Triggerwarnung: in diesem Text geht es unter anderem um häusliche Gewalt.
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Hippies, Hotpants und Hard Rock verbinden viele mit den wilden 70ern. Vor allem für Frauen hat sich in diesem Jahrzehnt vieles verändert. Im Jahr 2021 jähren sich wichtige Ereignisse zum 50. Mal. Wofür wurde damals gekämpft? Eine kleine feministische Zeitreise in das Jahr 1971.
Der Blick zurück
Große Zeitschriften betreiben Female Empowerment: auf Titelseiten werden die 100 Frauen des Jahres geehrt und Aktionen wie „Ich bin eine Quotenfrau“ machen im Netz die Runde. Es scheint, als hätten Frauen eine feste Stimme in der Öffentlichkeit. Manche von ihnen setzen sich schon seit Jahrzehnten für Gleichberechtigung ein, waren Teil der sogenannten neuen Frauenbewegung vor fünfzig Jahren. Eine Zeit, die bis heute nachwirkt und vielleicht mehr mit der Gegenwart zu tun hat, als wir denken. Was waren die Anliegen der Frauen? Wie wurde protestiert? Was ist von damals übrig geblieben? Unser Verständnis von Feminismus basiert maßgeblich auf den Theorien revolutionärer Denker:innen aus dem letzten Jahrhundert. Moderne feministische Bewegungen eifern einer weiblichen Zukunft entgegen: The Future is Female ist das Motto. Doch worauf basiert der Feminismus des 21. Jahrhunderts? Und wie sieht die weibliche Vergangenheit aus?
Gegen das Gesetz
Als Startschuss der neuen Frauenbewegung in Westeuropa wird häufig der Kampf gegen das Abtreibungsverbot genannt. Die Bewegung in Deutschland bekam vor allem durch medienwirksame Handlungen vor fünfzig Jahren gehörigen Antrieb. In Frankreich erscheint im April 1971 die Ausgabe eines linksliberalen Wochenmagazins, in dem prominente Frauen sich dazu bekennen, Schwangerschaften abgebrochen zu haben. Die Debatte, die sie damit anstoßen, ist deshalb so revolutionär, weil Abtreibungen in Frankreich damals verboten sind. Häufig wurden sie jedoch illegal und unter lebensbedrohlichen Umständen durchgeführt. Die französische Philosophin Simone de Beauvoir ist eine der Frauen, die sich selbst einer Straftat bezichtigt. Ihre Kollegin, die junge Deutsche Alice Schwarzer, plant die Aktion mit. Sie holt die Initiative kurze Zeit später in die Bundesrepublik, wo der Paragraph 218 im Strafgesetzbuch seit längerem Aufsehen erregt. Dieser so bezeichnete „Abtreibungsparagraph“ stellt Abtreibungen unter Strafe. Am 6. Juni 1971 erscheint im Stern ein Manifest, das das Land aufrüttelt. Auf dem Titelblatt der Zeitschrift sind die Gesichter mehrerer Frauen abgedruckt, die teils lächelnd, teils ernst, mal mit, mal ohne Kind auf dem Arm in die Kamera schauen und eine gemeinsame Sache verlangen: Endlich gehört werden. Die gelb unterlegte Schlagzeile dazu lautet: „Wir haben abgetrieben!“. Die Frauen bekennen sich damit öffentlich zu einem Gesetzesverstoß. Denn nach damaliger Rechtslage sind Schwangerschaftsabbrüche rechtswidrig und können mit bis zu fünf Jahren Gefängnisstrafe geahndet werden.


Ein feministischer Funke
Das Recht auf körperliche Selbstbestimmung ist also massiv eingeschränkt. Insgesamt 374 prominente und unbekannte Frauen haben den Appell unterschrieben, der die restlose Abschaffung des Paragraphen 218 fordert. Die Aktion löst heftige Diskussionen aus und trägt zur Belebung eines neuen Feminismus bei. Frauen nehmen sich ihren Platz in der Öffentlichkeit wie im Privaten und fangen an, zu reden. Über Schwangerschaften, über „Wunschkinder“, Sexualität oder Gewalterfahrungen. Aus dem geistigen Funken wird ein Feuer, das sich im Land ausbreitet. Die feministischen Forderungen geben den Anstoß zu Protestbewegungen, die bis heute bestehen. Nach den Aktionen gegen den Paragraphen wird eine „Fristenlösung“ ausgehandelt, 1972 auch in der DDR. Durch die Änderung des Gesetzes ist es fortan unter bestimmten Umständen möglich, Schwangerschaften in den ersten drei Monaten legal zu beenden. Der Paragraph wird heute zwar frei ausgelegt, doch eine Abschaffung ist nicht in Sicht. Dabei geht es um das grundlegende Prinzip, dem weiblichen Körper eigene Entscheidungen zu überlassen. Wenn in wichtigen Instanzen der Medizin, Justiz oder Politik größtenteils Menschen sitzen, die keinen Bezug zu den Anliegen von Gebärfähigen haben, ist das ein institutionelles Problem.
