Die Tatsache, dass Hannah krank ist, kenne ich länger als Hannah selbst. Doch über den Verlauf dieses Leids und überhaupt irgendwelche Details, wusste ich nichts – bis heute.
Erinnerungen, wann irgendetwas anfing, sind schwierig. Es fing um 2013 an – ich wollte perfekt sein. Wenn ich andere Menschen gesehen habe, die glücklich wirkten und auch in ihrer Familie glücklich waren, dann dachte ich: dieses Glück muss man irgendwie erreichen können. Und ich habe begonnen, mich in vieles rein zu zwängen und alles zu machen, was man von mir verlangt hat – ob ich wollte oder nicht.
Meine Vorsätze für das Jahr 2014 waren dann Dinge wie „Keine dummen Fragen stellen“, „Nur sprechen, wenn man dazu aufgefordert wird“ und „Nein ist keine Antwort“. Ich wollte einfach zufriedener werden; ich wollte abends ins Bett gehen und mir sagen können: „Heute war es gut.“ Doch „gut“ hat mir schnell nicht mehr gereicht.
Ich habe eine Stoffwechselstörung, wegen der ich sehr auf meine Ernährung achten muss. Lief da einmal was falsch, war das für mich gleich wieder eine Verunsicherung. Um 2015 habe ich dann entweder nichts oder fast nur gegessen; beides ist schlecht für diese Krankheit. Doch zu diesem Zeitpunkt hatte ich noch an 2014 zu knabbern, was wohl das bis heute schlimmste Jahr für mich war.
In diesem Jahr bin ich knapp einer Vergewaltigung durch meinen besten Freund entkommen. Ich habe mich das erste Mal richtig dreckig gefühlt, habe danach 100 mal geduscht und gefühlt 1000 mal die Zähne geputzt. In der folgenden Zeit habe ich angefangen, mich komplett zu isolieren, doch ich wollte den Schein wahren, dass es mir gut geht. Erst später konnte ich mit meiner besten Freundin über den Vergewaltigungsversuch reden; der Typ hat bis dahin immer wieder versucht, Kontakt zu mir aufzubauen. Und weil ich nicht nein sage, habe ich mich wieder mit ihm getroffen und er hat natürlich wieder versucht, mich in die Scheiße zu reiten. Doch bei diesem Mal habe ich es geschafft, tatsächlich nein zu sagen.
Dennoch wurde meine Lage immer schlechter, ich war einfach gebrochen und ich habe bereits angefangen mich zu fragen, wie es wäre, wenn ich vielleicht nicht mehr da bin. Schlagartig habe ich die Freude an allem verloren. Für meine Leidenschaft Sport konnte ich keine Motivation mehr aufbringen. Ich litt unter Flashbacks an dieses Trauma, doch habe mich irgendwie erst einmal damit arrangiert und meine Gefühle wieder in den Griff bekommen. Innen waren die Gedanken aber immer noch da.
2014 fing ich an, mich selbst zu verletzen. Das war einer der größten Schritte, den ich gegangen war und einer, den ich am meisten bereue. Am Anfang denkt man, dass man noch Kontrolle über den Vorgang des Verletzens hat, doch eigentlich bist du gefangen. Ich hatte jedoch das Gefühl, endlich etwas gefunden zu haben, das mich merken ließ, dass ich noch da bin. Ich schnitt mich immer, wenn ich eine riesige Leere in mir hatte, wenn ich unzufrieden war und mich für irgendwelche Fehler selbst bestrafen wollte. Ich habe mich zwei Jahre irgendwie durchgeschlängelt, habe es geschafft, die Verletzungsmerkmale zu verstecken und keinen etwas merken zu lassen.

Als 2016 dann meine Oma starb, war eine der wichtigsten Bezugspersonen in meinem Leben verschwunden – das war eindeutig zu viel. Ich bekam ständig starke Nervenzusammenbrüche, die ich nicht mehr kontrollieren konnte und die überall passierten, nicht mehr nur bei mir im Stillen. Bis dahin dachte jeder, es sei nur aufgrund des Todes meiner Oma, doch natürlich schwang alles Vorrangegangene noch nach.
