Gastgedanken, Liebe & Triebe
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Wir beide (nicht) am Meer

Meine Sachen sind alle gepackt. Ich will gerade aus der Tür hinaus, als du anrufst: Es sei etwas dazwischen gekommen, sagst du mir mit kühler Stimme, und auch sonst müssten wir mal reden, gerade ist es irgendwie schwierig zwischen uns. 

Ich lasse meinen Rucksack vor mich auf den Boden plumpsen. Meine frisch aufgenähten Patches leuchten noch so neu, doch wirkten trostlos. Nutzlos. Ich spüre, wie der Boden unter mir immer weicher wurde. Ich laufe wie auf Watte. Versuche, zurück in mein Zimmer zu kommen. Mit jedem meiner Schritte fühlte es sich an, als würde ich weiter in den Sand sinken: Jeder Schritt fällt mir schwerer. Der Sand steht mir jetzt bis zur Brust, engt mich ein, ich habe in unserem großen Flur plötzlich keinen Platz mehr. Ich möchte um mich treten, alles von mir wegdrücken. Doch der Sand ist zu stark. Zu fest. Zu schwer.

In meinem Zimmer lege ich mich hin. Die Flut kommt jetzt auf in mir. Der Sand wird weggespült. Ich atme einmal tief ein, um mir Platz zu schaffen. Der Sand löst sich von meiner Brust. Ich trage weniger Gewicht auf mir, doch das Wasser überflutet mich. Ich atme zu tief, ich atme das Wasser ein, verschlucke mich, fange an zu husten und noch mehr Wasser gelangt in meinen Mund. Ich erwarte einen ekelhaften Geschmack, doch plötzlich mag ich das widerliche Salzwasser, das unangenehme Gefühl in meinem Mund, bekräftigt. Ich fühle mich bestätigt. 

Niemals hätte ich gedacht, dass mich ein so kurzes Telefonat, so ruckartig aus der Bahn werfen kann. Doch jetzt weiß ich: Manche Worte tun mindestens genauso weh wie Taten oder lang geplante und dann kurzfristig abgesagte Abenteuerurlaube zu zweit. Ein Wochenende sollten nur wir beide zählen. Doch dir ist jetzt was dazwischen gekommen und auch sonst sollten wir mal reden, denn es ist gerade irgendwie schwierig mit uns.

Seit Wochen habe ich von uns geträumt. In unserer Ferienwohnung wollte ich dir morgens Tee ans Bett bringen, den du brauchst um wach zu werden, denn du willst ja nie frühstücken. Danach tanzen wir in meiner Vorstellung Hand in Hand  zum Strand. Liegen auf unseren bunten Handtüchern, bauen Sandburgen und spielen mit den Wellen am Ufer. Man darf das Wasser nicht berühren, sondern muss vor den ankommenden Wellen weglaufen.

Ich fühle mich zurückversetzt in meine Kindheit. Jedes Mal am Meer habe ich das Spiel mit meiner Schwester gespielt. Wir haben gelacht, uns frei gefühlt. Und genau diese Freude und vor allem auch diese Freiheit wollte ich mit dir erleben. Endlich wieder Kind sein können. Wir spielen Wer-als-erstes-im-Wasser-ist-hat-gewonnen, reißen uns die Klamotten vom Körper. An diesem Tag habe ich mit meinem Blumenkleid eindeutig einen Vorteil. Ich laufe schon durch den sonnengewärmten Sand und du bist noch immer damit beschäftigt, deinen Gürtel aufzubekommen. Diese Runde gewinne ich, doch das lässt du nicht auf dir sitzen: Sobald du im Wasser bist, versuchst du mich zu fangen und nass zu spritzen, denn du weißt wie sehr ich das hasse. Ich sehe dein Schmunzeln, dein zufriedenes, schuldbewusstes Lächeln, wenn du es geschafft hast. Du gibst mir einen Kuss auf die Stirn – als Entschuldigung sozusagen. Wärme durchströmt meinen Körper, obwohl das Wasser noch so kalt ist. 

Ich wollte für ein paar Tage nur das tun, was wir tun wollen. Nichts tun was andere erwarten. An diesem Wochenende sollte es nur uns geben, keine anderen, nur wir zwei, doch dir ist ja jetzt was dazwischen gekommen und auch sonst sollten wir mal reden, denn irgendwie ist es gerade schwierig mit uns. 

Mir läuft ein Schauer über den Rücken. Entweder, weil all meine Vorstellungen von diesem Wochenende zunichte gemacht wurden. Weggespült von den kraftvollen Wellen wie eine kleine Muschel am Strand, oder vielleicht auch, weil ich darüber nachdenke, wie kalt es gewesen wäre, wenn wir aus dem Wasser gekommen wären. Du hilfst mir, mich abzurubbeln, denn du weißt, wie leicht ich friere. Du nimmst eigentlich immer einen zweiten Pulli für mich mit. Vor allem jetzt im Frühling. Man merkt die Sonne wird wieder stärker, es wird wärmer, doch es weht noch immer ein frischer Wind. Der Sand ist nur an der Oberfläche aufgewärmt und oft überschätze ich die Temperaturen.

