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Raum geben, Raum nehmen

Im Seminarraum ist es stickig. Julian lehnt sich in seinem Stuhl zurück. Während er redet, bewegt er die Hände, um seine wichtigen Aussagen zu unterstreichen. Fast alles, was er sagt, sieht er als wichtig an. Nachdem er am Anfang verkündet hat, er wolle sich kurzfassen und würde sich eh nur den anderen Beiträgen anschließen, redet er 6 Minuten durch. Nach dem dritten Satz verliert er sich bereits in seiner Argumentation. 

Ich schweife ab. Seine Stimme nervt mich nur noch. Ich will, dass er aufhört zu reden. Nachdem er mit seinem Zeigefinder noch einmal bedeutungsvoll auf den Tisch getippt hat, schweigt er. Ich atme auf. Habe ich die ganze Zeit die Luft angehalten? 

Während ich überlege, was ich auf seinen inhaltslosen Beitrag antworten könnte, heben Max und Sebastian schon engagiert den Arm. Die Diskussion, die eher einer Selbstdarstellung mit möglichst vielen Fachwörtern in einem Satz gleicht, geht weiter. 

Sophie schweigt. Kathie malt auf ihrem Collegeblock das Datum nach. In mir staut sich etwas auf. Ist es Wut? 

Würde ich für jeden männlichen Beitrag in diesem Seminar einen Euro bekommen, könnte ich mir schon die neue Jeans kaufen, die ich so gerne hätte und die so eine gute Figur macht. Ist klar, dass das wichtig ist, oder?

Meine Seminarleiterin verfolgt interessiert die Diskussion und nickt dann. Sie wirft uns einen halb ermunternden und halb verzweifelten Blick zu. „Sagt doch auch mal was“, scheint sie sagen zu wollen. Das spricht sie dann auch aus. Die Beiträge seien schon sehr lang und es wäre schön, den Herren nicht die gesamte Diskussion zu überlassen. 

Hätte Julian nicht schon den gesamten Sauerstoff im Raum für seine Reden verbraucht, wäre auch noch etwas für mich übrig, will ich sagen. 

Das lasse ich dann aber, immerhin werde ich von ihr noch benotet. 

Als Sebastian seinen Satz mit „Folglich“ anfängt, verlasse ich den Raum. Ich fürchte zu schreien, wenn ich etwas sagen würde. Niemand mag wütende Frauen. 

Warum sage ich nichts? Warum sagt Sophie nichts? Ich ärgere mich über mich selbst. Habe ich mich von den Beiträgen verunsichern lassen? Warum gebe ich diesen „Herren“ so viel Raum? 

Ich weiß genauso viel, sitze auch in diesem Seminar und würde mehr lernen, wenn ich aktiv mitmachen würde. 

Das mit dem Sauerstoff habe ich so explizit natürlich nicht gemeint. Natürlich hat Julian das Recht, etwas beizutragen und ihm sollte Aufmerksamkeit geschenkt werden. Eher steht es als Sinnbild dafür, dass es nicht funktioniert, sich nur Raum zu nehmen. Dieser Raum muss auch frei gemacht werden. Es soll ein Sinnbild dafür sein, sensibel zu sein und zu reflektieren, wie viel Raum man einnimmt. 

Wie vieles im Leben, ist es ein Geben und Nehmen. Unfair finde ich es, die Verantwortung nur einer Seite zu übertragen und so funktioniert es auch nicht. Ich kann mir keinen Raum nehmen, der nicht frei ist und Raum, der frei gemacht wurde und nicht genutzt wird, wird zu Stille. 

Ich wünsche mir eine Diskussion, bei der jede Person zu Wort kommen kann, in der es ein Grundmaß an Sensibilität gibt. Ich wünsche mir Reflexion und Bewusstsein darüber, wie Geschlechterrollen uns in unserem Verhalten beeinflussen. Und den Willen, diese aufzubrechen.

Julian und Sebastian könnten sich kürzer fassen und versuchen, sich selbst zu reflektieren: Mit den Fragen „Wie viel Raum nehme ich gerade ein?“ und „Ist noch Platz für andere?“ Sophie und ich könnten uns einen Ruck geben und zeigen, dass wir mehr Raum wollen. Wenn wir uns alle ein bisschen aus unserer Komfortzone begeben, könnten Diskussionen bei uns im Kurs bald schon vielfältiger sein. 

Denn letztendlich wollen wir doch alle dasselbe: Gehört werden. 

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Der fiktive Text ist von Greta Mailin.
Beitragsbild von Martin Wunderwald mit Bearbeitung von Imina.

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