Hier & Jetzt
Kommentare 1

Das Home-Bootcamp

6 Uhr am Dienstagmorgen, der Wecker klingelt. Eigentlich habe ich keine Termine, muss nirgendwo sein, theoretisch könnte ich ausschlafen. Wir befinden uns in einer globalen Pandemie und ich hab seit vier Wochen außer zum Einkaufen und Spazierengehen meine Wohnung nicht verlassen.

Trotzdem steht heute viel auf meiner To-Do-Liste, also als erstes Handy an und gucken, was ich über Nacht verpasst habe: Mein Instagram Feed ist voll von Workouts, perfekten Kaffees in perfekt eingerichteten Homeoffices und immer und immer wieder: „Nutz die Quarantäne, um all die Dinge zu tun, für die du sonst keine Zeit hast.“ Ausmisten, endlich den Roman schreiben, oder Mandarin lernen.

Ich bin ein Opfer der Hustle Culture: Den Großteil des Tages verbringe ich damit, zu arbeiten. Der Rest der Zeit wird um die Arbeit herumstrukturiert und möglichst produktiv genutzt. Aber ich bin nicht die einzige: Hustle und Grind sind zu Mantren für eine ganze Generation geworden. The grind never stops. Das „millionaire-mindset“ wird mit Stolz getragen: Push dich über deine Grenzen hinaus und du kannst alles sein, was du willst. Immer mehr, immer schneller, immer produktiver. Selbstoptimierung wird in unserer kapitalistischen Leistungsgesellschaft großgeschrieben.

Ich bin ein Girlboss und verfolge Träume. Dabei weiß ich gar nicht mal so genau, worauf ich eigentlich hinarbeite. Aber jetzt habe ich ja die Zeit, dann sollte ich sie auch nutzen. Jetzt bloß mein Humankapital nicht verschwenden. Wann ist Arbeiten zu einem Lifestyle geworden; wann haben wir angefangen, uns über unsere Leistung zu definieren?

Es geht nicht um all diejenigen, die einen Traum verfolgen und auch in Zeiten von Corona darum kämpfen, ihn zu verwirklichen, oder jene, die eine Struktur brauchen, die ihnen jetzt Halt gibt, sondern all diejenigen, die süchtig nach dem Gefühl sind, produktiv zu sein. All diejenigen, die nicht aufhören können zu rennen, obwohl niemand sie zwingt. Obwohl sie nicht wissen, wohin sie eigentlich rennen.

Der Druck, den wir uns selbst machen, ist unter normalen Umständen schon ungesund. Zu Zeiten, in denen wir zuhause bleiben, viel Zeit in unserem Kopf verbringen, niemand uns ablenkt und aus unserem Hamsterrad rausholt, kann das Ganze ganz schnell gefährlich werden.

Die digitale Welt, die wir uns um uns herum aufgebaut haben, ermöglicht es uns, dauerhaft zu arbeiten. In Zeiten von Corona ist Homeoffice natürlich etwas Gutes, gleichzeitig gibt es keine Möglichkeit, vor der Arbeit zu fliehen, denn wir könnten sie, wenn wir wollten, mit ins Bett nehmen. Die Grenzen zwischen Arbeit und Freizeit verschwimmen jetzt, bis sie nahezu nicht existent sind. Aber nicht nur die tatsächliche Arbeit ist immer da, sondern auch der Druck, immer besser zu werden: Anstatt die Zeit Zuhause im Bett vor Netflix zu verbringen, tunen wir uns weiter. Hauptsache was schaffen, Zeit wird nämlich nicht verschwendet. Sport machen, Musikinstrumente lernen, Sprachen auffrischen, Marie Kondos Methoden anwenden. Wie kann ich meine Zeit möglichst produktiv nutzen und möglichst viel aus der Quarantäne mitnehmen?

Diese Hustle Mentalität kreiert einen „false sense of direction in life“: Wir erwarten uns eine Erfüllung vom Stress: Wenn ich hart genug arbeite, komme ich irgendwann an diesen magischen Ort namens Glück. Wir hören nicht auf, bis wir das nächste Level erreicht haben. Und das nächste. Und das nächste. Wir folgen blind einer Leistungsgesellschaft, in der es keine Zeit gibt, wirklich zu genießen. Ohne Schuldgefühle und ohne den Hintergedanken, ob das, was ich tue, gerade etwas bringt. Wir vergessen, dass einfach nur Zuhause bleiben in dieser Situation schon das Beste ist, was wir machen können. Anstatt also die Ausgangsbeschränkung als das zu akzeptieren, was sie ist, kreieren wir uns unser eigenes Home-Bootcamp um als besserer Mensch aus der Krise zu kommen.

Es geht nicht darum, keine Home-Workouts mehr zu machen und alle Arbeit liegen zu lassen. Es geht darum, zu hinterfragen. Wozu der Stress? Worauf arbeite ich eigentlich hin? Wie viel von alledem ist effizientes Arbeiten, und wie viel die Sucht nach ständiger Produktivität? Verfolge ich gerade Träume, oder flüchte ich mich nur in die Vorstellung, in dieser schwierigen Zeit alles unter Kontrolle zu haben? Denke ich nur daran, wer ich sein werde, wenn das alles vorbei ist, anstatt mich damit zufrieden zu geben, wo und wer ich bin?

Die Lösung? Auf die eigenen Gefühle hören anstatt sie unter falschem Optimismus zu begraben. Stehenbleiben. Und vielleicht mal wieder Zeit verschwenden. Es ist okay, die Krise für das zu nehmen, was sie ist, ohne einen Mehrwert daraus ziehen zu wollen.

„Nutz die Quarantäne, um all die Dinge zu tun, für die du sonst keine Zeit hast“ bedeutet auch „mach mal einfach gar nichts, wenn du dafür sonst keine Zeit hast.“

_

Joanna ist 23 Jahre alt, lebt in Berlin und versucht mit ihren Worten das auszudrücken, was vielleicht einige andere junge Menschen fühlen, aber noch nicht ganz einordnen können.

Foto von Imina.

1 Kommentare

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht.