Sie versprechen Schutz und unterscheiden uns voneinander.
Doch was, wenn sie uns gefangen halten und unsere begrenzten Gedanken uns in ihrem Inneren gefährlich werden?
Was bedeutet das Wort Heimat noch, wenn die Welt doch eigentlich unser Zuhause ist?
Schlürfst Du Coca- oder Vita-Cola?
Streichst Du Nutella oder Nudossi?
Belohnst Du dich lieber mit Milka oder Bambina?
Im Freundeskreis können solche Fragen ganz witzig sein, sind diese kulinarischen Unterschiede doch ein Überbleibsel der Deutschen Teilung und spannend in Erfahrung zu bringen. Doch wie kann es sein, dass manch einem die Staatsbürgerschaft eines non-existenten Staates zugeschrieben wird? Warum unterscheiden wir noch in Ossis und Wessis, wenn unser Deutschland schon lange vier und nicht mehr nur zwei Himmelsrichtungen hat? Weshalb kann man auf etwas reduziert werden, von dem man nie Teil war?
___________________________________________________________________________

Ich bin 22 Jahre alt und damit Teil der Generation Z: zwischen 1997 und 2012 geboren, die Nachwendekinder und Erben der Demokratie.
Wenn meine Nationalität irgendwo eine Rolle spielt, dann bin ich schlichtweg und neutral Deutsch. Sobald mir innerhalb der eigenen Landesgrenze aber ein dreiviertel Drei oder ein ,ge? über die Lippen rollt, dann ist mein Deutschland auf einmal viel kleiner – dann hat mein Deutschland ein leichteres Abitur, eine rechte Tendenz, weniger Einkommen und trauert dem Sozialismus hinterher.
Jedoch kenne ich dieses Land nicht, auf das ich reduziert werde. Ich kenne nur ein Deutschland, ich kenne den Osten als eine Himmelsrichtung und die Westpakete nur aus Erzählungen.
Die Wiedervereinigung ist jetzt 30 Jahre her. Wenn diese 30 Jahre nicht genug Zeit waren, die Trennung in Ost und West nur noch eine Erinnerung sein zu lassen und die gegrabene gesellschaftliche Kluft der deutschen Teilung zu beseitigen, dann stellt sich die Frage inwiefern wir von einer Vereinigung sprechen können.
Denn wenn eh niemand die Absicht hatte eine Mauer zu bauen, dann hat wohl auch niemand vorher bedacht, wie dieser wieder einzureißen wäre. Physisch, wirtschaftlich, gesellschaftlich, psychisch. So sehr wir politische Improvisation, Davids‘ Freiheitshymne und die jährlichen Gedenkfeiern auch schätzen, so ganz non-existent wie die Wetterkarte im Fernsehen es uns versucht vorzugaukeln, ist die Mauer immer noch nicht.
„Die Mauer in Berlin ist eine Realität; aber realistisch ist sie nicht, denn sie ist nicht vernünftig, nicht human. Deshalb wird sie in der geschichtlichen Perspektive keinen Bestand haben.“
Richard von Weizsäcker, ehemaliger Bundespräsident (18. März 1986)
Meine Generation wurde im Sinne der Einheit sozialisiert, Ost und West existieren im Geschichtsbuch und an Omas Kaffeetisch. Die Demokratie und der Kapitalismus vereinen uns, ab 1990 waren unsere Lebensbedingungen offiziell gleich, was man also draus gemacht hat, lag ganz in den eigenen Händen.
So hat sich das wohl irgendwer an einem runden Tisch gedacht, und so wäre es auch schön gewesen. Doch 40 Jahre der Trennung lassen sich nicht einfach so ungeschehen machen. Zwei Systeme und Lebensweisen lassen sich nicht stolperfrei in eines verschmelzen, und Toleranz und Solidarität sich nicht bedingungslos voraussetzen.
Es wurde versäumt die andauernde Unterscheidung in richtig und falsch, gut und schlecht, demokratisch und diktatorisch zu unterbinden. Resultiert ist das in einer Denke, die weiterhin in zwei Kategorien, Gesellschaften und Mauerseiten gedacht unterschied. Auch die narrative Thematisierung der Geschichte, ihre Ausmalung in den Farben der persönlichen Erlebnisse und Erinnerungen, variierten über die alte Grenze hinweg und erschweren weiterhin die Aufarbeitung und Sensibilisierung mit unserer gemeinsamen Geschichte.