Recht auf Mitsprache
Entscheidenden Antrieb bekommt die Frauenbewegung in Europa vor allem durch Impulse der Bürger:innenrechtsbewegung in den USA. Sie knüpft außerdem beim Gedanken der linksorientierten 68er-Bewegungen an und breitet sich rasant in Europa aus. Für die Frauen in der Schweiz markiert das Jahr 1971 den Erhalt eines wichtigen Bürger:innenrechts: das Wahlrecht. Durch jahrzehntelange Protestaktionen und Streiks wurde das „Frauenstimmrecht“ errungen. Die Frauenbefreiungsbewegung, bestehend aus jungen radikalen Feminist:innen, ging dabei noch entschlossener vor, als bereits bestehende Frauenverbände. Seit Frühling 1971 ist gesetzlich geregelt, dass Frauen das gleiche Wahl- und Stimmrecht wie Männer besitzen. Wo unser Nachbarland dieses Jahr Jubiläum feiert, hatten Frauen in Deutschland das Recht auf gleichberechtigte Wahlen bereits 1918 errungen. Der zeitliche Vorsprung, den Männer auf politischer Ebene haben, ist auch heute noch spürbar. Mit einer Frau als Bundeskanzlerin scheint es zwar, als wäre politische Teilhabe schon längst nicht mehr von Sexismus oder männlichen Machtstrukturen geprägt. Doch mit weiblichen Galionsfiguren ist eben noch lange keine absolute Gleichberechtigung erreicht. Ein Blick in den deutschen Bundestag offenbart die Kluft, die zwischen den Geschlechtern in der Politik herrscht. Der Anteil an weiblichen Abgeordneten beträgt nur etwa 31 Prozent. Nicht besonders repräsentativ für ein Land, in dem etwa eine Million mehr Frauen als Männer leben. Übrigens sind in dieser Statistik der Regierung nur Frauen und Männer aufgelistet. Es wird somit kein Platz für Identitäten abseits des binären Geschlechtersystems geboten.
Ort der Zuflucht
Eine weitere Errungenschaft der europäischen Frauenbewegung entwickelt sich 1971 in Großbritannien. In einem heruntergekommenen Haus im Westen Londons entsteht eine wichtige Institution der Frauenbewegung: Die Chiswick Frauenhilfe wird zu einem gemeinnützigen Frauenhaus und gilt damit als weltweit erstes seiner Art. Gegründet wurde es als Treffpunkt für Frauen, die vom Staat Sozialhilfe erhielten und Unterstützung in bürokratischen Fragen bekamen. Später kommen in das Frauenzentrum vermehrt Frauen, die von häuslicher Gewalt betroffen sind und eine Schutzstätte suchen. Den Frauen, die von ihren Partnern misshandelt werden, wird eine Zufluchtsstätte geboten, die den Fokus auf die Ursache des Problems lenkt: Gewalt in Ehe und Beziehung. In den kommenden Jahren gründen sich zahlreiche weitere Frauenhäuser, betrieben von freiwilligen feministischen Helfenden. Heute gibt es allein in Deutschland etwa 360 dieser Schutzeinrichtungen. Und es ist nicht nur körperliche Gewalt, vor der die Hilfesuchenden fliehen. Einige haben mit Abhängigkeiten zu kämpfen, andere brauchen eine sichere Bleibe, weil sie aufgrund ihrer Religion oder ethnischen Herkunft diskriminiert werden. In diesen Orten der Zuflucht wird die Machtausübung der männerdominierten Gesellschaft umso offensichtlicher. Frauenhäuser sind im weitesten Sinne auch eine Flucht vor dem Patriarchat.

Die Stimme nutzen
Das feministische Feuer breitet sich immer weiter aus. Im November 1971 finden europaweit Demonstrationen statt. Zahlreiche Protestierende in Deutschland fordern unter anderem das Recht auf legale Abtreibung sowie die Selbstbestimmung der Frau. In Paris gehen tausende Menschen auf die Straße und verlangen rechtliche und gesellschaftliche Freiheit. Bis heute sind Demos ein wirksames Mittel, um sich Gehör zu verschaffen. Nicht nur am Frauentag, der alljährlich am 8. März gefeiert wird, gehen Menschen für den Feminismus vor die Tür. Allein in der Hauptstadt zog es letztes Jahr ungefähr 12000 Menschen auf die Straße. Was die Demos noch ein halbes Jahrhundert später gemeinsam haben, sind ihre Hauptforderungen. Neben vielen anderen Zielen, kämpft das Bündnis Frauen*kampftag gegen die „Kriminalisierung des Schwangerschaftsabbruchs“, wie es in einem Aufruf heißt. Konkret heißt das, wie vor fünfzig Jahren, die ersatzlose Streichung des Paragraphen 218 sowie 219, der das ärztliche Werbeverbot für Abtreibungen verbietet.