Wieder fing mein ehemaliger bester Freund an, mit allen Mitteln den Kontakt zu mir aufzubauen, und wieder habe ich ihn in mein Leben gelassen – sein einziges Ziel war es, das zu vollenden, was er wenige Jahre zuvor nicht geschafft hatte. Zu diesem Zeitpunkt war ich eigentlich glücklich in einer Beziehung, jedoch hat er mich so beeinflusst, dass ich schließlich die Beziehung zu meinem damaligen Freund aufgab, was wohl einer meiner größten Fehler war.
Alles ging wieder von vorne los: die Gedanken überschlugen sich und ich habe mich immer verstärkter selbst verletzt. Der Typ fing an mein Leben zu kontrollieren; eigentlich bis heute. Ich habe aufgehört, mich nur irgendwie freizügig zu kleiden, habe ich mich bis zum Hals zugeschnürt, ich hatte Hemmungen mich irgendwem anzunähern, geschweige denn berührt oder gar geküsst zu werden. Jeglicher Halt ging verloren.
Ende 2016 folgte ein weiterer Rückschlag, als ich vor einer Geburtstagsfeier einen Typen kennenlernte, gegenüber dem ich es erstmals wieder schaffte, mich anzunähern. Kurz darauf erfuhr ich, dass ich eigentlich nur eine Fickwette zwischen ihm und seinen Freunden war. Das hat mir dann den Rest gegeben und ich dachte nur noch: „Jetzt ist es vorbei, du bist nichts wert und wirst von keinem gebraucht.“
Ich wusste nicht, wie ich irgendjemanden meine Gedanken hätte spüren lassen können, wusste nicht, wie ich mit meinen Eltern darüber reden sollte. Auf Anraten von einem Freund hin schrieb ich meinen Eltern dann eine Art Abschiedsbrief. Als meine Mutter den Brief fand, war sie natürlich außer sich und völlig in Panik – die wenigsten Eltern wüssten, wie sie in diesem Moment mit der Situation umgehen sollten und was sie für einen tun müssten.
Am nächsten Tag fuhren wir zum Arzt, der mir natürlich gleich Notfallmedikamente aufschrieb, die aber vorerst gar nichts machten; bis Antidepressiva im Blutkreislauf wirken, vergehen 3-4 Wochen. Mir wurde wenige Zeit später eine Psychologin empfohlen, zu der ich auch sofort gegangen bin. Sie war jedoch eine grauenhafte Frau, die alles nur noch schlimmer machte. Sie hat mir nie zugehört, war nie aufmerksam und hat nur über Dinge geredet, die mich überhaupt nicht betreffen. Ich habe für diese Besuche bei ihr viel Zeit geopfert, gebracht hat es mir jedoch nichts, sondern alles nur schlimmer gemacht.
Nachdem nichts mehr half, habe ich gar nicht erst eine*n neue*n Therapeut*in gesucht, sondern bin 2017 gleich in eine psychiatrische Einrichtung gegangen. Ich habe lange gebraucht, um einzusehen, dass eine Psychiatrie überhaupt eine Option ist. Anfangs hieß es dort, dass ich in 5-6 Wochen wieder stabil sei. Mir lag es vor allem am Herzen, dass ich meine Schule noch beenden konnte, doch ich habe eingesehen, dass es erst mal nicht geht. In der Psychiatrie wurde ich rund um die Uhr bewacht, die Gefahr eines Suizids war viel zu hoch. Ich musste mich fast jeden Tag komplett ausziehen, um auf Anzeichen von Selbstverletzung kontrolliert zu werden.
