Während wir in Deutschland nun seit über einem Monat in unseren WG-Zimmern festsitzen, in unseren Kinderzimmern auf schlecht programmierten Online-Schooling-Plattformen rumhängen oder in unserer eh viel zu großen eigenen Wohnung bleiben müssen, nur um auf Instagram ausgiebig unser Frühstück und unsere neue Yoga-Routine zu inszenieren, sitzen seit Wochen mehr als 20.000 Menschen in Moria, dem Flüchtlingscamp auf der griechischen Insel Lesbos, fest. 20.000 Menschen in einem Lager, welches eigentlich nur für 3.000 ausgelegt ist. 20.000 Menschen für die regelmäßiges Händewaschen, Abstandhalten und social distancing schlichtweg unmöglich ist.
Und wir? Wir bestärken uns währenddessen gegenseitig auf Social Media darin, dass es „voll in Ordnung“ ist, jetzt einfach mal nichts zu machen und sich dem Selbstoptimierungs- und Zeitnutzungswahn, der sich auf Instagram schlimmer denn je breit macht, zu entziehen.
Und ja, es ist völlig okay, dass du im vergangenen Monat keine neue Fremdsprache gelernt hast, dass dein Kleiderschrank immer noch nicht aussortiert ist und dass du dir an manchen Tagen noch nicht mal deinen Schlafanzug ausgezogen hast. Aber es ist nicht okay, dass du dich mit der Corona-Quarantäne entschuldigst und dich in deinem Zimmer zurückziehst und die Augen vor dem verschließt, was seit Jahren an den europäischen Außengrenzen passiert und sich durch die Corona-Krise nur noch weiter zuspitzt.
Jeden Tag werden an den Grenzen der EU europäische Standards missachtet und Menschenrechte mit Füßen getreten. Schutzlose Menschen werden beschossen und das Asylrecht wurde von Griechenland und der EU in den letzten Wochen faktisch ausgesetzt. Jeden Tag sind die Schutzsuchenden auf den griechischen Inseln systematischer Gewalt und Willkür ausgesetzt und werden weiterhin in menschenunwürdigsten Bedingungen festgehalten. Von ihrem Abschreckungskurs auf dem Weg zur totalen Abschottung weicht die EU unter keinen Umständen ab.
Und nur zur Erinnerung – erst 2012 hat die Europäische Union den Friedensnobelpreis bekommen – für ihren Einsatz für Menschenrechte. Auch wenn das angesichts der grausamen Bilder von überfüllten Lagern auf Lesbos, die mit etwas Glück neben all den Corona-Newstickern doch mal zu uns durchsickern, klingt wie ein zynischer Scherz. Auch Deutschland gibt uns genügend Anlass zum Zynismus. Zum Beispiel: Als das mit Corona alles in Deutschland angefangen hat, brauchte es auf einmal nur wenige Wochen, um über 200.000 Deutsche aus dem Urlaub nach Deutschland zurückzufliegen und aus Angst um die Spargelernte, werden nun doch mehr als 80. 000 Erntehelfer aus Osteuropa nach Deutschland geflogen. Aber in dieser ganzen Zeit schaffte man es nicht, dafür zu sorgen, dass gerade einmal 1.500 Flüchtlingskinder in Sicherheit gebracht werden.
Wie wir trotz Ausgangsperren und dabei verantwortungsvoll gegenüber unseren Mitmenschen gegen das europäische Vergessen an den Grenzen und die Passivität der deutschen Regierung demonstrieren können, zeigte im vergangenen Monat eindrucksvoll die Kampagne #leavenoonebehind. Die Kampagne, die von Seebrücke lanciert wurde, wendet sich an die Bundesregierung und fordert eine sofortige Evakuierung aller Menschen aus den Lagern an den EU-Außengrenzen und eine Unterbringung in Kommunen und Ländern, wo auch eine medizinische Versorgung geleistet werden kann. Außerdem fordern die Unterstützer*innen die Wahrung von Menschenrechten und ein Ende staatlicher Grenzgewalt.
Die verschiedenen Aktionsformen müssen nicht auf dieses Thema beschränkt bleiben und vielleicht ist es für den einen oder die andere hilfreich zu sehen, welche Aktionsformate Corona-konform funktionieren können, um sie zu nutzen, um sich für andere Themen stark zu machen.
