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Über Verschwörungsphantasien

In diesem Beitrag geht es um die Erfahrungen, die Marlon während seiner Recherche zu seiner künstlerischen Arbeit zum Thema Verschwörungsphantasien rund um Corona gemacht hat. Dieser Artikel und auch Marlons visuelle Aufarbeitung haben keinen wissenschaftlichen Anspruch. Die aufgeführten Inhalte dienen der Aufklärung. Die Eindrücke zu den Anti-Corona-Demonstrationen basieren ausschließlich auf den Erfahrungen, die Marlon vor Ort gemacht hat. Uns ist bewusst, dass diese Demonstrationen eine reale Bedrohung für Schwarze und People of Color darstellen. Wir möchten diese Bedrohung in diesem Artikel auf keinen Fall verharmlosen.

Vor ein paar Tagen habe ich mich mit Marlon, einem guten Freund von mir, über Corona und all die Verschwörungstheorien, die es rund um das Virus gibt, unterhalten. Oder auch Verschwörungsphantasien, so wie er sie nennt. Verschwörungstheorien sind nämlich gar keine wissenschaftlichen Theorien, sondern viel mehr irgendwelche Hirngespinste, die nicht wirklich existieren.

Uns alle haben sicher in den letzen Wochen Videos und Artikel erreicht, die die ganze Existenz des COVID-19 Virus anzweifeln. Wilde Theorien, wer angeblich wirklich dahinter stecken könnte oder was es damit auf sich haben könnte.

Verschwörungsphantasien gibt es leider schon lange, keine Frage. Jede*r von uns hat sich sicherlich auch schon durch irgendwelche YouTube-Dokus diese Hirngespinste in den Kopf setzen lassen, weil er oder sie nachts mal wieder nicht schlafen kann. Immer, wenn Chaos in der Welt herrscht, entstehen plötzlich Phantasien und Vermutungen darüber, was es wirklich damit auf sich haben könnte. Irgendwie ist es ja auch spannend. Jetzt, seit Corona, rücken diese Verschwörungsphantasien stärker in das nähere Umfeld, weil die Krise so nah und groß erscheint. Es gibt unzählige Quellen, die über die Pandemie berichten und damit einen großen Raum für Verschwörungsphantasien bieten.

Marlon hat sich deshalb im Rahmen eines Uniprojekts näher mit der ganzen Sache beschäftigt. Zu Beginn war es gar nicht so einfach für ihn, sich in die Thematik hineinzuarbeiten. Wenn man anfängt zu googeln, findet man zunächst nur Artikel von der Tagesschau oder auch der Zeit, was alles eine Verschwörungsphantasie sein könnte. Ist ja auch irgendwie klar, aber die richtigen Theorien findet man nur schwer, weil sich Verschwörungserzähler*innen vermutlich nur ungern als solche outen.

Also geht seine Suche weiter, zunächst über Wikipedia, Zeitungsartikel, und dann endlich: Ein Bekannter schickt ihm zufälligerweise ein Video, in dem ein junger Reporter, noch ganz zu Beginn des Lockdowns, zu Notaufnahmen einiger Krankenhäuser in Berlin fährt und feststellt, dass es dort menschenleer ist. Ein ganz anderes Bild, als das, was von den Medien vermittelt wird. Komisch. Aber auch ein komisches Video. Wer ist dieser Reporter? Wie sehr kann man diesem Video trauen? Wie inszeniert ist die Situation?

Für ihn war dieses Video jedoch genau das, wonach er gesucht hat. Auf einmal kamen immer mehr Vorschläge über Videos von fremden Personen mit wilden Phantasien. Der Algorithmus zieht ihn in seinen Bann.

Diese ganzen Videos und Artikel reichen ihm aber nicht. In ganz Deutschland werden plötzlich Demonstrationen organisiert – Hygiene-Demos als Corona-Protest. Mit zwei befreundeten Fotografinnen beginnt er auch zu diesen Demos zu gehen, um mit Menschen zu sprechen und um mehr zu erfahren. Er trifft auf Impfgegner*innen in Haremshosen und Menschen, die schon zur 68-Bewegung auf die Straße gegangen sind. Clubbesitzer*innen, die stark eingeschränkt sind und keine finanziellen Rücklagen haben. Menschen, die ihren Job verlieren werden und sich hoch verschulden müssen. Menschen, die frustriert sind. Menschen, die dafür kämpfen, dass die Regierung für sie da ist. Und daneben immer wieder Menschen, die mit einer Reichsflagge durch die Reihen laufen.