Retro Revival
Neben den Zielen sind sogar auch die Symbole der feministischen Bewegung ähnlich geblieben. Das „Weiblichkeitssymbol“ mit der ausgestreckten Faust in der Mitte wurde zum Zeichen der damaligen Frauenbewegung und steht auch heute für feministische Kämpfe. Mit der Farbe Lila, die neben Pink als Erkennungszeichen des Feminismus verwendet wird, wird an damals angeknüpft. Und auch Leitsprüche wie „Mein Bauch gehört mir“ erscheinen noch immer aktuell und erinnern an heutige „My body, my choice“-Slogans. Die 70er sind also nach wie vor modern. Abgesehen von Modetrends oder Musik erleben auch politische Symbole ein Revival.
Damals wie heute
Rückblickend hat die feministische Bewegung viel verändert. Es wurden gesellschaftliche Prozesse ins Rollen gebracht, die die Bundesrepublik nachwirkend geprägt haben. Es wurden Demos veranstaltet, es wurde öffentlich über Geschlechterrollen und Unterdrückung diskutiert. Auch die sogenannte Homosexuellenbewegung nahm in Verbindung zur Frauenbewegung an Fahrt auf. Menschen schlossen sich zusammen, formierten sich in festen Gruppen und Verbänden. Die sozialen Umbrüche haben Fragen aufgeworfen, die uns nach wie vor beschäftigen. Was tun, wenn Politik und Justiz sich gegen den Willen von Bürger:innen stellen? Debatten und Aktivismus scheinen nach wie vor ein essentielles Mittel zu sein, Verbesserung zu erreichen.
Natürlich ist das nur ein kleiner Ausschnitt der Leistungen, die Feminist:innen errungen haben. Viele Punkte lassen sich zu Recht an damaligen Bewegungen kritisieren. Die Queer-Feindlichkeit oder die Dominanz von weißen Frauen innerhalb der Gruppierungen zum Beispiel. Trotzdem haben die Veränderungen seit den 70ern dazu beigetragen, dass unsere Gesellschaft heute so ist, wie sie ist. Die Tatsache, dass auch nach einem halben Jahrhundert immer noch für das Gleiche gekämpft wird, ist bezeichnend. Und erinnert daran, wo noch heute Schwachstellen unserer Gesellschaft liegen: Bei einer veralteten Justiz, bei einem ausbeutenden Staat, und nicht zuletzt bei einer Gesellschaft, die weiterhin patriarchal bestimmt ist. Doch vielleicht sieht in fünfzig Jahren alles ganz anders aus.
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Emi ist 20, Studentin und lebt in Berlin. Bei Regen verliert sie sich in Tagträumereien und wird kreativ. Sie ist begeistert von den unterschiedlichen Facetten, die die Gesellschaft und wir alle in uns tragen. In der Kolumne Facettenreich geht es darum, was uns ausmacht, ‚anders‘ macht und was Vielfalt bedeuten kann.
Die Fotografien sind von Jule Heinrich. Sie ist 21 Jahre alt, lebt in Hamburg und studiert an der HfbK.
Es gilt der Versuch Ungreifbares greifbar erscheinen zu lassen, Gefühle und Gedanken sichtbar zu machen und bloß nichts Erlebtes zu vergessen. Das Fotografieren begleiten sie dokumentarisch durch den Alltag.
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Quellen:
FMT – Chronik der Neuen Frauenbewegung: 1971 (frauenmediaturm.de)
Kampf um das Recht auf Abtreibung ab den 1970er Jahren (frauenmediaturm.de)
Die Jahre 1971 bis 1975: So fing es an! | EMMA
Frauenstimmrecht in der Schweiz – Wikipedia
Aufruf 8. März Demonstration 2020 | Frauen*kampftag Berlin (wordpress.com)
Deutscher Bundestag – Frauen und Männer
Bestandsaufnahme der Bundesregierung | BIG e.V. (big-berlin.info)
Internationaler Frauentag: Bis zu 12.000 Menschen demonstrieren in Berlin für Frauenrechte | rbb24
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