Es ist kalt. Schneeflocken wehen in mein Gesicht, schmelzen auf meiner warmen Haut und laufen wie Tränen meine Wangen hinunter. London ist grau heute. Ein Grau, das die Gebäude verschluckt und die gute Laune gleich mit. Es ist kalt. Mir ist kalt. Ich bin durchnässt, in meiner Hand ein tropfendes Stück Pappe. Die Buchstaben darauf sind verwischt, genauso wie meine Wimperntusche, die sich wie Schatten unter meine Augen legt. Eigentlich müsste ich heute miserabel gelaunt sein.
Eigentlich müsste ich mich mit einem guten Buch und einem heißen Tee unter meiner Bettdecke verkriechen. Aber stattdessen glühe ich vor Euphorie. Ich bin froh, heute, jetzt, hier auf der Straße zu stehen. Und Tausende mit mir. Es ist der 21. Januar 2018, ungefähr 12:30 Uhr. Ich stehe jetzt schon seit mehr als einer Stunde im Schneeregen und ich werde auch noch etwas länger hier stehen bleiben.
„Time’s up!“ brüllt die Menge immer wieder. „Time’s up!“ Unter diesem Motto findet der Women’s March 2018 in London statt. Ein Statement setzen, gegen Sexismus, gegen Rassismus und Diskriminierung jeglicher Art, das ist das Ziel. Die RednerInnen sind genau so divers wie die Masse der Demonstrierenden. Alter, Hautfarbe, Geschlecht, all das spielt hier und heute keine Rolle. Denn wir haben alle das gleiche Ziel. Wir gehen auf die Straße, weil selbst in 2018 Gleichberechtigung zwischen den Geschlechtern noch keine Garantie ist. Weil #Metoo gezeigt hat, dass sexuelle Übergriffe keine Seltenheit sind und leider viele ignorieren, dass ein Nein ein Nein ist. Weil Frauen gerade im Alter ein höheres Armutsrisiko haben als Männer. Weil Abtreibung in vielen Staaten immer noch verboten oder nur bedingt möglich ist. Weil Menschen auf Grund ihrer Hautfarbe, auf Grund ihrer Herkunft, in Sachen Chancengleichheit immer noch stark diskriminiert werden. Weil Homosexualität noch immer abgewertet wird. Weil Transsexualität noch immer gesellschaftlich verkannt ist. Weil vor genau einem Jahr ein Mann sein Amt als Präsident der USA antrat, der offenkundig sexistisch, rassistisch, islamfeindlich und homophob ist. Ein Mann, der Frauen als Objekte ansieht und eine Mauer gegen Überfremdung bauen möchte. Ein Mann, der unsere Gesellschaft symbolisch einen Schritt zurück wirft. „We don’t want you Mr Trump!“ ruft ein kleines Mädchen und die Menge jubelt zustimmend. Doch es geht nicht nur um Donald Trump.
Auch Europa wird konservativer, rechte Parteien gewinnen an Zuspruch. Auch in Deutschland sind sexistische und rassistische Äußerungen wieder salonfähig geworden. Und damit muss Schluss sein. Die Zeit, in der ich intolerante Kommentare einfach ignoriere ist vorbei. Angetrieben vom Engagement der RednerInnen nehme ich mir vor, in Zukunft mehr für das einzustehen, was mir wirklich wichtig ist: Gerechtigkeit. „We want justice not revenge!“ schreien wir ins kalte London. „Time’s up for sexism! Time’s up for racism! Time’s up for homophobia!“ Und dann schwören wir, über 7000 Menschen, feierlich, in Aktion zu treten. Denn es ist 2018 und Gleichberechtigung und Toleranz sollte schon lange eine Selbstverständlichkeit sein.
Und als mein Plakat so nass ist, dass es zerreißt, und meine Mütze mir am Kopf klebt bin ich einfach unfassbar glücklich. Ich fühle mich ermutigt und inspiriert und habe heute etwas sehr wertvolles gelernt. Wenn wir gemeinsam unsere Stimmen erheben und eine Einheit gegen Ungerechtigkeit bilden, machen wir einen großen Schritt in Richtung Veränderung.
Hanna, 18 Jahre, Kleinstadtkind und Utopistin. Manchmal verliert sie sich in ihren Gedanken und Tagträumen über eine bessere Welt und geht damit auch gerne mal ihren Mitmenschen auf die Nerven. Jetzt verbringt sie ein Jahr in England um ihren Traum vom Leben in London ein Stückchen näher zu kommen.
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Text von Hannah/ Bilder von Hannah und Time.com