Sara ist sechzehn, liebt es zu singen, zu tanzen, zu schreiben, zu lesen, zu lachen und zu lieben. Sie bezeichnet sich als Quasselstrippe und Besserwisserin, ist kreativer Kopf, Sensibelchen und Musikliebhaberin. In diesem berührenden Text erzählt sie von ihrem Kampf mit der Essstörung.
Achtung: Dieser Text könnte auf Betroffene triggernd wirken.
DER GESCHMACK VON FREIHEIT
Vogelgezwitscher. Ein lichtdurchflutetes Zimmer. Guten Morgen liebe Sorgen! Ich öffne die Augen. Langsam taste ich meinen Körper ab, bis ich zu meinem Bauch gelange. Ich giere danach jeden Knochen möglichst gut zu spüren, jede Rippe mehr und mehr zu sehen. Alles was ich Tag für Tag mehr spüre, macht mich glücklich. Langsam stehe ich auf, gehe ins Badezimmer und stelle mich auf die Waage. Es ist mehr als gestern. Aber ich habe doch gestern kaum etwas gegessen. Ich schlucke schwer. Tränen steigen in meine Augen. Ich versage. Tag für Tag.
Seit fast 2 Jahren bin ich nun essgestört. Alles fing mit einem „kleinen“ Vorsatz für das Jahr 2016 und einer großen Portion Unzufriedenheit an: Ich wollte gesünder essen, mehr Sport treiben, bessere Noten schreiben – rundum einfach ein „perfekter Mensch“ werden. Denn alle um mich herum schienen das zu sein. Makellos. Jeder hatte ein Talent, eine Leidenschaft, eine Begabung, die sie zu etwas so Besonderem machten. Ich hatte das nicht. Ich war ein Nichts. Und die neue Kontrolle sollte diese Leere in meinem Leben füllen.
Doch ich erlangte nie die Kontrolle – alles lief nur außer Kontrolle. Binnen weniger Monate nahm ich 10 Kilogramm ab. Ich fühlte mich stark, überlegen und mächtig – Ich konnte Hunger aushalten, ich war in etwas besser als andere – und dabei wurde ich immer dünner, schwächer und kränker. Bald wog ich nur noch 38 Kilogramm, hatte meine Periode längst verloren und nahm täglich nur noch zuckerfreien Eistee, etwas Sojajoghurt und einen Apfel zu mir. Natürlich konnte das nicht lange gut gehen. Und schließlich kam es dazu, dass ich in der Schule das Bewusstsein verlor. Ich wurde in ein Krankenhaus verlegt, an Geräte angeschlossen und musste meiner größten Angst ins Gesicht sehen – Wieder essen. Bald wurde ich in eine Psychatrie eingewiesen, schloss einen Gewichtsvertrag ab, in welchem ich versprach 10 Kilogramm zuzunehmen und an jeglichen Formen der Therapie teilzunehmen.
Genau 12 Wochen später hatte ich dieses Ziel erreicht und durfte wieder nach Hause. Dort verlief das nächste halbe Jahr wie eine Achterbahnfahrt – es gab viel Auf und Ab, insgesamt konnte ich mein Gewicht halten – doch die Essstörung war immer noch so laut und die Angst vor Essen riesig groß. Bis ich ihr nachgab. Und nicht mehr aufhören konnte. Binnen weniger Wochen hatte ich fast täglich riesige Fressanfälle in welchen ich Kekse, Butterbrote, Eis und Müsli in mich hineinstopfte. Mir ging es schlecht. Ständiges Sodbrennen, Gewissensbisse und Gefühle von absoluter Selbstverachtung plagten mich. Ich nahm über 10 Kilogramm zu. Und irgendwann wollte ich nicht mehr, ich hatte Angst. Angst davor, die komplette Kontrolle zu verlieren und fett zu werden. Und mich deshalb noch minderwertiger zu fühlen. Aus diesem Grund übergab ich mich das erste Mal.
Meine Essstörung, die „Anorexie“ in meinem Kopf, bekam von da an Gesellschaft von einer neuen Mitbewohnerin – Der „Bulimie“. Ich hungerte, fraß, kotze. Hungere, Fresse, Kotze. Immer und immer wieder versage ich. Täglich weinte ich mich in den Schlaf.
Auch ein Klinikaufenthalt in einer Rehaeinrichtung befreite mich nicht von der Zerissenheit, den Selbsthass und den Stimmen in meinem Kopf. Das Einzige, was sich änderte war, dass die Anorexie wieder lauter wurde und ich 5 Kilogramm abnahm.
Aktuell hungere ich die meiste Zeit und trickse meinen Körper mit ekelhaften zuckerfreien Getränken aus, damit mein Magen nicht ständig knurrt. Meine Essanfälle sind weniger geworden, aber erst heute hatte ich einen und spüre wie jedes zu mir genommene Gramm Fett sich an meiner breiten Hüfte anlagert. Ich fühle mich leer und bedeutungslos.
Manchmal frage ich mich, wie die letzten 2 Jahre ohne die Anorexie und ohne die Bulimie verlaufen wären. Wie viel Leid mir erspart geblieben wäre, meinen Eltern, meiner Schwester, meinen Freunden. Und wie viel Zeit ich damit vergeudet habe zu hungern.
Doch wenn ich ehrlich bin, kann und will ich mir ein Leben ohne gar nicht mehr vorstellen. Denn auch wenn mich die Stimmen in meinem Kopf fertig machen, füllen sie die sonst vorliegende Leere in meinem Kopf. Sie haben dazu geführt, dass ich das erste Mal das Gefühl hatte, etwas gut zu machen und haben mich mit Stolz erfüllt. Stolz auf mich selbst. Stolz auf meine Leistung.
Und letztendlich – was wäre ich ohne die Essstörung? Wäre ich wieder ein Nichts?Ist die Essstörung das Einzige was mich ausmacht?
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Nein, ist sie nicht, liebe Sara. Und das sage ich nicht nur ihr, sondern allen, die täglich damit zu kämpfen haben. Die Essstörung mag ein Teil von euch sein, mag euch einnehmen. Aber sie macht euch nicht aus, definiert euch nicht.
Ich habe meine Essstörung – die sich größtenteils in meinem Kopf abgespielt hat – überwunden, und dennoch bin ich nicht vollkommen davon geheilt. Ich habe Jahre später noch damit zu kämpfen, ob ich denn auch meine Figur so halte, wie sie jetzt ist. Dünner werden will ich gar nicht unbedingt. So bleiben. Und an manchen Stellen gar etwas mehr Fleisch haben. Damals hat es mich auch mit Stolz erfüllt, einen Tag lang nur Kiwis zu essen und 48kg auf der Waage zu sehen. Aber ich habe mir Projekte gesucht, Bücher, Menschen, andere Dinge an mir … für die ich mehr brenne, als die Kalorienverbrennung. Du sagst da ist Leere in deinem Kopf? Fülle sie. Mit etwas, das sie füllt, das dich vergessen lässt, das dich heilt. Das ist nicht einfach. Es ist ein täglicher Kampf. Aber die Gesundheit ist das wichtigste, was wir haben und wir vergessen das viel zu oft. Dein Körper trägt dich. Er liebt dich. Es ist deiner. Er würde alles für dich tun. Liebe ihn zurück.
Und wenn du das nicht alleine schaffst, dann gibt es Hilfe für dich. Und man will dir helfen. Du musst es nur zulassen.https://www.bzga-essstoerungen.de/
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Bild von Martin Wunderwald.