
Tief durchatmen, bevor ich an der Männergruppe vorbeigehe, möglichst schnell huschen, auf den Boden oder zur Seite gucken, aber nicht so, dass es unsicher wirkt, sondern gelangweilt. Wenn sie dann was sagen, rufen, pfeifen, reagiere ich meistens nicht rechtzeitig. Ein kläglich ausgestreckter Mittelfinger ist meistens alles, was ich spontan entgegen zu bringen schaffe. Ich weiß es doch besser, denke ich und schäme mich, dass ich nicht im Namen aller weiblich gelesenen Menschen diesen jämmerlichen Männertrupp zusammenstauche und es ihnen ein für allemal austreibe, nachts Leute zu belästigen.

Frauen bewegen sich anders durch die Straßen als Männer. Weiße cis Männer können unbehelligt durch die Straße flanieren, über ihr Leben nachdenken und sich treiben lassen, weil die Stadt für sie gemacht ist. Es gibt eine Reihe von Literatur über den männlichen Flaneur, während man die Beschreibungen von Straßenerfahrungen von Frauen, BIPOC oder queeren Menschen erst suchen muss. Das weibliche Flanieren ist immer von Beschränkungen geprägt, von einem Gefühl des Beobachtet-Werdens und der Objektifizierung durch den männlichen Blick. Der Begriff des männlichen Blicks, bzw. des Male Gaze, geht auf die feministische Filmtheoretikerin Laura Mulvey zurück. Sie beschreibt damit in ihrem 1975 erschienenen Text Visual Pleasure and Narrative Cinema einen bestimmenden, kontrollierenden Blick, mit dem Männer aktiv Frauen ansehen, während diesen lediglich die passive Rolle des „Angesehen-werden-Wollens“ zugeschrieben wird.
Keine nett gemeinten Komplimente
„Männer sehen Frauen an. Frauen sehen sich, wie sie angesehen werden“, schreibt John Berger. Mit 15 dachte ich, es sei ein Kompliment, wenn mir fremde Männer hinterherpfeifen oder sie meinem damaligen Freund zu seinem Besitz von mir gratulieren. Ich dachte, mit mir stimmt etwas nicht, wenn sie es nicht getan haben. Ich habe die Perspektive der belästigenden Männer, den Male Gaze, angenommen und mich in ihren Kategorien bewertet. Nicht verwunderlich, wenn es in jedem Hollywood-Film als total normal dargestellt wird, dass Frauen lediglich Objekte des Begehrens sind, die immer erst überredet werden müssen, dass Nein nach ein paar Mal nachhaken und einer übergriffigen, romantischen Geste irgendwann doch Ja heißt, und dass man als Frau sowieso nur etwas wert ist, wenn man von Männern begehrt wird.

Abgesehen davon, dass dieses Denken sexistischer, queerfeindlicher und Rape Culture stabilisierender Müll ist, ist das Übernehmen einer Außensicht auf sich selbst Gewalt. Der Soziologe Pierre Bourdieu beschreibt mit seinem Begriff der symbolischen Gewalt eine Form von Gewalt, die unsichtbar und nicht greifbar vonstattengeht. Dazu gehört, dass die Beherrschten mit daran beteiligt sind, die Herrschaftsverhältnisse aufrecht zu erhalten. Das tun sie nicht absichtlich, sondern weil sie unwissentlich die Verhältnisse, in diesem Fall das Patriarchat, und ihre Stellung darin internalisiert haben. Für ihre Selbst- und Fremdwahrnehmung stehen ihnen nur die Kategorien der Herrschenden zur Verfügung, weshalb sie sich selbst gegenüber den herrschenden Standpunkt einnehmen und sich diesem entsprechend bewerten.

Reine Machtausübung
Das macht es schwieriger, vor allem für jüngere Menschen, Kommentare von fremden Männern einzuordnen als das, was sie wirklich sind: Keine Komplimente nämlich, sondern reine Machtausübung. Wenn mir ein Mann hinterherschnalzt, als sei ich ein Hund, ist das kein nett gemeinter Versuch, mit mir Kontakt aufzunehmen. Offensichtlich hat er kein Interesse daran, ein Gespräch mit mir anzufangen, sondern möchte seine Macht und Dominanz demonstrieren, mich erniedrigen.
Diese Dominanz manifestiert sich nicht nur in den Momenten, in denen tatsächlich etwas passiert, in denen jemand etwas ruft, hupt oder mich anfasst. Sie ist immer spürbar, wenn ich nicht weiß, ob der Typ einfach nur vor sich hinstarrt oder mich anschaut. Ob die Berührung gerade zufällig war oder ein Mann die Situation ausgenutzt hat, dass es dunkel ist und eng ist, dass ich gerade arbeite oder betrunken bin. Das Schlimme dabei: Wir haben uns daran gewöhnt. Keine Frau ist überrascht, wenn sie beim Feiern sexuell belästigt wird.

In dem Club, in dem ein Bekannter gearbeitet hat, fand mal eine queere Party statt. Seine männlichen Kollegen waren sehr besorgt deswegen, weil sie Angst hatten, von homosexuellen Männern belästigt zu werden. Natürlich mal wieder homofeindlicher und klischeebeladener Quatsch, aber – Willkommen in unserer Welt!

Die Unsicherheit und Angst, die Frauen, queere und trans Personen alleine auf der Straße haben, ist weder willkürlich noch ihr individuelles Problem. Sie ist einer der vielen Mechanismen, die es gibt, um alle vom Patriarchat unterdrückten Menschen dort unten zu halten. Sie ist ein kollektives Problem der sexistischen Gesellschaft, in der wir leben, das auch nur kollektiv gelöst werden kann. Es dauert leider wohl noch eine Weile, bis das Patriarchat endlich abgeschafft wird. Bis dahin: Begleitet eure Freund*innen nach Hause. Fragt, ob sie sicher angekommen sind. Sprecht über eure Erfahrungen, über das Gefühl, ständig beobachtet zu werden. Hört einander zu, seid solidarisch und gebt aufeinander Acht. Wir sind nicht allein.
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Text von Emma. Sie ist 22 und lebt in Freiburg, wo sie Soziologie und Germanistik studiert. Nebenbei schreibt sie, zum Teil für das Uni-Magazin, hauptsächlich für sich selbst.
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