Auf den Demos versucht er zunächst, nach Flyern oder anderem Informationsmaterial zu fragen. Was sind das für Gruppen, die sich dort versammeln? Er geht auf die Menschen zu, ist wissbegierig und verurteilt nicht. Er bedankt sich nach jedem Gespräch. Trotzdem ist es oft schwierig, auch nur irgendwas über die Verschwörungsphantasien herauszufinden. Die Menschen blocken ab oder verwenden eine Code-Sprache und verstehen schnell, dass er nicht so ganz dazugehört.

Er erinnert sich an eine Frau, die eigentlich sehr unauffällig gekleidet ist. The North Face Jacke und sportliche Sneaker. Sie läuft schnell durch die Menschenmassen und verteilt hastig ihre Flyer. „Der dritte Weg“, steht da in großen, roten Buchstaben. Er googelt. Die ganze Aufmachung, der Flyer, die Website, alles scheint sehr elitär und professionell. Ihn überkommt ein ungutes Gefühl. Viel zu stark erinnert ihn die Aufschrift an das sogenannte „Dritte Reich“.

Jetzt steht er also da, auf dieser Demonstration, neben Menschen, die rechtes Gedankengut verteilen und die Reichsflagge schwenken. Und daneben Impfgegner*innen, frustrierte Arbeiter*innen und vielleicht auch noch andere Menschen, die sich einfach nur für das interessieren, was gerade so in der Welt passiert. Menschen, die eigentlich für etwas anderes oder gegen etwas anderes protestieren wollten. Das Problem ist, dass jede*r, wenn auch nur unterbewusst, beeinflusst wird. Je öfter wir die Reichsflagge zu Gesicht bekommen, desto ungefährlicher wird sie. Menschen, die eigentlich gar nicht rechts sind oder rechts sein wollen, gehen plötzlich auf eine Demo und sehen die Reichsflagge als ein Symbol, welches sie einfach so hinnehmen und in das Geschehen integrieren. Und die Reichsflagge ist eigentlich nichts anderes als eine Hakenkreuzflagge, für Menschen, die sich nicht trauen, mit dem Hakenkreuz zu wedeln.

Wenn man eine freie, offene, tolerante Gesellschaft anstrebt, so der Philosoph Karl Popper, muss man zwingend die Intoleranz ausgrenzen. Ansonsten wird die Demokratie einfach so unter gehen.

Es ist also unfassbar gefährlich, ganz entspannt neben der Reichsflagge zu spazieren, wenn man nicht anfängt, sich abzugrenzen. Wir sollten niemals gemeinsame Sache mit Rechtsextremisten machen. Niemals. Denn so wird die Akzeptanz für Rechts von Tag zu Tag größer. Rechtes Gedankengut wird plötzlich normal und ehe wir uns versehen, laufen wir auch auf einer Demonstration neben einer Reichsflagge, schauen zu, wie einige wenige Rechtsextreme auf den Bundestag zu rennen und planen, diesen stürmen zu wollen. Rechte Leute laufen mit, auf diesen Demo’s, und holen die unzufriedene und zweifelnde Gesellschaft an ihrem Schwachpunkt ab.

Die Anti-Corona-Demos werden vor allem über Twitter und Telegramgruppen organisiert. Auch Attila Hildmann und Xavier Naidoo haben eigene Gruppen, in denen sie regelmäßig Interviews, Videos oder über ihre Vorhaben auf der nächsten Demonstration posten. Marlon konfrontiert sich mit all dem, liest mit, findet heraus. Es erschließen sich immer mehr Querverbindungen. Jeden Tag kommen neue Informationen. Seine Liste wird länger und länger.

Auch für ihn gibt es Momente, in denen er wackelt und zweifelt. Marlon, der doch eigentlich eine klare politische Position hat, sieht ein Interview, in dem eine neue Verschwörungsphantasie um den angeblichen Corona-Impfstoff erklärt wird. Es fallen Begriffe wie „Bill Gates“ und „Frauen und Kinder in Afrika“. Die inszenierte Erzählstrategie und die wirklich charismatischen Persönlichkeiten des Interviews beeinflussen ihn. Das ganze Set-Up wirkt professionell und seriös. Das Interview ist sehr emotional und zielt genau auf die Gefühle des Betrachters ab. Natürlich sind es Frauen und Kinder, die leiden müssen. Oft geht es um die Schwächsten, erzählt er, oft heißt es: „Denkt an eure Kinder!“. Und natürlich möchte Marlon nicht, dass Kinder in Afrika leiden müssen. Das Gefühl der Ohnmacht überkommt ihn. Die Dinge, die in dem Interview besprochen werden, können nicht wirklich überprüft werden. Anscheinend hat Bill Gates dieses und jenes gesagt. Etwas Schlimmes würde passieren, etwas sehr schlimmes, wenn wir nicht aufwachen werden. Die Dinge ergeben ja auch irgendwie Sinn. Die Verschwörungsphantasie wird in dem Video sogar einmal kritisch hinterfragt, es wird mit Fremdwörtern um sich geschmissen. Unverständnis. Aber Sinn ergibt es trotzdem, irgendwie. Dass das alles völlig aus dem Kontext gerissen sein könnte, ist erst einmal egal.