Nach sechs Wochen war jedoch an eine Entlassung noch nicht zu denken. Bis dahin hatte ich aber viele Menschen in meiner Behandlung kennen gelernt, die mir unendlich gut getan haben und zu denen ich noch heute Kontakt habe. Mittlerweile waren 13 Wochen vergangen, doch bevor man mich in der 14. Woche entlassen wollte, sollte ich mich innerhalb einer Woche irgendwo wieder gesellschaftlich „eingliedern“. Ich kam in einen Kindergarten im Ort der Psychiatrie und durfte auch das erste Mal allein das Klinikgelände verlassen. Die Zeit im Kindergarten und all die kleinen Menschen haben mir unglaublich gut getan.
Als ich schließlich mit einem positiven Gefühl entlassen wurde, hielt diese Positivität aber nur wenige Wochen an. Nach einer kurzen Zeit war alles wieder scheiße. Ein bisschen einfacher war es jedoch schon, da ich in der Klinik verschiedene Strategien gelernt hatte, um beispielsweise mit Selbstverletzung und manchen Gedanken umzugehen. Um den seelischen Schmerz aufzuwiegen, habe ich mir beispielsweise Steine in die Schuhe gelegt oder habe extrem scharfe Sachen gegessen, anstatt mich zu schneiden. Meine damalige Psychologin hat mit mir jeden Tag gefeiert, an dem ich mich nicht selbst verletzt habe. Das hat mir sehr viel geholfen, da jeder eigentlich nur sieht, wenn du dich verletzt hast und nicht, wenn du es mal schaffst, dich zu kontrollieren.

Ich fing wieder an in die Schule zu gehen, jedoch wurde mir gleich gesagt, dass ich wohl eine Klasse wiederholen müsste, um überhaupt weitermachen zu können. In der Schule wusste auch niemand, wie er nun so richtig mit mir umgehen sollte. Von meinen Problemen wusste ja davor niemand etwas und dann war ich plötzlich 14 Wochen weg. Was wirklich los ist, hat sich dann natürlich schnell herumgesprochen, jedoch wusste keiner von den Anderen, was er nach dieser langen Zeit nun mit mir machen sollte. Ich verlor den Kontakt zu meinen ehemaligen Mitschülern, keiner redete mit mir, keiner wusste, wie man mit mir reden sollte; das war ein Schlag ins Gesicht. Das war zwar schlimm, jedoch war es mir dann egal, da ich ja eh in eine neue Klasse gekommen bin.
Seitdem ist alles eine Achterbahnfahrt. Es gibt Tage, an denen ich aufstehe, die beste Laune habe und durch die Küche tanze und auch Tage, an denen ich aufwache und gar nicht aufstehen will. Zurzeit bin ich an einem Punkt, an dem mein Psychiater sagt, dass ein erneuter Klinikbesuch vielleicht wieder gut wäre. Ich bin zwar gewillt, dass es besser wird und reiße mich zusammen und gebe alles, doch dann gibt es Momente, wo ich mich frage, ob ich das alles noch machen will. Ich musste eines einsehen: durch all meine Rückschläge bin ich angeknackst; ich kann nicht rückgängig machen, was passiert ist. Ich bin immer noch sehr sensibel und es kann ständig passieren, dass mich ein neuer Rückschlag trifft; das kann durch die kleinsten Dinge geschehen. Ich mache mir nach wie vor Leistungsdruck und habe oft Probleme, mich zu konzentrieren.
Mir hat es jedoch geholfen zu verstehen, dass das alles eine Krankheit ist, und nicht ich selbst. Sie ist ein Schleier, der sich manchmal über mich legt. Das zu akzeptieren, ist momentan die einfachste Methode damit zu leben.
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Wer sind wir? Dem soll diese Reihe auf den Grund gehen. Ein Kaleidoskop unserer Gesellschaft, das allen eine Stimme geben soll. Nicht nur den ganz Großen, die das Privileg einer öffentlichen Stimme haben. Auch den kleinen Schicksalen, die fast unsichtbar sind und doch so wichtig, um uns als Gesellschaft zu verstehen. Ich will hinter diese Menschen und Schicksale zurücktreten. Nicht reden, reden lassen – Ungesagtes sagbar machen.