Selbst & Inszenierung
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Der perfekte Ort

Ich bin bis zu meinem Abitur ein einziges Mal umgezogen. Mit drei Jahren, von unserer Wohnung in der Kleinstadt in das Haus, das meine Eltern gebaut haben, im Dorf daneben. Ansonsten habe ich meine komplette Jugend bis zu meinem 19. Lebensjahr in einem einzigen, kleinen Ort verbracht. Ihn verhasst, weil man so wenige Möglichkeiten hatte. Weil sich die Leute nie änderten, man nie den Freundeskreis wechseln konnte, weil jeder jeden irgendwie kannte und nie ein neues Gesicht einfach irgendwo dazu stößt. Das Dorf hat ca. 500 Einwohner, von denen schätzungsweise 70 Prozent über 75 Jahre alt sind. Eine einzige Mitschülerin von mir kam auch aus dem Dorf. Alle anderen waren auf die umliegenden verteilt. Zum Einkaufen oder Freunde besuchen musste man entweder zwei Kilometer laufen oder die Eltern bitten, gefahren zu werden. Ich fühlte mich eingekesselt, unverstanden und irgendwie nicht frei genug an diesem Ort. Ich wollte Abwechslung und vor allem ganz viel Neues sehen. Ich suchte nach dem perfekten Ort für mich.

 

 

 

 

 

 

 

 

Nach dem Abitur bewarb ich mich um einen Studienplatz in Bozen, Südtirol. Zur Auswahl standen außerdem verschiedene Städte in Deutschland, doch für mich zählte zu diesem Zeitpunkt vor allem: Ganz. weit. weg. An einen Ort, der spannender ist, der perfekt zu mir passt.

Und nach zwei Semestern in Südtirol zog ich nach Bremen. Einmal ganz nach oben. Vom Süden in den Norden. Mein Kopf gefüllt von Selbstzweifeln und der Frage „Was jetzt?“.
Gerade Bremen schenkte mir jedoch in den folgenden Monaten die Erkenntnis, wie sehr es mich zu einem künstlerischen, praktischen Studiengang zog. Wie sehr ich die Dinge in die Hand nehmen wollte, anstatt nur theoretisch über sie zu philosophieren. Ich begann also, die Vorlesungen vorrangig dafür zu nutzen, über eigene kreative Ideen nachzudenken, meine Bewerbungsmappe für Kunsthochschulen vorzubereiten und meine Kommilitonen zu zeichnen. Dachte: Wenn du endlich an der Kunsthochschule bist, sind da mehr Leute wie du. Und war schon wieder auf der Suche nach einem anderen, perfekten Ort.

 

 

 

 

 

 

Und nun bin ich in Kassel gelandet, der goldenen Mitte, und wohne wieder ziemlich nah an dem Ort, aus dem ich komme. Studiere an der Kunsthochschule. Mache meine eigenen Projekte, suche mir eigene Aufgaben.

Manchmal schaue ich mir Bilder von den Bergen in Bozen oder den guten Ausstellungen in Bremen an und sehne mich danach. Aber hätte ich bis dato etwas anders gemacht? Wäre ich im Nachhinein nicht doch irgendwo geblieben?

Niemals.

Durch diese ganzen Umzüge, Ersti-Tage, Wohnungseinrichtungen und Design-Projektabgaben habe ich vor allem unglaublich viel über mich selbst und meine Arbeitsweise gelernt. Weiß jetzt ungefähr, wie ich ticke. Kann mich hinsetzen, mir Aufgaben suchen und an Dingen arbeiten, ohne das mir das irgendjemand auftragen muss. Auch in Semesterferien, auch abends, auch früh morgens.

Die ganze Zeit habe ich nach dem perfekten Ort für mich gesucht. Gedacht, es muss doch irgendwie gehen, anzukommen und zu denken „Hier bleibe ich, bis ich alt bin“. Aber es gibt ihn wahrscheinlich nicht, diesen einen, perfekten Ort. Und je öfter ich umgezogen bin, desto klarer wurde mir das.

Natürlich ist Kassel wohl nicht die allerschönste Stadt, vor allem im Vergleich zu Bozen nicht. In Bremen hatte ich den See vor der Tür und konnte im Sommer frühmorgens schwimmen gehen. Dafür gab es in Bozen den besten Aperol Spritz und immer ein paar gesalzene Erdnüsse dazu. Dort habe ich meine beste Freundin kennengelernt und wir haben so viel zusammen erlebt. Und in Kassel kann ich jetzt, dank Semesterticket, wieder öfter zu meiner Familie fahren und studiere an einer Uni, die mir sehr viele Freiheiten lässt.

Ich denke, dass eine Stadt dir immer etwas mit gibt, egal, wie lang du dort wohnst. Sie kann für eine bestimmte Zeit, in bestimmten Lebenslagen oder Situationen, perfekt für dich sein – oder eben nicht. Und wenn du wieder woanders bist, wächst du erneut, nur vielleicht in eine andere Richtung.

Das Leben ist so spannend und verändert sich (und dich!) konstant. Auch, wenn du gerade an einem Ort bist, an dem du dich einsam, nicht zugehörig fühlst und dich einfach nur wegwünschst. Der Versuch, das meiste für sich mitzunehmen, ist das Beste, was man in einer solchen Situation tun kann.

Ich glaube auch, dass es wichtig ist, sich vor Augen zu halten, dass keine Situation für immer ist und du zu jeder Zeit die Möglichkeit hast, dein Leben zu verändern. Du bist nicht gezwungen, irgendwo für immer zu sein, nur weil die Leute sagen, dass du irgendwann sesshaft werden musst. Weil du dein Studium erst beenden solltest, auch wenn du dich überhaupt nicht wohl fühlst bei der Sache. Weil du irgendwann ein Haus bauen und Kinder bekommen und alt werden sollst – und das alles an einem Ort.

Die Welt ist riesig und bietet so viele Möglichkeiten, Chancen und Reisen. Du solltest dir selbst nicht die Chance auf deine eigene Reise verweigern, nur weil du dich an einem Ort gefangen fühlst. Es wird immer Auf und Ab gehen, manchmal in einem rasanten Tempo, manchmal scheinbar gar nicht. Auch an einem Ort, der sich bis dato vielleicht perfekt angefühlt hat. Es geht allerdings darum, sich davor nicht zu verschließen, sondern die Auf’s und Ab’s als Teil des Lebens zu akzeptieren und sich selbst zu befreien, wenn man sich festgefahren fühlt.

Wenn man einmal aufhört, nach dem perfekten Ort zu suchen, kann man so viel entspannter mit vielem umgehen. Sich zu sagen „Hey, ich lebe jetzt hier, aber nach meinem Abschluss kann ich doch immer noch an den Ort ziehen, von dem ich mein Leben lang geträumt habe“, nimmt ein riesiges Gewicht von den eigenen Schultern. Zuzulassen und sich einzugestehen, dass etwas mal nicht klappt und es wieder zu probieren – vielleicht woanders – ist eine große Kunst. Wenn diese ganze Suche nach dem perfekten Ort etwas Positives hat, dann ist es auf jeden Fall, dass man durch diesen konstanten Drang, irgendwo anzukommen und sich zuhause zu fühlen, die eigenen Ziele nicht aus den Augen verliert. Und das hat doch auch wieder etwas Gutes.

All the nights spent off our faces
Trying to find these perfect places
What the fuck are perfect places anyway?

Photos & Text von Imina.

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