Was aber nicht egal ist, ist dass Verschwörungsphantasien oft antisemitisch und rechts sind. Und genau das ist vielen überhaupt nicht bewusst. Immer wieder geht es um die Findung eines Sündenbocks und um „die Elite, die Großen, die etwas planen“. Das genau diese Aussagen auf die jüdische Weltverschwörung zurückzuführen und damit höchst antisemitisch sind, war auch mir bis vor kurzem nicht klar. Schon im Mittelalter wurden Juden aus ihren Jobs gerissen, ins Bankwesen verdrängt und haben Geldwirtschaft betrieben. Darauf basierend wurde Anfang des 20. Jahrhunderts ein systematischer Antisemitismus entwickeln und die ersten Verschwörungsphantasien kamen auf. Eine wichtige Schrift ist zum Beispiel die „Protokolle der Weisen von Zion“, ein auf Fälschungen beruhendes antisemitisches Pamphlet. Die Protokolle geben vor, geheime Dokumente eines angeblichen Treffens von jüdischen Weltverschwörern zu sein. Vielen ist nicht klar, dass die Mehrzahl dieser Verschwörungsphantasien auf angeblich jüdische Machtverhältnisse und auf eine sogenannte Weltfinanz hinweisen, was eine klare antisemitische, diskriminierende Nazi-Terminologie ist.

Irgendwann wird es ihm alles viel zu viel. Immer mehr Information, immer mehr Querverbindungen. Das sogenannte Rabit Hole, eine algorithmischen Blase, die dafür sorgt, dass die ganze Timeline immerzu voll ist mit neuen Beiträgen ist, ist eine große Gefahr. Auch schon aus Spaß nur mal ein wenig zu recherchieren, kann gefährlich sein. Aber wir sollten uns auch nicht nicht informieren! Aber aufpassen. Dem ersten Bauchgefühl können wir bei diesem Thema leider nicht wirklich trauen. Die ganze Zeit über hält er mit Leuten Rücksprache und vergewissert sich lieber einmal zu viel, ob diese oder jene Sicht auf die Dinge nicht in gewisser Weise fragwürdig sein können.

Marlon hat das Glück, sehr schnell bei den Extremen gelandet zu sein. Aber das kann auch anders sein. Was ist, wenn der Prozess schleichend verläuft? Wenn wir zunächst gar nicht bemerken, dass es sich um unfassbar rechtes Gedankengut handelt? Wenn wir keine Person haben, mit der wir Rücksprache halten können? Was ist, wenn die eigene Akzeptanz immer größer wird und wir uns immer weiter anpassen?

Für die Gestaltung dieses Beitrags hat er eine abstrakte Form mit einigen Kreisen gewählt. Der Kreis steht für etwas, was Sinn macht, etwas Ganzes. Ein Kreislauf, der sich schließt. In Verschwörungsphantasien wird oft ein Gesamtbild erschaffen, eine Einheit, so wie diese Form. Auf der zweiten Abbildung sehen wir die abstrakte Form mit den Kreisen von der anderen Seite. Die Perspektive hat sich gewechselt. Wir sehen, dass die ganze Form keinen Sinn mehr ergibt. Es ist bloß der Kontext, der dem Ganzen seinen Sinn gibt.

Die eigene Perspektive immer mal wieder zu wechseln, ist wichtig, vor allem jetzt. Eigentlich können wir uns fast nie einer Meinung anschließen und uns dann auch sicher sein, dass diese Meinung stimmen mag.

Correctiv ist eine unabhängige und gemeinnütze Website, auf der ihr Fakten checken und angebliche Verschwörungsphantasien überprüfen könnt.

Marlon ist 22 Jahre jung und studiert Visuelle Kommunikation in Berlin. Hier findet ihr das Plakat, die visuelle Aufarbeitung seiner Recherche, welches ihr auf Spendenbasis bei ihm erwerben könnt. Auch die Gestaltung dieses Beitrags hat Marlon übernommen.

Der Text ist von Luka.

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