Seit Wochen sehe ich diesen Tag in meinem Kalender: 1. Oktober. Ein rotes Kreuz habe ich gemalt mit einem dicken Filzstift, den, den ich schon seit der Grundschule besitze, der, der eigentlich nicht mehr richtig schreibt, den ich trotzdem nie weggeschmissen habe. Vielleicht ist jetzt der richtige Zeitpunkt, denke ich, jetzt, wo ich ausziehe, wo ich alles hinter mir lassen kann. Raus aus der Kleinstadt, rein ins – ja – wohin eigentlich.
Ich ziehe um, zum Studieren. Eigentlich nicht so furchtbar weit weg, rede ich mir ein, in den Momenten, wo mir alles zu viel wird. Ich weiß ja, dass das jedes Jahr tausende von jungen Menschen machen, doch dieses Datum, das mir jeden Tag aus dem Kalender über meinem Bett entgegen springt, ist irgendwie angsteinflößend.
Die größte Angst macht mir bei der ganzen Sache ja gar nicht das Studieren, nicht mal die Wohnungssuche, obwohl ich immer noch keine WG im Wirr-war des völlig überlasteten Wohnungsmarktes zu Semesterbeginn gefunden habe. Was mir die größten Sorgen bereitet, ist, ob ich Freunde finden werde. So richtige, echte Freunde, nicht nur so welche, die man in der Vorlesung sieht und dann fragt, ob sie den Text schon gelesen haben, zu denen man dann noch sagt, dass man jetzt ja mal sowas von null Bock hat, eine Stunde lang dem Professor mit der monotonen Stimme zuzuhören und dann weiß man nicht mehr weiter und schweigt sich peinlich an und wenn der Professor kommt ist man irgendwie froh, jetzt nur noch zuzuhören und kein Gespräch mehr erzwingen zu müssen. Ich möchte, nein, ich brauche richtige, echte Freunde. Solche eben wie die, die ich hier habe in der Kleinstadt, in der ich wohne, seit ich denken kann. Hier, wo ich alles kenne, wo ich mich sicher fühle. Ich weiß, dass es feige ist, aber manchmal denke ich: Was wäre, wenn ich einfach das Studium abblase und hier bleibe in meiner kleinen bekannten Welt?
Vor dem ersten Treffen mit meinen neuen Kommiliton*innen bin ich sowas von aufgeregt, „musst du nicht sein“, sagt mir Lily, bei der ich die ersten Tage auf dem Sofa schlafen kann. Aber Lily hat leicht reden. Sie ist cool, hat schon viel erlebt und kann gut davon erzählen, so, dass man nicht will, dass sie jemals damit aufhört. Außerdem hat Lily dieses Lachen. Spätestens wenn sie einmal gelacht hat, möchte jeder mit ihr befreundet sein. Sie lacht laut und aus dem Bauch heraus dabei wirft sie ihren Lockenkopf nach hinten und während sie mit diesem donnernden Lachen den ganzen Raum erfüllt, wird einem ganz warm ums Herz. So eine ist Lily, aber so bin ich nicht. Ich bin eher langweilig, schon ganz nett, aber wenn ich lache dann eher leiser und zurückhaltender. Trotzdem brauche ich Freunde.
Zwei Dinge habe ich mir aber vorgenommen: 1. Ich möchte mutiger sein als sonst und auch mal selber Leute ansprechen und 2. Ich möchte so echt wie möglich sein. Wenn man Leute kennen lernen will, die zu einem passen, dann muss man von Anfang an so sein wie man eben ist. Das ist mein Plan, nicht sehr beeindruckend, aber das muss reichen. Bevor ich in die Straße zum „Kennenlern-Grillen“ abbiege, bleibe ich noch einmal kurz stehen und atme tief durch bevor ich mich dem ganzen Neuen stelle, auf dass ich all die Wochen irgendwie ängstlich, irgendwie neugierig gewartet habe. Doch als ich ankomme, sehe ich so viele Gesichter und merke schnell, dass sich alle irgendwie fühlen wie ich. Ich stelle mich einfach zu dem Mädchen, dass mir im ersten Moment aufgefallen ist.
Nach nur einer Woche habe ich schon Menschen gefunden, bei denen ich wirklich sicher bin, dass daraus noch echte, tolle Freundschaften werden. Da sind einmal Mona und Kira: Nur drei Tage nachdem wir uns unsicher einander vorgestellt haben, sitzen wir abends zusammen und vertrauen uns Dinge an, von denen bisher eigentlich nur meine allerbeste Freundin wusste, weil ich eigentlich nicht so offen darüber reden kann und will. Mona holt ihr dickes Fotoalbum und zeigt uns ihre Familienfotos, von Zeiten, als noch alles irgendwie heil war, ich schiebe mein T-Shirt hoch und zeige den anderen das Tattoo, dass ich mir betrunken von meiner noch betrunkeneren Freundin habe stechen lassen, das nun mehr aussieht wie bunte, schwulstige Narben, die etwas ziellos über meinen Rippen verlaufen und Kira zeigt uns verschämt ihre Playlist aus trashigem Pop, obwohl sie doch am Anfang noch meinte, sie höre nur kleine, unbekannte Indiebands. Wir halten einander die Haare hoch beim Kotzen nach den Ersti-Parties, ich bringe Kira nach Hause, als ihr die Kontaktlinse herausfällt und sie halb blind über den Campus stolpert, wir kochen uns um 4 Uhr morgens Spaghetti Carbonara und während wir zusammen auf dem Boden sitzen und hungrig die fettigen Spaghetti ins uns reinstopfen wird mir klar, wie sehr ich nun doch angekommen bin in dieser Stadt, die mir monatelang irgendwie Angst gemacht hat.
Ich muss leise lachen, über all die Sorgen, die ich mir gemacht habe. Ich weiß zwar nicht wie, aber irgendwie habe ich den Weg zu diesen tollen Menschen gefunden und als ich drei Wochen später, am Wochenende, zurück in meine kleine Kleinstadt fahre, ist es zwar schön, aber irgendwie vermisse ich die anderen. Mit dem Stift, der jetzt erst recht nicht mehr wirklich schreibt, male ich einen lächelnden Smiley auf den Montag, an dem ich zurück fahre und die anderen wieder sehe. Dann atme ich einmal tief durch und schmeiße den Stift endlich in den Müll.
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Lisa ist fast 20 Jahre alt und gerade aus ihrer Kleinstadt weggezogen, um zu studieren. Obwohl sie sich in der neuen Stadt noch ziemlich oft verläuft, ist sie doch irgendwie angekommen. Wer sie wirklich ist, dass weiß sie manchmal nicht so ganz. Umweltschutz ist ihr wichtig und deswegen versucht Lisa, möglichst klimafreundlich zu leben. Außerdem hat sie sich vorgenommen, so viel wie möglich zu erleben und sagt deswegen möglichst selten nein, außer zu Marzipan, weil davon wird ihr schlecht. Sie mag Kaffee mit Milchschaum, Zeitung lesen und Kunst, die so schön ist, dass man davon Gänsehaut bekommt. Bisher hat sie vor Allem in ihr Tagebuch und Postkarten an ihre Freunde geschrieben.
Mit Fotos von Imina.
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