Sie steht jeden Morgen auf, wäscht sich
Isst
Macht das Fenster auf
Setzt sich vor den Fernseher
Und wartet.
Auf wen? Oder
Auf was?
Das Denken funktioniert nicht mehr so schnell
Der Fernseher leuchtet hell –
Im dunklen Zimmer
Da sitzt sie immer
Da sitzt sie schon immer
Da sitzt sie noch immer
Vorm Geflimmer
Einer Sendung
Die sie nicht versteht
„Es gibt jetzt so viele Kanäle“ erzählt sie mir erstaunt
Ich lächle und werde still
Ich fühle Mitleid
Und dann hab ich ein schlechtes Gewissen
Weil ich Mitleid fühle
Aber ändern kann ich es nicht
Es wird immer deutlicher
Dass es zu Ende gehen wird
Mit 95 Jahren ist das klar
„Ein langes, erfülltes Leben“
Und
„Es war ein schöner, leichter Tod“ werden sie sagen
Und ich werde mich fragen
War es das?
Oder war es das nur bis zu einem gewissen Moment, einem Wendepunkt ?
Wendepunkt, der:
Zeitpunkt, an dem sich etwas bedeutend ändert.
Gibt es so einen im Leben?
Gab es so einen in ihrem Leben?
Die erste Frau, die in der Bahn für sie aufstand?
Das erste Mal, dass ihr die Einkäufe zu schwer wurden? Oder
Das erste Lächeln, das etwas zu freundlich war?
Fragt sie sich manchmal
Ob es besser gewesen wäre
Vorher zu gehen?
Damals
Als sie noch gehen konnte?
Zu vergehen, Verb:
Zu Ende kommen, dahinschwinden
Bin ich zu harsch?
Denk ich zu negativ? Oder einfach realistisch?
„Alt werden kann auch etwas Schönes sein“, sagen sie
Aber
Während die Enkel wachsen, werden die Besuche weniger
Und
Während die Gelenke anschwellen wächst die Einsamkeit
Die Gelenke schwellen an
Bis der Ehering nicht mehr drüber passt
Aber
Ihr Mann schaut sowieso nur noch von oben zu
Und die Erinnerungen die bleiben,
Sind die von der Kindheit auf dem Lande
Sie macht die Augen zu
Denkt daran zurück
An die einfachen Zeiten
An die Wiesen voll Blumen
An die Ferkel im Stall
An die erste Liebe
Und den letzten Luftsprung
Wann war der eigentlich? War er der Wendepunkt?
Oder
Ist es ein schleichender Prozess
Das Alt werden?
Gibt es einen Wendepunkt?
Und
Wann wird sie den Punkt Null erreichen?
–
Der Text ist von Amalie. Sie ist 19 Jahre alt, kommt aus Hannover und studiert nun seit dem Wintersemester Design in Münster. Davor hat sie ein FSJ in Prag verbracht, wo sie vor allem mit Zeitzeug:innen des zweiten Weltkrieges, also meist sehr alten Menschen zusammengearbeitet hat und diese unter anderem im Alltag begleitet hat. Sie liebt es, Zeit in der Natur zu verbringen, Musik zu machen, zu schreiben und kreative Projekte aller Art. Am liebsten spielt sie mit Freund:innen Gesellschafts- und Kartenspiele.
Gestaltet wurde dieser Beitrag von Luise. Sie ist eine junge Gestalterin und Künstlerin, sie lebt in Berlin und studiert dort an der Universität der Künste. Sowohl in der Kunst als auch im echten Leben liebt sie die Spannungen zwischen dem Komischen und Sensiblen, dem Ehrlichen und Emotionalen, der Freiheit und dem in Gedankenversinken.