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Offener Brief an einen alten, weißen Mann

„Sei doch nicht so politisch korrekt“, sagst du.
„Komm mir jetzt nicht mit der Moralkeule“. Deine Stimme zittert.
„Da wird man ja wohl noch sagen dürfen.“
Jetzt bist du wütend und ich fühle mich schlecht, weil ich anscheinend der Grund dafür bin. Ich beginne zu zweifeln. Schließlich willst du doch das gleiche, sagst du – Freiheit und Gleichheit für alle Menschen. Ich bin verwirrt. Später, als ich mich wieder beruhigt habe, klären sich meine Gedanken und die Ohnmacht und das schlechte Gewissen verwandeln sich in Wut. Eine produktive Wut, in der ich meine Kraft bündle und eine Antwort verfasse – eine Antwort an dich.

Wir leben in einem Land, in dem wir ein Maximum an Freiheiten genießen. Wir haben das Grundgesetz, wir haben freie Wahlen, wir haben unabhängige Gerichte und eine Meinungs- und Pressefreiheit, die fast uneingeschränkt gilt. Auf diese Meinungsfreiheit berufen sich dann Menschen, die Homosexuelle diskriminieren, den Holocaust leugnen oder allen Ernstes behaupten, Rassismus sei kein Problem mehr in der heutigen Gesellschaft; Menschen, die der Überzeugung sind, dass diese Themen in der Presse überproportional repräsentiert würden oder dass das Land von Geflüchteten überflutet würde. Du weißt, dass das ein Problem ist. Du vertrittst keine dieser Positionen, du nimmst mich zu Demos gegen Rechtsextremismus mit, wir sind uns einig. Doch leider ist es seit geraumer Zeit – um genauer zu sein, seit ich begonnen habe, mir eigene Meinungen zu bilden – nicht mehr so einfach.

Du bist Teil des Problems!

Denn, was du noch nicht verstanden hast, ist: Du bist auch Teil des Problems. Sich gegen offen diskriminierende Aussagen zu stellen, ist wichtig – aber es reicht nicht, denn Rassismus, Sexismus und Homophobie existieren nicht nur auf den Demoschildern von Neonazis, sondern finden auch und vor allem im Alltag statt. Die Probleme sind strukturell, sie greifen tiefer. Du musst erkennen: Das Problem sind nicht nur die anderen.
Deine kleinen Seitenhiebe, deine Witze, deine angeblich lustigen Sprüche, können Auslöser von Schmerz sein, Traumata wieder hochkommen lassen, und schränken damit die Freiheit anderer Menschen ein, sich frei zu entfalten. Die Freiheit, für die du doch kämpfst – hast du das schon wieder vergessen? Dann sagst du: „Aber ich behandle doch alle Menschen gleich – ich frage jeden danach, wo er herkommt, auch weiße Menschen.“
Du sagst, du würdest das Ideal einer gleichberechtigten Gesellschaft doch längst leben und Taten seien sowieso wichtiger als Worte. Das ist ein verletzender Satz für Menschen, die seit vielen Jahren dafür kämpfen, gehört zu werden, denen immer wieder der Mund verboten wurde und die weder die Freiheit zu sprechen, noch die Freiheit zu handeln hatten. Ihre Seite der Geschichte wurde nie gehört.

Privilegien, die du nicht siehst

In Wahrheit steckt hinter dieser scheinbar harmlosen Aussage eine Anschuldigung: Die Anschuldigung, dass diese Probleme nicht existieren würden, dass wir sie heraufbeschwören würden durch unsere Worte. Damit verschließt du aber die Augen vor der gesellschaftlichen Realität, vor der Welt, in der wir leben. Denn, Fakt ist – wir sind weit entfernt von einer Welt, in der alle Menschen gleichberechtigt leben und gleich behandelt werden. Auch wenn sich das für dich in deiner Filterblase anders anfühlen mag – es findet massive Diskriminierung von Minderheiten statt, und zwar nicht nur auf der anderen Seite der Welt, sondern auch hier, direkt vor unserer Haustür und sogar in unseren Häusern. Die Tatsache, dass du diese Problematik nicht wahrnimmst, dass du die Augen davor verschließen kannst – sie hat einen Namen: Sie nennt sich Privileg. Du weißt nichts über Rassismus, Sexismus oder Homophobie, weil du nicht betroffen bist, weil du es noch nie erfahren musstest.

Gesellschaftliche Veränderung muss den Privilegierten wehtun.

