Es ist November 2019 im Lausitzer Braunkohlerevier. Normalerweise laufen hier jetzt die Kohlegrabungen in vollem Gange. Nicht so heute, hunderte Menschen in weißen Maleranzügen stürmen in Scharen die riesige Kohlegrube hinunter. Sie blockieren die riesigen Bagger mit ihren Körpern, halten sich an den Händen und stellen sich der Polizei entgegen, die etwas überfordert dabei wirkt, die Masse auseinander zu treiben. Die protestierenden Menschen gehören zu dem Aktionsbündnis „Ende Gelände“. Das antikapitalistische Bündnis setzt sich für sozial-ökologische Ziele ein und fordert den sofortigen Kohleausstieg, um die Klimakatastrophe noch so weit wie möglich zu verhindern. Um auf dieses dringliche Ziel aufmerksam zu machen, besetzen sie in Massenaktionen immer wieder Tagebaue wie in der Lausitz oder blockieren Gleise im Hambacher Forst.
Die Streikenden in der Kohlegrube benutzen für ihren politischen Protest die Methode des zivilen Ungehorsams. Angesichts der drohenden Klimakrise reicht ihnen das freitägliche Demonstrieren, das Unterschriftensammeln oder die Aufklärung in den sozialen Medien nicht mehr aus. Sie entscheiden sich dafür, ganz bewusst Regeln zu überschreiten, die ihnen der Staat auferlegt hat.
Ganz allgemein versteht man unter zivilem Ungehorsam eine kalkulierte Regelverletzung mit symbolischem Charakter, die insbesondere durch ihre Illegalität auf die Dringlichkeit der politischen Forderung hinweisen soll. Normalerweise berufen sich die Ungehorsamen dabei auf die unveräußerlichen Menschenrechte, höher Instanzen, wie z.B. Gott oder eine politische Situation, die kein anderes Handeln mehr zulässt.
Diese Form des politischen Protests ist nicht neu, ganz im Gegenteil: zurück geht der Begriff auf ein Essay von dem amerikanischen Philosophen und Schriftsteller Henry David Thoreau (1817-1862) aus dem Jahr 1849. Dieser weigerte sich seine Kopfsteuer an den US-amerikanischen Staat zu bezahlen, welcher mit den Steuergeldern den Krieg gegen Mexiko finanzierte. Thoreau, der diesen Krieg für imperialistisch hielt und ihn deswegen nicht mit seinem Gewissen vereinbaren konnte, verbrachte schließlich sogar eine Nacht im Gefängnis und schrieb daraufhin seinen Essay „civil desobediance“. Auch heute berufen sich die Protestierenden noch auf seine Ideen. Thoreau vertritt in seinem Text die Meinung, dass die Autorität des Staates nur auf der Zustimmung der Bevölkerung beruhe und dass Gerechtigkeit über dem Gesetz stehe. Ob die herrschenden Gesetze gerecht sind, könnten Individuen selbst entscheiden.
„Nur eine einzige Verpflichtung bin ich berechtigt einzugehen und das ist jederzeit zu tun, was mir gerecht scheint“
Aber kann dieser Grundsatz tatsächlich als ein Leitmotiv für politisches Handeln in der Gesellschaft funktionieren? Ist es nicht sogar irgendwie gefährlich, wenn sich auf einmal Einzelne über die Gesetze einer demokratisch legitimierten Regierung stellen?
Ist ziviler Ungehorsam sogar schlecht für die Demokratie?
Der zeitgenössische Philosoph und Soziologe Jürgen Habermas, der sich ebenfalls viel mit zivilem Ungehorsam beschäftigt hat, ist der Meinung, dass ziviler Ungehorsam erst die allerletzte Instanz politischer Teilhabe darstellen kann. Erst also, wenn alle anderen Wege politischen Protests voll ausgeschöpft sind, wird das Regelübertreten legitim. Es geht bei zivilem Ungehorsam schließlich nicht einfach darum Regeln zu verletzen, weil einem gerade etwas nicht gefällt. Diese Protestform schließt eine intensive Reflexion des Handelns und das Tragen eventueller Konsequenzen mit ein.
Natürlich ist es um einiges wirksamer, wenn Staat und Politik so ganz aktiv herausgefordert werden. Durch die gewollt symbolische Macht erhofft man sich mediale Aufmerksamkeit, die eine Demonstration nur schwer erreichen kann. Die beginnende Klimakrise lässt keine Zeit mehr zum Däumchendrehen, deswegen hat sich beispielsweise auch die Klimabewegung Extinction Rebellion dazu entschieden, dass ihr Protest und Widerstand radikaler werden muss, wenn klimapolitisch endlich etwas verändert werden soll. Sie blockieren den Verkehr in zahlreichen Städten in einer Aktion des Ungehorsams, indem sie sich auf wichtige Verkehrsknotenpunkte setzen.
Auch mit Blick in die Vergangenheit lassen sich nicht wenige richtungsweisende Personen aufzählen, die mit ihren ungehorsamen Aktionen wichtige Bewegungen lostreten konnten und so dem Kampf für Rechte Vorschub leisten konnten. Im Jahr 1930 startet Mahatma Gandhi den Salzmarsch in Indien, mit dem er gegen die Abhängigkeit von Großbritannien protestierte. Die Inder*innen begannen nun eigenständig mit der Salzgewinnung, die eigentlich komplett den Briten vorbehalten war, mit der Folge, dass fast 50.000 Menschen verhaftet wurden. Im Dezember 1955 wird Rosa Parks in den USA festgenommen, weil sie sich weigert ihren Sitzplatz im Bus für einen Weißen aufzugeben, wie es die damaligen Gesetze der Rassensegregation forderten. Sie legte damit den Grundstein des Protestes der schwarzen Bevölkerung unter der Leitung von Martin Luther King. Vielleicht brauchen große gesellschaftliche Veränderungen also einfach diese Wut und diese Radikalität weniger Mutiger, die es gemeinsam wagen sich gegen Regeln aufzulehnen und Veränderungen aktiv einzufordern.
Zuletzt liegt einer der besonderen Stärken des zivilen Ungehorsams bestimmt darin, dass im Prozess der Selbstermächtigung und der gemeinschaftlichen Emanzipation Utopien von gesellschaftlichem Zusammenhalt und Solidarität erprobt und praktiziert werden können.
Also, wann warst du zuletzt ungehorsam?
–
Lisa ist 21 Jahre alt, Studentin und findet ganz unbedingt, dass wir nicht immer gehorchen sollten. Für die Zukunft wünscht sie sich weniger Wegschauen, dafür mehr Selbst-in-die-Hand-nehmen und träumt von einer solidarischen Gesellschaft.
Auf TIERINDIR schreibt sie monatlich die Kolumne „Alltagsaktivismus“, in der sie auf verschiedene gesellschaftliche und politische Bewegungen aufmerksam macht und dabei Anregungen für eigenes politisches Engagement geben möchte.
Das Beitragsbild ist von Ende Gelände 2019.