Auf YouTube wimmelt es von „Journal Setups“ und „Productive Morning Routines“, auf Pinterest findet man tausende Wochen- oder Essensplaner, die bis zum Minutentakt gefüllt werden können, auf Spotify gibt es Konzentrations- und Produktivitätsplaylists mit Walgeräuschen oder Jazz-Hop. „Work, work, work“ ist das Motto unserer Generation – Wir lieben die Arbeit und den Stress – aber vor allem das Gefühl, das Produktivität in uns auslöst. Was macht das mit uns? Eine kleine Hinterfragung am Beispiel von mir selbst.
Die Hustle-Culture ist tief in uns verankert
Wir lieben gestresst sein. Wir lieben es, uns nach zehn Stunden Arbeit völlig erschöpft auf die Couch zu hauen, nur um stolz darauf sein zu können, was wir alles geschafft haben. Wir fühlen Bestätigung, wenn wir auf Instagram teilen können, dass wir schon wieder seit fünf Stunden ohne Pause an unserer Hausarbeit gearbeitet haben und sämtliche Leute mit dem 100-Emoji auf die Story reagieren. Wir lieben Produktivität. Wir perfektionieren unsere LinkedIn-Profile und Portfolios und sind gleichzeitig immer auf der Suche nach neuen Projekten, um den Lebenslauf noch besser aussehen zu lassen. Wir tun Dinge, die uns nichts bedeuten, nur, damit sie auf einem Blatt Papier gut aussehen. Und das alles, weil uns schon immer eingetrichtert worden ist, dass wir nur wertvoll und stolz auf uns sein können, wenn wir gute Noten haben, viel schaffen, nebenbei Projekte machen, ehrenamtlich tätig sind und am besten in allem, was wir anfangen, die Besten sind.
Produktivität als (oder statt) Hobby
Wir wollen die Produktivität aber auch bei anderen sehen. Wir alle zeigen auf Instagram nur, wie produktiv, fit und gesund wir sind – nicht, wie viel Ben&Jerry’s wir gestern Abend gegessen haben, während wir eine Staffel der neuen Netflix-Serie durchgesuchtet haben. Seit März verbringen wir den Großteil unserer Zeit (wenn möglich) zuhause. Aber auch hier wird nicht entschleunigt, ganz im Gegenteil: Wir lernen Stricken, Nähen, das perfekte Sauerteigbrot backen, am besten noch eine neue Sprache, wenn wir ja sowieso so viel Zeit haben. Nebenbei bestreiten wir unseren bisherigen Alltag auch noch online über unsere Laptops nebenbei.
Selbstdefinition durch Produktivität als Phänomen unserer Generation
Meine Produktivität hat in den letzten Wochen (eigentlich schon Monaten) nachgelassen. Ich habe nicht mehr so viel geschafft, wie es sonst der Fall war oder so viel, wie mir auf Instagram vermittelt wird, dass ich schaffen sollte. Erst daran habe ich gemerkt, wie sehr ich mich eigentlich durch meine Produktivität definiere. Wie sehr mein Selbstwertgefühl davon abhängt, mit wieviel Stress ich umgehen und wieviele Aufgaben ich auf einmal erfüllen kann. Ein Tag, an dem ich nicht gearbeitet, etwas Kreatives geschaffen, Zeug für die Uni und andere Projekte erledigt und Sport gemacht habe, war für mich ein verlorener Tag. Wenn ich mich in einer Situation befand, in der ich einfach nicht produktiv sein konnte, zum Beispiel auf dem Weg zur Arbeit oder beim Putzen, suchte ich dann auf Spotify nach den Podcasts, die mir am meisten bringen könnten und zog sie mir nebenbei noch rein. Ich habe nie Ruhe. Ich wollte jeden Tag zurückblicken und etwas geschafft oder gelernt haben.
Ich kann an nichts festmachen, woran es liegt, dass ich weniger schaffe. Aber ich weiß, dass es etwas ist, was ich mir schwer verzeihe. Dabei sollte ich aufhören, meine eigenen Produktivitätsstandards mit anderen zu vergleichen. Denn was wir uns immer vor Augen halten müssen: Ein 12-minütiges Video von einem „Productive day in my life“ ist auch nur ein 12-minütiger Zusammenschnitt eines 24-Stunden-Tages. Und: Immer beschäftigt zu sein (oder sich zu beschäftigen) heißt nicht gleich, immer produktiv zu sein. Das geht gar nicht, denn Produktivität braucht auch manchmal einfach Zeit: Wenn ich beispielsweise an einem Plakat arbeite, sind davon bestimmt 70% Beschäftigung mit den Programmen oder Ausprobieren und bei den restlichen 30% kommt dann wirklich produktiv das Plakat zusammen.
Es mag überall so aussehen, als würden alle immer und unglaublich gern arbeiten. Doch wir alle gehen unterschiedlich gut mit unterschiedlichen Mengen Stress um. Manche haben sich ein perfektes Konstrukt aus Arbeit, Sport, gesunder Ernährung und gut angezogen sein aufgebaut – andere sind völlig erledigt nach einem langen Uni-Tag und gönnen sich danach erst mal einen Mittagsschlaf – beides ist völlig in Ordnung.
Stolz auf uns sein, unabhängig davon, wie viel wir geschafft haben
Manchmal ist es tatsächlich am produktivsten, einfach mal einen Tag im Bett zu verbringen und dann wieder neu anzusetzen. Uns vor Augen zu halten, wie viel wir bis hierhin gewachsen sind und gelernt haben (wir selbst – nicht die Menschen um uns herum und vor allem nicht die Leute im Internet), anstatt im Kopf immer schon zehn Schritte voraus zu sein. Wir müssen die Maßstäbe, die wir an uns selbst setzen, überdenken und neu setzen. Wir brauchen auch Ruhe – und die verdienen wir, unabhängig davon, wie viel wir geschafft haben.
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Text und Collage von Imina.