„Solange es Mauer, Stacheldraht und Schießbefehle gibt, kann von Normalität in Deutschland keine Rede sein.“
Helmut Kohl, ehemaliger CDU Bundeskanzler (13.August 1986)

Unser Erbe gleicht einem beidseitigen Nichtwissen und der Unfähigkeit Vergangenheit eben das sein zu lassen, was sie war und ist. Wenn wir weiterhin in Ost und West unterschieden werden, leben wir eine Doppelmoral aus, die auf der einen Seite auf- und auf der anderen abwertet. Die Mauer, die dies zwischen uns treibt, zeugt davon, dass uns mehr Dinge trennen als uns in unserem gemeinsamen politischen System vereinen.
Unweigerlich führt dies zu abweichenden Lebensrealitäten und einem Deutschland, dass von seiner Gründungsidee und seiner Verfassung abweicht.
Unsere Großeltern- und Elterngeneration haben unterschiedliche Erfahrungswerte mit der Demokratie. Ihre Institutionen, Werte und Freiheiten – die wir noch heute schätzen und deren Verlust ein schmerzhafter Eingriff in das Leben Aller darstellen würde – genossen die Einen bereits seit 1949. Den Anderen, den „Sozialisten“, offenbarte sich die Demokratie in ihrer Schönheit erst ab 1989 – eine viel kürzere Gewöhnungsphase, nicht um die Demokratie an sich zu akzeptieren und wertzuschätzen, sondern sich dem fremdbestimmten Transformationsprozess zu ergeben und mit der gesellschaftlichen Vergangenheit ein für alle Mal abzuschließen.
„Wer unsere Grenze nicht respektiert, der bekommt die Kugel zu spüren!“
Armeegeneral Heinz Hoffmann, Minister für Nationale Verteidigung der DDR (13.August 1966, 5. Jahrestag Mauerbau)
Dass für die Nachwendegenerationen physische Grenzen ein Konzept darstellen, für Andere aber weiterhin als politisches Mittel zum Zweck gelten, erschwert das Verstehen und mindert den Willen unsere eigene Grenze als noch nicht eingerissen zu akzeptieren. Anderswo sollen Mauern Schutz versprechen, die vermeintlich Fremden draußen lassen und das Gute und Bekannte bewahren. Eine andauernde gesellschaftliche Teilung Deutschlands schützt keinerlei Werte oder Freiheiten, mindert eher Chancen und macht eine wesensgleiche Kommunikation schier unmöglich.
Dabei ist das nicht unsere Mauer, war es nie, und wird es hoffentlich nie wieder werden. Aber wenn die, die schon immer frei spazieren konnten, so reden als wäre der Horizont vom Flutlicht der Wachtürme erstrahlt, dann sind wir den Barrieren unserer Gesellschaft noch nicht weit genug entkommen.
„Die Mauer wird auch in 50 oder 100 Jahren noch bestehen.”
Erich Honecker, DDR-Staats- und Parteichef (19. Januar 1989)
Wendekinder bezeichnen die Generationen, die in der Deutschen Demokratischen Republik aufgewachsen sind und den Mauerfall miterlebt haben. Nachwendekinder sind im Osten, wie auch im Westen Deutschlands sozialisiert wurden und waren nie von dramatischen Freizügigkeitseinschränkungen betroffen.
Woran liegt es also, dass gerne mit dem Finger auf die den Osten oder Westen gezeigt wird? Warum werden beide Teile Deutschlands weiterhin miteinander verglichen?
Und warum unterscheiden wir immer noch in Ost- und Westdeutsche, als wären damit ganz bestimmte Eigenheiten verbunden?
Im Mai diesen Jahres, zur ersten Hochzeit des Virus, überschlugen sich die Schlagzeilen bezüglich eines Corona-Vorteils im Osten Deutschlands (siehe unter anderem Die Welt & Süddeutsche Zeitung). Erklärt wurden diese Beobachtungen nicht mit einem intakten Gesundheitssystem oder einem bewussten Umgang mit dem steigenden Infektionsrisiko, sondern mit einer mangelhaften Infrastruktur, weniger stark ausgebauten internationalen Märkten, einer älteren und einsameren Gesellschaft und der sozioökonomisch schlechteren Lage der neuen Bundesländer. All dies lässt sich schwer in Frage stellen, trifft es zu großen Teilen zu und hat die Verbreitung des Virus mit Sicherheit beeinflusst. Doch diese Schlüsse werden gezogen und ihre Ursache nicht weiter thematisiert. Wie kann es sein, dass wir von einem Land innerhalb eines Landes sprechen, als stünde es hinten an, wäre weniger entwickelt und seine Bevölkerung eine Eigenart?