Von zu Hause aus
Weil das Demonstrieren in Menschenmassen gerade weder möglich noch solidarisch ist, hat sich der „peopleless protest“ etabliert, also eine Protestform ohne Menschen, direkt aus der eigenen Wohnung. Aktuell zeigt sich das in vielen Städten an großen Transpis, Fahnen oder Demoplakaten, die aus den Fenstern an Hausfassaden hängen. Auf ihnen Parolen, die Solidarität mit Geflüchteten fordern oder das Sterbenlassen der EU verurteilen. Eine weitere Form des Wohnzimmerprotestes ist es, Straßen mit Liedern und Redebeiträgen zum Thema zu beschallen.
Wie du bemerkt hast, hat sich noch sehr viel mehr unseres sozialen Lebens als zuvor, in soziale Medien verschoben und genau dies wird sich jetzt zunutze gemacht. Offene Briefe und Petitionen kannst du schließlich genauso gut online unterschreiben und dann über Social Media teilen. Über Hashtags kannst du Selfies mit Plakaten deiner Forderungen oder kurze Videos verbreiten. Die gemeinsamen Hashtags #LeaveNoOneBehind und #europamustact werden auf Twitter neben Informationszwecken auch dafür genutzt, gezielt Politiker*innen zuzuspamen. Die Kampagne #LeaveNoOneBehind konnte außerdem auf die Unterstützung vieler Künstler*innen zählen, die in Online-Konzerten auf das Thema hinwiesen. Außerdem gibt es die Möglichkeit über unterschiedliche Streaming-Plattform-Anbieter Online-Vorträge von zuhause aus zu organisieren.
Die Menschen von Seebrücke haben außerdem Anruf-, Brief- und Mailaktionen ins Leben gerufen, mit denen sie sich direkt an die Abgeordneten des Bundestages und der EU wenden. Dafür haben Sie vorgeschriebene Texte, die du verwenden oder dich zumindest daran orientieren kannst, ins Netz gestellt. Außerdem findest du hier auch alle Mailadressen der Regierungsverantwortlichen aufgelistet, sodass du deine Forderungen direkt an die Politiker*innen adressieren kannst.
Aus dem Wohnzimmer heraus spendet es sich außerdem leicht und hunderprozentig virenfrei. Das Geld, das du normalerweise in Kinos, Cafés oder Kneipen gelassen hättest, können die wenigen verbliebenen Initiativen auf Lesbos wie z.B. Lesvos Solidarity Network und Legal Centre Lesbos oder die zivile Seenotrettung gerade besonders gut gebrauchen.
In öffentlichen Räumen
Aktuell haben wir noch kein komplettes Ausgangsverbot, in öffentlichen Räumen kannst du dich also noch bewegen und ebenso auf dein Demonstrationsrecht, allerdings nicht auf das Versammlungsrecht, zurückgreifen. Die Kampagne #LeaveNoOneBehind hat beispielsweise zentrale Gebäude oder Plätze und die CDU-Parteizentralen „eingezäumt“. Die Bilder der Aktion wurden danach auf ihren Kanälen verbreitet, sodass nicht nur die Spaziergänger*innen die Aktionen sehen konnten. Auch das Plakatieren im öffentlichen Raum bleibt weiterhin möglich und ist ebenso eine gute Aktion um Aufmerksamkeit zu generieren.
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Beitragsbild von Irma
Lisa ist 21 Jahre alt, Studentin und findet ganz unbedingt, dass wir nicht immer gehorchen sollten. Für die Zukunft wünscht sie sich weniger Wegschauen, dafür mehr Selbst-in-die-Hand-nehmen und träumt von einer solidarischen Gesellschaft.
Auf TIERINDIR schreibt sie alle zwei Monate die Kolumne „Alltagsaktivismus“, in der sie auf verschiedene gesellschaftliche und politische Bewegungen aufmerksam macht und dabei Anregungen für eigenes politisches Engagement geben möchte.
Irma studiert in Berlin „etwas mit Kommunikation“ und setzt sich für Klimagerechtigkeit ein. Sie liebt es auf Demos zu fotografieren, sich in Büchern zu verlieren und im Sommer durch die Stadt zu tanzen. Ihr findet sie auch auf Instagram.