Nun fühlst du dich ertappt; und du weißt es nicht anders zu äußern als in Form von Wut. In der Wut, in der du mir jetzt vorwirfst, ich würde deinen Standpunkt kleinreden. Du fühlst dich gedemütigt. Die Diskussion wird persönlich, so wie es diese Diskussionen immer werden, meine Worte treffen unter die Gürtellinie, sie legen den Finger in offene Wunden. Aber gesellschaftliche Veränderung muss den Privilegierten wehtun. Du musst Raum abgeben, um Platz zu schaffen für Menschen, denen seit Jahrtausenden die Daseinsberechtigung abgesprochen wurde von Menschen wie dir. Und ja, dafür trägst du Verantwortung, so gerne du sie auch von dir weisen möchtest.

Alte, weiße, heterosexuelle Männer wie du reagieren besonders allergisch auf derartige Kritik und ihr hasst es, auf dieses „oberflächliche Label“ reduziert zu werden. Doch es sind genau Labels wie eben dieses, die Menschen wie du seit Jahrtausenden anderen Menschen aufzwängen. So erschafft ihr euch eure eigene Welt, hand-gelabelt, alles ist auf euch zugeschnitten. Ihr macht die Regeln, ihr entscheidet über Richtig und Falsch, über die Moral in unserer Gesellschaft, darüber, was relevant ist und was nicht, sei es im Richterstuhl, im Bundestag oder am Küchentisch. Ihr habt es euch auf diesen Stühlen so bequem gemacht, dass es sich für euch anfühlen muss, als würdet ihr vom Thron gestoßen, wenn andere Menschen nun euer Handeln bewerten, wenn ihr Verhalten plötzlich analysiert und hinterfragt wird – so wie ihr es jahrhundertelang bei allen getan haben, die in irgendeiner Weise „anders“ waren.

White fragility

Du hast Angst, anzuerkennen, dass du Teil eines unterdrückenden Systems bist, selbst, wenn du es nicht beabsichtigst und, vor allem: dass du weit davon entfernt bist, die von dir angestrebten Prinzipien, das Ideal einer gleichberechtigten Gesellschaft, in die Tat umzusetzen. Auch wenn du dich so sehr an dein sorgfältig aufgebautes Selbstbild klammerst und so sehr du auch glauben magst, dass du die Welt mit deinem Handeln zu einem besseren Ort machst: Die Realität ist, dass du mit deinen Worten Diskriminierung leugnest und dabei hilfst, bestehende Strukturen aufrechtzuerhalten, dass du dich dem Fortschritt in den Weg stellst. Deine eigene Selbstgefälligkeit wird dir schmerzhaft vorgeführt, bis du dich in der Diskussion zur Karikatur deiner selbst entwickelst.

Auch dafür gibt es einen Namen, für die Unfähigkeit zur Selbstreflektion aus Angst vor der Zerstörung deines Selbstbildes: White Fragility. Und diese Zerbrechlichkeit muss man sich leisten können. Du kannst dir all das leisten, du konntest es dir schon immer leisten, die Zerbrechlichkeit genauso wie die Wut und den Rassismus, und du musst dich nicht einmal dafür rechtfertigen.

Ich weiß, dass du es nicht magst, wenn ich Sätze mit „du musst“ formuliere. Aber, das ist wichtig, hör mir zu, du musst deinen Stolz herunterschlucken. Du musst lernen, anzuerkennen, dass es Probleme auf dieser Welt gibt, die du nicht kennst. Du musst aufhören, dich in Bus und Bahn auszubreiten und damit anderen Menschen sowohl im physischen als auch im übertragenen Sinn Platz abzusprechen. Statt herablassend von oben auf „die Armen“ herabzublicken und monatlich ein paar Euro an eine Hilfsorganisation zu spenden, um dein Gewissen reinzuwaschen, ganz geradeheraus zu sagen: Diese Menschen erleben fast täglich Diskriminierung. Das ist ein großes Problem in unserer Gesellschaft, von dem auch ich Teil bin. Ich muss mein eigenes Verhalten und meine Denkmuster hinterfragen.

Es geht um Empathie!

Im Endeffekt geht es in der ganzen „Political-Correctness-Debatte“ nämlich um Empathie. Vielleicht wirst du es nie nachfühlen können, weil du es nie erlebt hast in deiner weißen, männlichen, heterosexuellen Welt, doch ich werde nicht aufhöre, es zu betonen: Die Diskriminierung findet statt.
Wenn du also weiterhin Menschen nach ihrer Herkunft fragen oder Witze über die Möglichkeit, ein drittes Geschlecht auf Formularen anzukreuzen,  machen willst – tu es eben. Aber: Verbiete mir nicht den Mund, wenn ich dir sage, dass du ein unempathischer Idiot bist. Denk an die von dir so hochgeschätzte Meinungsfreiheit und hör zu. Denn, so sehr du auch glauben magst, dass du alle Menschen gleich behandelst – um wirkliche Gleichheit und Freiheit für alle zu erreichen, müssen wir uns ändern. Auch du und auch ich.

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Gastgedanken anonym eingereicht.
Collagen von Imina.

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