Selbst & Inszenierung
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Mutprobe? Eine Glatze schneiden

Vor etwa zwei Jahren habe ich es einfach gemacht – von einem Tag auf den anderen habe ich meine Haare komplett abgeschnitten. 4mm waren noch übrig. Nur kurz zuvor hatte sich die Idee in meinem Kopf gefangen und ich bin sie einfach nicht mehr losgeworden. Natürlich hatte ich auch Zweifel. Was ist, wenn es mir überhaupt nicht gefällt? Ist meine Kopfform überhaupt geeignet? Wie wird wohl die lange Übergangsphase? Ich habe mir viele Bilder von Frauen mit abrasierten Haaren angeschaut und fand es einfach wunderschön. Irgendwie anmutend, beeindruckend und stark. Und dann wusste ich – das will ich auch!

Ich hatte bei Freunden geschlafen, wir haben morgens gemeinsam gefrühstückt und dann erzählte ich von meiner Idee. Eine Freundin von mir hat dann direkt ihre Haarschneidemaschine geholt. Wir sind ins Bad, Handtuch um den Hals, los. Noch einmal hat sie mich gefragt: „Bist du dir wirklich sicher?“ Und ich war mir sicher. Aber trotzdem weiß ich nicht, ob ich es durchgezogen hätte, wäre sie nicht gewesen. Es war gut, dass sie nicht gezögert und einfach darauf los geschnitten hat.

Erst hat sie mit einer Schere einfach meinen langen Zopf abgeschnitten, weil ich kurz überlegt hatte, meine Haare zu spenden – leider waren sie dafür aber noch zu kurz. Dann hat sie immer kürzer geschnitten, am Ende dann mit den Rasierer auf 4mm. Mein erster Blick in den Spiegel war dann ungefähr so: „Oh mein Gott, was habe ich nur getan?!“ Ich habe mich nicht wiedererkannt. Da stand auf einmal ein ganz neuer Mensch vor mir. In den ersten Tagen ohne Haare ist es mir noch einige Male passiert, dass ich mich zufälligerweise irgendwo im Spiegel gesehen und gar nicht realisiert habe, dass ich das jetzt bin. Nach der ersten Nacht bin ich aufgewacht und wollte mir meine Haare aus dem Gesicht streichen, nur um zu bemerken, dass da gar keine mehr sind. Es hat ein wenig gebraucht, bis ich mich wirklich daran gewöhnt habe, aber dann hat es mir gefallen. Der erste Schock ist schnell vergangen. Ich mochte plötzlich, was ich da sah. Ich mochte mich und war irgendwie stolz, dass ich das wirklich durchgezogen habe.

Ich habe plötzlich angefangen, mich mit meinem Gesicht so anzufreunden und so auseinander zu setzen, wie ich es zuvor noch nie getan hatte. Ich hatte in der Jugend viel mit Hautunreinheit zu kämpfen und habe mein Gesicht oft hinter meinen Haaren versteckt. Und obwohl das gar nicht meine Intention war, haben mir die kurzen Haare total geholfen, denn – jetzt konnte ich mich nicht mehr verstecken. Ich habe gelernt, zu meinem Gesicht zu stehen und bin vielleicht auch ein kleines bisschen selbstbewusster geworden.

Natürlich habe ich auch ein paar negative Kommentare bekommen, aber die waren mir relativ schnell herzlich egal. Vor allem in den ersten Tagen hatte ich das Gefühl, dass mich wirklich jeder, dem ich auf der Straße begegnete, mit offenem Mund anstarrte. Wahrscheinlich alles nur Einbildung, aber auch das ist nach ein paar Tagen wieder verschwunden. Einige Menschen haben sich das Recht herausgenommen, auf gewisse Dinge zu schließen und Dinge zu sagen, die verletzen, nur weil man so aussieht, wie man aussieht.

Nein, ich bin nicht automatisch eine Lesbe und auch keine Feministin, nur weil ich jetzt keine Haare mehr auf dem Kopf trage. Wer würde auch sonst auf die Idee kommen, sich die Haare abzurasieren, außer jemand, der für das feministische Gedankengut steht? Die beste Antwort darauf ist, einfach zu fragen, woher diese Annahme kommt. Die meisten ertappen sich in ihrer eigenen Engstirnigkeit, wenn sie den Gedanken, dass es nur um die Haare geht, laut aussprechen. Und nein, es handelt sich auch nicht um einen Nervenzusammenbruch oder irgendeine Midlife-Crisis!

Ziemlich schnell wurde es mir wirklich egal, was andere Menschen zu meinen Haaren sagten. Ich konnte dazu stehen. Und ich denke, dass man mir diese Einstellung angemerkt hat. Natürlich kamen auch sehr viele positive Kommentare – vor allem in die Richtung, dass ich sehr stark wirke. Das schönste Kompliment ist jedoch das, welches ich mir selbst mache, indem ich Ja zu meinem Gesicht sage.

Ich glaube schon, dass ich persönlich an dieser Erfahrung gewachsen bin. Das ist ein enormer Vorteil, der mir vorher noch gar nicht wirklich bewusst war.

Ich habe die Haare dann etwa ein halbes Jahr so kurz getragen. Dementsprechend musste ich sie fast jede Woche neu rasieren. Das war ein bisschen nervig, aber schon okay – dafür spart man morgens im Bad wirklich viel Zeit.

Irgendwie sehnte ich mich dann aber trotzdem wieder nach meinen langen Haaren und beschloss, mit dem wöchentlichen Schneiden aufzuhören und sie wieder lang wachsen zu lassen. Am Anfang habe ich mich wirklich über jeden einzelnen Millimeter gefreut. Aber was soll ich sagen? Zwischenzeitlich habe ich mich dafür gehasst, dass ich mir wirklich die Haare komplett abgeschnitten habe. Die Übergangszeit war schrecklich für mich. Vor allem die Phase, als die Haare so komisch abstanden und noch nach keiner richtigen Frisur aussahen. Ihr müsst es euch ungefähr so vorstellen: Es war Hochsommer und ich habe eine Mütze getragen, nur um meine Haare zu verstecken. Damit ging es dann irgendwie. Ich würde euch trotzdem empfehlen, die nervige Übergangsphase auf den Winter zu verlegen.

Nach einigen Monaten war aber auch die Phase überstanden. Schon im Winter, etwa ein Jahr nachdem ich mir meine Haare abrasiert hatte, konnte ich meine Haare wieder zu einem kleinen Zopf zusammenbinden. Und was denke ich jetzt darüber? Immer, wenn mir inzwischen eine Frau mit einem kahlen Kopf auf der Straße begegnet, denke ich darüber nach, ob ich mir nicht doch noch einmal die Haare abschneiden soll. Ich habe die Zeit so sehr genossen – auf irgendeine Art und Weise war es sehr besonders. Man will immer das, was man nicht hat, aber ich denke, dass ich jetzt gerade auch mit meinen langen Haaren sehr zufrieden bin. Das was ich aus dieser Zeit gelernt habe, werde ich nicht mehr vergessen.

Und trotzdem bin ich mir sehr sicher, dass ich mir irgendwann erneut die Haare abrasieren und mit stolz tragen werde.

Die Photos sind von Jacob Woyton.

Mutprobe erscheint als monatliche Serie und beschäftigt sich mit den kleinen (und großen) Mutproben des Alltags, mit Ängsten und Überwindungen, die eigentlich keine sein sollten. Wieso trauen wir uns nicht? Weshalb haben wir Angst? Wer oder was sorgt für böse Stimmen in unseren Köpfen?

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