Es gibt schlichtweg kein Ost- und kein Westdeutschland mehr, sondern einen Norden, Süden, Osten und Westen Deutschlands. Örtliche Dialekte, regionale Kulinarik und natürlich auch abweichende gesellschaftliche Strukturen und Gedanken – diese Unterschiede sind genau das, was eine Nation ausmacht. Kein deutscher Staatsbürger steht über einem anderen, nur weil in seiner Heimat Wein statt Kohle an- oder abgebaut, oder geerbt statt gemietet wird.
Individuen auf ihre Herkunft zu reduzieren ist menschenunwürdig, dies gilt für offizielle Staatsgrenzen, wie auch für imaginäre und längst eingerissene Grenzverläufe.
Manche studieren in der dritten Generation, während andere die Ersten in ihrer Familie sind, die einen Hochschulabschluss absolvieren.
Der eine redet vom Diebstahl seiner Chancen, während anderswo internationale Konzerne auf den Ruinen von Existenzen erbaut wurden.
Einige können sich auf geerbtes Kapital verlassen, während andere um den sozialen Aufstieg bangen.
All dies hat nicht zwingend etwas mit der ehemaligen Mauer und der Deutschen Teilung zu tun, denn soziale Ungerechtigkeit macht nicht vor Grenzen halt. Das Einkommensgefälle zwischen Ost und West, die Auflösung von DDR-Betrieben und die andauernde Abwanderung aus ostdeutschen Bundesländern belasten das Ost-West-Verhältnis und den medialen und gesellschaftlichen Diskurs.
Wir sollten aber Halt machen vor unbegründeten Verallgemeinerungen und der Degradierung unserer Landsleute. Wiedervereinigt können wir uns nur nennen, wenn wir uns auch als eine Einheit sehen – geografisch, sozial und emotional.
Auch wenn es diese Mauer regelmäßig schafft uns noch Jahrzehnte später in Vorurteilen, Missverständnissen und imaginären Entfernungen einzusperren, müssen wir uns abgewöhnen über eine innere Grenze zu blicken. Denn es bringt nichts ein Gemäuer einzureißen und Gras drüber wachsen lassen zu wollen, wenn man die Erde darunter nicht atmen und zu Wort kommen lässt.
Wo Generation Y, Z und Alpha sonst gerne mal mit der Verantwortung stehen gelassen werden und den unerhörten Hilfeschreien in nahender Zukunft drastische Taten folgen lassen müssen, können wir uns in dieser Angelegenheit mal zurücklehnen und das Ost- und West-Sein einfach sein lassen. Mit genau dieser Haltung wären wir unseren Vor-Generationen einen Schritt voraus und würden mit wenig Anstrengung genau das meistern, was 30 Jahre gebraucht hat.
Weiterführende Literatur:
Studien zur Selbstwahrnehmung Jugendlicher in Ost und West-Deutschland:
McDonald’s Deutschland (2019) Kinder der Einheit: same same but (still) different! Die McDonald’s Ausbildungsstudie 2019
Otto Brenner Stiftung (2019) Im vereinten Deutschland geboren – in den Einstellungen gespalten? OBS-Studie zur ersten Nachwendegeneration
Jasmin ist 22, studiert Politik und Wirtschaft und schreibt sich gerne mal woanders hin.
In Gib Mir Widerworte will sie Dich zur Auseinandersetzung mit der aktuellen Alltagspolitik animieren und für einen informierten Diskurs sensibilisieren. Gib Ihr Widerworte.
Dieser Post wurde von Johannes gestaltet. Er ist 20, studiert Visuelle Kommunikation in Berlin, macht nebenbei Musik und schläft gern bis 13 Uhr. Er verbringt seine Zeit mit lieben Leuten und verliert sich manchmal in seinem Computer.