ihr kontinuierlicher Prozess ist, in Form der unermüdlichen Arbeit von innen heraus.
Adäquate Repräsentation ist aber anstrengend. Sie macht es notwendig, sich mit vorher Unbekanntem auseinanderzusetzen, sich um politische Korrektheit zu bemühen und den eigenen kulturellen und sozialen Horizont Stück um Stück zu erweitern. Und sie allein befreit auch noch lange keine Gesellschaft, unterliegt sie schwerwiegenden und alltäglichen Individualproblemen, für deren Überwindung der Ruf nach Repräsentation wohl der stummste ist.
Doch es ist auch wunderschön und bereichernd zu lernen; Teil einer diversen Gesellschaft zu sein und von den Unterschieden zu profitieren, um sie zielführend auf ein gemeinsames Gut zu vereinen.
Akzeptanz und Toleranz kommen nicht von allein, genauso wenig wie es Verachtung und Diskriminierung tun.

Haben wir eine Wahl, Alter?
Unser Wahlalter ist nicht nur eine Chance auf Repräsentation, sondern auch ein Akt der Integration, um einen breiteren und aktuelleren Diskurs zu ermöglichen. Das allgemeine Wahlrecht ab 18 besteht nun bereits seit 50 Jahren. Mit dem Aufkommen der Studentenproteste der 1960er-Jahre erhoffte man sich, die wütenden und jungen Menschen teilhaben zu lassen und ihren Glauben an die Demokratie zu stärken.
Die Ausgangssituation von damals und heute sind zu gewissen Teilen vergleichbar: in den 60ern waren es der Vietnamkrieg und die Überbleibsel des NS-Regimes, die die junge Generation auf die Straße trieben. Heute sind es der Klimawandel, strukturelle Ungleichheiten und die Interessen des Kapitalismus – ein ähnliches Verständnis des Systems wie damals; dass Alt für Jung entscheidet und damit Zukunftsängste anheizt oder die Zukunft gleich gänzlich zerstört.
Die Befürchtung nicht gesehen, nicht gehört und nicht gefragt zu werden, kann unabhängig des Alters entstehen und treibt zu Extremen von Verweigerung bis zu Aufstand, von Zweifel bis zu Beteiligung.
Die parlamentarische Teilnahme einer und eines Jeden ist an dieser Stelle eine Utopie. Effektive Politik und Entscheidungsfindung müssen gegenüber der Beteiligung aller priorisiert werden, um eine Gesellschaft zu schützen – von Innen und Außen – und sie voran zu bringen, im Sinne des Fortschritts, der Gerechtigkeit und Fürsorge.
Doch im Kleinen ist es ebenso wichtig wie auf der Bühne der Entscheidungsfindung, für sich und seine Werte einzustehen. Repräsentieren muss man an erster Stelle sich selbst und die eigenen Ideale, nur so können diese weitergetragen werden und mit Einsatz anderer auch schlussendlich Einzug halten in die Arena der modernen Demokratie.
Und sobald Du dich deiner selbst, deiner politischen Gesinnung und ihrer politischen Vertreter bewusst gemacht hast, dann bediene dich der Chancen, die uns unser System bietet: nimm Teil, repräsentiere Dich und andere und sofern Du kannst, geh wählen am 26.09.2021.
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Jasmin ist 22, studiert Politik und Wirtschaft und schreibt sich gerne mal woanders hin.
In Gib Mir Widerworte will sie Dich zur Auseinandersetzung mit der aktuellen Alltagspolitik animieren und für einen informierten Diskurs sensibilisieren. Gib Ihr Widerworte.
Irma kommt aus Berlin, studiert „was mit Kommunikation“ und ist trotzdem ziemlich schlecht darin, sich selbst zu beschreiben. Ihre liebsten Corona-Hobbys sind: Nähen, Gärtnern und zu viel Geld für Bücher ausgeben.
Die Gestaltung des Beitrags ist ein Kontrast. Einerseits Fotos in warmen Farben von individuellen Menschen auf der Straße einer feministischen Demonstration und die tristen Silhouetten von alten weißen Männern.