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Schulabbrecher.

Irgendwann im Sommer 2011 hätte ich mein Abiturzeugnis überreicht bekommen sollen, doch das ist nie passiert. Ich habe die Schule abgebrochen.

Schulabbrecher. Bei den meisten Leuten schlägt dieses Wort ein wie eine Bombe und lässt (nicht nur bei Eltern) alle Alarmglocken läuten. Viele sind vielleicht sogar enttäuscht oder schockiert, wenn sie hören, dass ich etwas so gewöhnliches, unspektakuläres und notwendiges wie die Schule nie abgeschlossen habe. Aber es geht mir gut.

Als ich noch jünger war dachte ich oft über meine Zukunft nach. Die Schule, das Abitur, das Studium – dass all das auf mich wartete, stellte ich nie in Frage. Ich war auf dem „rechten Weg“ und davon war ich genauso überzeugt wie meine Eltern, meine Lehrer und alle anderen Menschen in meinem Leben. Ich war ein absoluter Durchschnittsschüler, irgendwie grau in einer schwarzweißen Welt; ich war kein Außenseiter, aber passte auch nirgends so richtig rein. Vielleicht war der Schock daher – für alle anderen aber auch für mich selbst – umso größer, als mein unscheinbares Leben auf einmal völlig zu entgleisen schien. Vor einigen Tagen fiel mir ein alter Tagebucheintrag aus jener Zeit in die Hände – und dieser kleine Blick in die Vergangenheit war es, der mich zum Schreiben dieses Artikels inspiriert hat.

Heute weiß ich, dass ich schon damals viele Symptome einer Depression zeigte. Die offizielle Diagnose und die Entscheidung, mir damit helfen zu lassen, fielen aber erst vor Kurzem – vor acht Jahren wäre ich niemals auf die Idee gekommen. Alles, was ich damals wusste, war, dass ich frustriert, unglücklich und völlig demotiviert war. In manchen Fächern war ich über-, in anderen völlig unterfordert. Dazu kamen ein Schulwechsel, die Pubertät und viele Konflikte in der Familie und die explosive Mischung war perfekt. Die Entscheidung, die Schule zu verlassen, kam für viele Außenstehende also sehr überraschend. Sicherlich war es ein Paukenschlag, doch der Druck, der sich in jenem Moment so scheinbar schlagartig entlud, hatte sich in mir über viele Monate hinweg aufgebaut.

Wenn ich mir in der Vergangenheit die Errungenschaften meiner ehemaligen Mitschüler ansah, überkam mich unweigerlich ein Gefühl von Eifersucht. Egal ob es die Fotos vom Abiball waren, die Berichte aus dem Au-Pair-Jahr oder der erste Klausurenstress in der Uni. Immer hatte ein Teil von mir das Gefühl, einen Fehler gemacht zu haben. Irgendetwas verpasst zu haben. Vielleicht sogar meine einzige Chance im Leben verpasst zu haben. Doch wie viel in meinem Leben hing und hängt tatsächlich von dieser einen Entscheidung ab?

Seit meinem Schulabbruch habe ich als Kellner, Verkäufer, Briefträger und Kassierer gearbeitet, auf Luftmatratzen und Sofas, in eigenen und fremden Betten und oft genug auch überhaupt nicht geschlafen, hatte fröhliche und traurige Momente, habe gelacht, geweint, geschrien und gesungen, habe Armut, Einsamkeit und Verzweiflung, aber auch Freude, Hoffnung und pures Glück erlebt. Heute bin ich 25, lebe in Bremen und studiere genau das, was sich mein 13-jähriges Ich gewünscht hätte. Und trotzdem überkommen mich auch heute von Zeit zu Zeit noch die immergleichen Zweifel: Habe ich damals einen Fehler gemacht? Habe ich etwas verpasst?

Selten war mir die Antwort so klar wie beim Anblick meines alten Tagebuchs: Nein! Der Weg hierher war sicher nicht eben, nicht einfach und alles andere als kurz, aber es ist mein Weg. Ich gehe ihn nach wie vor und ich weiß, dass mein altes Ich zufrieden mit mir wäre. Denn zwischen all den Zeilen Unsinn, Gejammer und Teenie-Sorgen steht ein einzelner wichtiger Satz. Strahlend, auf den Punkt und nicht zu übersehen: „Ich hoffe, ich werde glücklich.

Gastgedanken von Jan.
Photo und Bearbeitung von Imina.

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