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Das Leben in vollen Zügen. Über den Schmerz.

Ich bin auf dem Weg zum Bahnhof. Der Himmel ist bedeckt und ich fröstle, gerade hatte ich Sportunterricht, zwei Stunden Volleyball. Dritte Runde. Wir brauchen schließlich einen Gewinner. „Mädels, ihr spielt gegeneinander, nicht miteinander! Zielt in die Lücken und strengt euch ein bisschen an, oder wollt ihr verlieren?“ Nein.

Straßenbahn. Leere Augen schauen an mir vorbei in Smartphones, Rücken werden sich zugekehrt und zwischen allen Fahrgästen befinden sich mindestens drei Sitzplätze Abstand. Auch ich brauche Abstand, will endlich nach Hause. 

Im Bahnhof angekommen lacht mich mit gebleichten Zähnen aus den Gesichtern glücklicher Familien – Vater, Mutter, Kind und Hund – der rohe Kapitalismus aus. Bunt, glänzend und schreiend grell, aber vor allem gierig, sehr gierig. Mir wird ein bisschen schlecht.

Als ich durch die kalte Unterführung an der Nische der Arbeits-, Obdach-, Perspektiv- und Wertlosen vorbei mit schnellem, aber unhörbarem Schritt und einem Drücken in der Brust hoch zum Gleis steige, ist der Zug schon da.

Er ist alt, ein bisschen schäbig und schon sehr voll. Ich setze mich gleich in den ersten Wagon, gegenüber von einer Mutter mit zwei kleinen Söhnen, vielleicht sechs und vier Jahre alt. Die Frau trägt ein Kopftuch. Hat dunklere Haut und dunklere Haare als ich. Mein Gehirn, vollgestopft von Kategorien und Vorurteilen macht aus den dreien sofort Migranten. Oder Ausländer. Vielleicht Flüchtlinge.

Erst jetzt fällt mir auf, dass über den beiden lachenden Kindern an der Zuginnenwand, dort wo normalerweise Bahnzeitschriften in Halterungen (meist vergeblich) auf Leser warten, zwei bunte Plastikpistolen prangen. 

Spielpistolen. Pistolen. Maschinen, die gebaut werden, um Menschen zu töten. Vor meinen Augen verwandeln sich die Plastikspielzeuge in Metall, werden bedrohlich und echt. Ich sehe Kinder vor mir, Kinder wie die zwei Brüder, die ihre Familie und ihr Zuhause an Macht und Metall verlieren, in anderen Ländern, aber nicht zu anderen Zeiten.

Oder ihre Seele, wenn sie dazu gezwungen werden, selbst die Waffen zu tragen. So ist das als Soldat. Zielen und Abdrücken. Und ich mittendrin. 

Mir kommen Tränen, das Bild verschwimmt. Dann schaue ich weg. Kann den Anblick nicht ertragen. Die glitzernden Augen des Jungen, als ihm seine Mutter das Spielzeug reicht.

An manchen Tagen ist das Leben radikal ehrlich. Ehrlicher als sonst. Vielleicht zu ehrlich. 

Da wird mir die Diskrepanz zwischen meinem Inneren, meinem kindlichen Idealismus und der Welt, wie sie draußen ist, von Neuem schmerzlich bewusst. Wie eine Wunde, die immer wieder aufreißt, aber nie heilt.

Heute im Zug hat sich mir die Ungerechtigkeit, Unmenschlichkeit und gnadenlose Absurdität des Lebens in unserer Welt tief in meine Wunde gebohrt, bis mich der Schmerz voll eingenommen hat.

Auf dem restlichen Fußweg nach Hause höre ich keine Musik, es tut nur weh.

Emilia ist 18 Jahre alt, kommt aus dem Süden Deutschlands und macht gerade ihr Abitur. Sie liebt Literatur, Musik, Kunst, gutes Essen, Frankreich und tiefgründige, manchmal auch politische Diskussionen am Küchentisch.

Die Illustrationen sind von Luise. Sie ist eine junge Gestalterin und Künstlerin, sie lebt in Berlin und studiert dort an der Universität der Künste. Sowohl in der Kunst, als auch im echten Leben liebt sie die Spannungen zwischen dem Komischen und Sensiblen, dem Ehrlichen und Emotionalen, der Freiheit und dem in Gedankenversinken.

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