Ich fange an zu zittern, mein ganzer Körper krampft sich zusammen. Es ist nicht nur die Kälte in mir. Zusätzlich ist da jetzt Angst, die du mir größtenteils genommen hattest: Du hattest mir geholfen, mich nicht von der Angst steuern zu lassen. Du hast mir geholfen, die zu sein, die ich werden wollte. Doch jetzt ist die Angst wieder da. Stärker als jemals zuvor. Aber du bist weg, du – bist weg. Du sagst mir nicht mehr, dass ich ruhig bleiben muss, tief einatmen soll und dass alles gut werden wird. Du hast mir immer Halt gegeben, doch meine Stütze wurde einfach weg gerissen. Von einer Flutwelle ins offene Meer gespült. Vielleicht kommt sie nochmal zurück, vielleicht wird sie nochmal angespült. 

Und zusätzlich ist da jetzt Wut: Ich bin so unfassbar wütend auf dich. Es war mein Geburtstagsgeschenk. Es war deine Idee. Wir beide am Meer. Wir zwei. Ich habe mich so gefreut, doch dir ist jetzt etwas dazwischen gekommen und auch sonst sollten wir mal reden, denn es ist schwierig zwischen uns, sagst du. 

Und zusätzlich ist da jetzt Trauer: Ich war so lange nicht mehr am Meer. Du wusstest dass mein Fernweh mich kaputt macht, du wusstest, wie sehr ich den Sand, der durch meine Zehen rieselt, vermisse. Du wusstest wie sehr ich das Meer, wie sehr ich diesen Urlaub brauchte. Doch jetzt vermisse ich nicht mehr die Wellen, sondern dich, ich brauche nicht mehr das Meer, ich brauche jetzt dich. Ich bin selber ein kleiner Ozean. Ein Ozean entstanden aus salziges Tränen.

Mir ist nicht klar, ob ich dich hasse oder nicht, ich bin vollkommen leer, doch irgendwas ist in mir, das dich vermisst. Ich starre eine Zeit lang auf das wilde Wasser. Die Wellen schäumen, türmen sich unterstützt vom Wind immer weiter auf. Ich stehe einfach nur da. Die Hände in den Taschen, meine Füße langsam feucht. Sehe das Meer, spüre das Verlagen, Teil davon zu werden. Das Meer hat so eine starke Anziehung auf mich, es fasziniert mich unheimlich. Ich wollte unbedingt mit dir ans Meer. Das wusstest du. Ich wollte raus aus der Stadt, ich wollte dahin, wo Nächte unendlich sind. Raus aus der Stadt und hinein in die Freiheit. Mit dir. Doch dir ist jetzt was dazwischen gekommen und du sagst, auch sonst sollten wir mal reden, denn irgendwie ist es gerade schwierig zwischen uns.

Wir waren auf einer Wellenlänge, doch schwimmen nicht mehr im gleichen Meer. Ich höre den Wellen jetzt beim Brechen zu. Sie sind so mächtig. Es rumst jedes Mal, wie ein gewaltiger Donner, doch dann kommen sie ganz friedlich am Strand an. 

Ich gehe ins Wasser. Die Wellen klatschen mir ins Gesicht, ich spüre wie sich der Sand unter meinen Füßen immer weiter entfernt. Das Wasser wird immer tiefer. Ich muss schwimmen. Die einzigen Geschenke des Meeres sind harte Schläge. Meine Arme tun schon nach zwei Zügen weh und meine Beine sind ganz steif, erfroren durch die Kälte des Wassers. Wie soll ich es schaffen? Wohin soll ich schwimmen? Was soll ich tun? Ich ertrinke in meinem Meer aus Gedanken. Ich habe mich verloren, obwohl ich Freiheit finden wollte. Ich habe mich verloren in dir und ich habe auch dich verloren. Du bist nicht mehr da. 

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Luzia ist 18 Jahre alt, hat gerade ihr Abitur gemacht und wartet nun darauf, dass ein FSJ im Ausland wieder möglich ist. In der Zwischenzeit bastelt sie fleißig Fotoalben mit Fotos ihrer Analogkamera, macht Herbstspaziergänge, freut sich über gute Gespräche bei Kerzenlicht und die Begegnung mit lieben Menschen. Das Schreiben ist ihr wichtigstes Ventil, um all die Eindrücke und Gedanken unserer Welt zu verarbeiten.

Fotos von Imina.

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